Das ist schlimm, wenn man lügen muss. Wenn man das, was wirklich im Leben passiert ist, nicht ehrlich sagen darf, weil man sonst keine Chance für die Zukunft hat.
Nadine hat das so erlebt. Sie war zwölf Jahre lang Prostituierte. Mit 18 hat sie den falschen Mann kennengelernt. Der hat sie psychisch so weit manipuliert, bis sie jede Nacht ins Bordell gegangen ist, um Geld für ihn zu verdienen.
Irgendwann sitzt Nadine in einer Beratungsstelle für Frauen, die aus dem Rotlichtmilieu aussteigen wollen. Es ist eine Anlaufstelle des Vereins Solwodi, den die Ordensschwester Lea Ackermann vor 35 Jahren in Deutschland gegründet hat.
Die Beraterin fragt Nadine, ob sie es wirklich schaffen will. Sie will - aber dennoch ist ihr Ausstieg aus dem Rotlichtmilieu ein unglaublich harter Weg. Und den kann sie nur mit Lügen bewältigen. Die Beraterin sagt zu Nadine: „Schreiben Sie in Ihrer Bewerbung auf keinen Fall, was sie gearbeitet haben. Für die zwölf Jahre Lücke im Lebenslauf müssen Sie etwas anderes erfinden.“
Nadine schreibt über 80 Bewerbungen, und irgendwann schafft sie es. Sie bekommt einen Ausbildungsplatz als Einzelhandelsverkäuferin und zieht ihre Ausbildung durch. Das schafft sie nur, weil sie einen liebevollen Partner hat und eine Psychologin, die sie professionell begleitet. Denn Nadine ist von ihrer Zeit im Bordell schwer traumatisiert.
Ich bewundere Nadine und ich habe große Achtung vor allen Mitarbeiterinnen, die sich bei Solwodi oder anderen Vereinen engagieren. Gleichzeitig verurteile ich unsere Gesellschaft. Einerseits heißt es in Deutschland ganz offiziell: Prostitution ist ein legaler Beruf wie jeder andere. Es ist also in Ordnung, wenn Männer ins Bordell gehen.
Andererseits musste Nadine für ihren Ausstieg verheimlichen, was sie gemacht hat.
Das ist verlogen.
Ich wünsche mir eine ehrlichere Gesellschaft. Eine, die den Kampf aufnimmt, gegen Prostitution. Einen Hoffnungsschimmer habe ich. Denn es gibt in unserem Land entschiedene Männer und Frauen, die sehen, wie menschenverachtend legale Prostitution ist. Ein Verein beeindruckt mich besonders. Es ist ein Verein von Männern. Er heißt „zeromacho“, also null Komma null Macho. Es sind ausschließlich Männer, die sich da zusammengefunden haben, sie wollen ganz entschieden keine Machos sein. Sie wehren sich gegen das bekannte Argument, dass Männer Prostituierte bräuchten, damit sie „Dampf ablassen“ können, wenn ihnen danach ist. Die Zeromachos wollen daran mitarbeiten, dass in unserer Gesellschaft ein Gesinnungswandel möglich ist. Sie sagen: Welcher Mann möchte über sich sagen lassen, dass er seine Sexualität in gekauften Beziehungen auslebt? Dass er Sexualität dazu benützt, andere zu dominieