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Maria – Sinnbild des Gottvertrauens. Die Mutter Jesu in anderen Glaubenstraditionen

Am Sonntagmorgen, 18.12.2022

Corinna Mühlstedt, Freising

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Die Mutter Gottes, ein Zeichen für Allahs Barmherzigkeit oder eine Ehebrecherin? Die Bilder von Maria unterscheiden sich sehr in den monotheistischen Weltreligionen. Es gibt aber auch Gemeinsamkeiten, durch die Maria zu einer Brücke werden kann.


© Marien-Denkmal in Ephesus / Marion Sendker

In Marokko, im Hohen Atlas Gebirge, liegt zwischen Palmen und Felsen das Kloster „Notre Dame de l´Atlas“. Eine Handvoll Trappisten lebt hier im Austausch mit dem überwiegend muslimischen Umfeld. Ihr Wunsch sei, Jesus nach dem Vorbild Marias unter die Menschen zu bringen, erklärt Prior Jean-Pierre Flasheur.

„Unser Leben hier folgt in vieler Hinsicht dem Beispiel des Besuchs Marias bei ihrer Cousine Elisabeth, von dem das Lukas-Evangelium berichtet: Maria trägt zu dieser Zeit bereits Jesus in sich. Und Jesus lässt Marias Gegenüber mit Hilfe des Heiligen Geistes die Wahrheit erkennen. So sehen auch wir Mönche unseren Auftrag: Wir sind Christen, wir tragen Jesus geistig in uns und bringen ihn zu den Menschen in diesem Land. Alles Weitere können wir nur ihm überlassen.“

In diesem Sinn sei Maria eine Schlüsselfigur des interreligiösen Dialogs, meint der französische Trappist. Ist sie doch eine Frauengestalt, deren mystische Kraft von jeher auch viele Juden und Muslime inspiriert.

Im Islam hat sie sogar eine herausragende Stellung: Der Koran nennt sie als einzige Frau beim Namen – und zwar mehrfach.

Maria als „Maryam“ im Koran

Sie gilt dort als Mensch, der zeitlebens rein, sündlos und gottergeben blieb. Ihr ist die Sure 19 gewidmet: „Maryam“. Der Text betont, dass Maria allein durch Gottes Geist ihren Sohn Jesus empfangen hat.

Der Religionswissenschaftler Karl-Josef Kuschel hat die Verkündigungs-Erzählungen im Koran und im Lukasevangelium verglichen und kommt zu dem Schluss:

„Übereinstimmungen sind mit Händen zu greifen. Schon Lukas kennt ja eine Gottesbotschaft an Maria durch den Engel Gabriel. In Sure 19 erfolgt sie durch Gottes Geist in der Gestalt eines ‚stattlichen Menschen‘.“

Schon Lukas berichtet von Zweifeln seitens der jungen Frau:

„Wie kann das geschehen? Ich bin mit keinem Mann zusammen gewesen.“

Entsprechend heißt es in Sure 19:

„Wie soll ich einen Jungen bekommen, wo mich kein Mann berührt hat und ich keine Hure bin?“

In beiden Texten wird Marias Einwand durch den Hinweis auf Gottes Allmacht entkräftet. Lukas schreibt, man werde das Kind „Gottes Sohn“ nennen. Der Koran wiederum nennt Jesus und Maria „Zeichen“, die den Menschen Allahs Barmherzigkeit beweisen.

Die Mutter Jesu, aber nicht Gottes
In den unterschiedlichen Formulierungen klingt aber auch ein wichtiger Akzent an, den der Verfasser des Korans setzt: Er bezeichnet Jesus nicht als „Gottes Sohn“ und vermeidet dadurch Missverständnisse im Blick auf die Rolle Marias. – Karl Josef Kuschel:

„Dass Christen von ihr seit dem Konzil von Ephesus 425 als ‚Gottesmutter‘ sprechen und sich betend an sie wenden, stößt bei Muslimen und Juden bis heute auf Unverständnis. Das koranische Bild Marias, das Anfang des 7. Jahrhunderts auftaucht, ist also auch als Korrektur christlicher Mariologie und Volksfrömmigkeit zu lesen. Im Dialog ist das heute eine Chance, sich über die Grundlagen des Glaubens auszutauschen.“

Der Koran sieht Maria vielmehr aus der Perspektive der Mystik: Die Geburt Jesu erfolgt an einem einsamen, wüstenähnlichen Ort im Schutz einer Dattelpalme. Es ist ein Moment, in dem Maria bereit ist zu sterben, und ihr Leben ganz in Gottes Hand gibt.

Nach der Geburt Jesu tritt Maria – in der Bibel wie im Koran – zunehmend in den Hintergrund. Besonders rar sind Zeugnisse über ihre letzten Lebensjahre und ihren Tod.

Türkei oder Israel: Wo starb Maria?

Doch in Jerusalem, einer Stadt, die Juden, Christen und Muslimen heilig ist, steht auf dem Zions-Berg am Rand der Altstadt die Abtei „Dormitio“: zur „Entschlafung Mariens“ bzw. zum „Heimgang Mariens“.

Die deutschen Benediktiner, die hier leben, verstehen sich als Brücke zwischen den Religionen und fördern zahlreiche Friedensinitiativen, erklärt Pater Benedikt Lindemann. Er hat die Klostergemeinschaft viele Jahre als Abt geleitet und ist überzeugt:

„Hier war der Ort, wo das letzte Abendmahl stattgefunden hat, hier – sagt die Tradition – war der Ort, wo das Pfingstereignis geschehen ist. Hier ist der Ort gewesen, wo die Mutter Gottes, Maria, nach dem Tod und der Auferstehung Jesu gelebt haben soll und gestorben sein soll.“

Historiker haben die Frage, ob Maria ihre letzten Jahre in Jerusalem oder womöglich in Ephesos verbrachte, nicht abschließend geklärt. Doch spricht für die Jerusalemer Tradition, dass unweit der Dormitio im Kidrontal ein Felsengrab liegt, das als Grab Mariens verehrt wird.

Die Hamburger Exegetin Silke Petersen schreibt dazu:

„Weder über die Geburt Mariens noch über ihren Tod erfahren wir irgendetwas aus den Schriften des Neuen Testaments. Während die außerbiblische Überlieferung zu Marias Geburt dann schon relativ bald im 2. Jahrhundert einsetzt, dauert es wesentlich länger bis zu ersten Nachrichten über ihren Tod.“

Detaillierte Berichte über Marias Lebensende sind erst aus dem 5. Jahrhundert belegt, in dem ökumenische Konzilien der Mutter Jesu dogmatisch einen festen Ort geben: als „Gottesmutter“ – auf Griechisch „Theotokos“.

Maria im Talmud: eine Ehebrecherin

Diese Erweiterung der Marienfrömmigkeit, so Petersen, fand nicht nur Zustimmung. Sie führte auch zu Irritationen und zu Widerspruch – so etwa in bedeutenden Schriften des Judentums wie dem Talmud. Der französisch-israelische Religionshistoriker Dan Jaffé berichtet:

„Im Talmud finden sich nur kurze Passagen über die Mutter Jesu aus dem 5. oder 6. Jahrhundert. Eine dieser Passagen schildert Maria als Frau adliger Abstammung, die einen Zimmermann geheiratet hat und anschließend Ehebruch beging. Ursprung dieser Schriftstelle ist die ältere These, Jesus sei ein uneheliches Kind Marias und eines römischen Soldaten. …“

Natürlich sind diese Legendensammlungen polemisch gemeint und weit entfernt von einer historischen Wahrheit. Aber sie haben eine folgenschwere Wirkungsgeschichte gezeigt, wo sie durch Christen wieder gegen Juden gerichtet wurden.

Jahrhunderte lang prägten Missverständnisse, Hass und Gewalt das Verhältnis zwischen den Religionen. Erst in jüngster Zeit versucht man jenseits der alten Polemik, den biblischen Gestalten gerecht zu werden. Eine der stärksten Gesten kam in den 1990er-Jahren von der populären israelischen Sängerin Noa.

Sie schrieb den Text für ein modernes Ave Maria und begeisterte nicht nur Jugendliche in aller Welt. 1994 lud Papst Johannes Paul II. die Künstlerin ein, ihr Lied anlässlich eines internationalen Familientreffens auf dem Petersplatz in Rom vorzutragen:

„Ave Maria – Wo hast du dich verborgen?
Weißt du nicht, wie sehr wir dich brauchen?
Die Dinge sind hier unten ziemlich schlecht bestellt!
Doch ich weiß, es gibt Schönheit, Freundlichkeit und Lachen,
all dies sind Werte, für die du immer standest –
hilf uns, sie wieder zu finden!“

Eine „ganz normale“ Jüdin?

Die Römerin Franca Coen hat 2014 mit ihrem Mann in Rom die progressive jüdische Gemeinde Beit Hilel gegründet. Sie ist im interreligiösen Dialog aktiv und bemüht, die historische Gestalt Marias aus jüdischer Sicht ins rechte Licht zu rücken:

„Maria benahm sich – soweit wir wissen – wie eine typisch jüdische Frau: Sie ließ ihren Sohn von Rabbinern traditionell beschneiden, segnen und in den Bund mit Gott aufnehmen.“

Darüber hinaus steht Maria in der Tradition herausragender jüdischer Frauengestalten wie Hanna, Sarah oder Myriam, meint Coen: Sie alle hätten es verstanden, für sich und andere Freiräume zu erobern und dabei durch ihr Gottvertrauen überzeugt.

„Es muss von Maria enorm viel Mut gefordert haben, ihre Schwangerschaft zu akzeptieren. Sie wandte damals ein: ‚Ich habe keinen Mann‘. – Aber genau in diesem Moment entstand ihr Glaube. Darum ist Maria für mich wichtig. Denn sie sagte: ‚Gut, das ist geschehen, ich nehme das an. Mehr noch: Ich verteidige das und akzeptiere alles, was mir widerfahren mag.‘“

In diesem Sinne könne sie Maria durchaus als Schwester betrachten, überlegt Franca Coen, fügt jedoch hinzu:

„Ich kenne sogar einen orthodoxen Rabbiner, der sagt: Maria hatte solide jüdische Wurzeln. Aber der Punkt, den wir Juden nicht akzeptieren können, ist die Art, wie man mit der historischen Maria nachträglich umgegangen ist: Maria wurde in der Kirche zu einem übermenschlichen Wesen. Und das ist gefährlich. Wenn ein Mensch zu mehr gemacht wird als zu einem Menschen, läuft man Gefahr, damit gegen das erste Gebot zu verstoßen, das nur einen Gott kennt. So etwas ist nicht jüdisch.“

Aber könnte es nicht gelingen, Maria unabhängig von dogmatischen Diskussionen, neu als Ideal zu entdecken, das die Religionen verbindet? Die Sängerin Noa bemüht sich darum:

„He Maria, heilige Maria, …
Es ist eine Schande, dass wir nicht in Harmonie leben!
Sieh‘ die Lichter, die wir anzünden,
in unserer Sehnsucht nach Frieden und Freiheit!
Hilf uns zu erkennen!“

Die theologische Überhöhung der Mutter Jesu, mit der viele Juden und Muslime von jeher Schwierigkeiten hatten, wurde im 16. Jahrhundert auch von Protestanten kritisiert. Die Marienfrömmigkeit, so der Vorwurf, behindere den Blick auf Jesus.

Marienverehrung im Sinne Martin Luthers

In der Folgezeit wurde Maria oft ein Opfer des Streits zwischen den Konfessionen. Manche Protestanten zerstörten sogar Marienbildnisse, andere vergaßen die Mutter Jesu einfach.

Gleichzeitig verhalf die Gegenreformation der Marienverehrung im katholischen Bereich zu neuer Blüte. Der Religionspädagoge und einstige Lehrer von Josef Ratzinger, Alfred Läpple, kommt zu dem Schluss:

„Es mag Zeiten, Bewegungen oder Einzelchristen gegeben haben, die Maria so ausschließlich in das Zentrum das Glaubens stellten, dass der Blick auf Christus verdeckt oder erschwert wurde. Dies aber war wahrhaft keine katholische Marienfrömmigkeit! … Die Kirchenkonstitution des 2. Vatikanischen Konzils öffnete (in den 1960er Jahren) den Blick auf die Stellung und Aufgabe Marias (neu): … Durch Maria (und die Kirche) zu Jesus!“

Dieser Satz trifft nicht zuletzt die Anliegen der Reformatoren des 16. Jahrhunderts, von denen einige Maria sehr positiv sahen. Das gilt für Huldrych Zwingli ebenso wie für Philipp Melanchthon oder Martin Luther. Von Letzterem wird überliefert, dass er ein Marienbild in seinem Arbeitszimmer sehr schätzte und anmerkte:

„Maria will nicht, dass du zu ihr kommst,
sondern dass du durch sie zu Gott kommst.“

Auf dieser Basis findet Luther bei der Auslegung des Magnifikats, jenes Gebets, das Maria im Lukasevangelium in den Mund gelegt wird, überaus anerkennende Worte:

„Das Herz Mariens stehet fest und lässt Gott in sich wirken nach seinem Willen. … Also sollten auch wir tun.“

Urbild der Mystik

Aus der Sicht des Wittenberger Reformators lebte Maria ganz aus der Gnade und gab Gottes Liebe uneingeschränkt in sich Raum. Das zeige, wie stark Luther von der mittelalterlichen Mystik geprägt war, meint der Tübinger Kirchenhistoriker Volker Leppin:

„Maria ist das Urbild mystischer Gelassenheit, die nichts auf Erden hat und nichts auf Erden will und genau darum alles empfängt: nämlich Gott. So geschah es Maria.… Sie verdient nach Luther Wertschätzung nicht wegen ihres Handelns, sondern weil sie Gott an sich handeln lässt. Genau das war in der mittelalterlichen Mystik angelegt. Dort ist eine solche Gelassenheit eine Voraussetzung für die ‚Geburt Gottes‘ in der menschlichen Seele.“

1520 griff Martin Luther das Thema in einer Weihnachtspredigt auf und riet mit Blick auf Maria und die Geburt Jesu dem Gläubigen:

„Sieh zu, dass du dir seine Geburt zu eigen machst. Denn dieses Kind will einer leeren und gelassenen Seele das geben, dessen sie entbehrt. Es will, dass wir es in uns tragen.“

Maria als Brücke für die Religionen

Das Ave-Maria, in dem Elemente des evangelischen Komponisten Johann Sebastian Bach und seines katholischen Kollegen Charles Gounod ineinanderfließen, ist weltberühmt. Es verbindet die Konfessionen musikalisch.

Durch ihre vollkommene Hingabe an Gott im Glauben bilde Maria letztlich eine Brücke zwischen den mystischen Strömungen aller Religionen, meint Adnane Mokrani. Er ist Sufi und lehrt an Päpstlichen Universitäten in Rom muslimische Spiritualität:

„Das Motiv der Geburt Jesu durch Maria steht in der Mystik des Islams symbolisch für eine geistige Neu-Geburt des Menschen. Indem Maria sich ganz Gott anvertraut, seinen Geist in sich aufnimmt und Jesus zur Welt bringt, wird sie zu einem mystischen Vorbild für alle. Jeder von uns trägt diese tiefe Beziehung zu Gott in sich. Er muss sie nur lebendig werden lassen. Die Geschichte von Maria bleibt daher aktuell, denn die Geburt Jesu in uns ist das Ziel jedes ernsthaften spirituellen Wegs.“

Der Dominikaner und berühmte mittelalterliche Mystiker Meister Eckhard hat es zum Weihnachtsfest so ausgedrückt:

„Wenn diese Geburt nicht in mir geschieht
– was hilft es mir dann?
Denn dass sie in mir geschehe, daran liegt alles.“


Die redaktionelle Verantwortung für die Sendung hat Martin Korden.

Musik:

  1. Capella Antiqua München – Antiphon: Ave Maria Caelorum
  2. Noa (Achinoam Nini) – Ave Maria
  3. Noa (Achinoam Nini) – Ave Maria
  4. Jose Carreras – Ave Maria (Bach/Gounod)
  5. Jose Carreras – Ave Maria (Bach/Gounod

Über die Autorin Corinna Mühlstedt

Dr. Corinna Mühlstedt ist Theologin, Autorin und ARD-Korrespondentin. Corinna Mühlstedt lebt in Freising und in Rom.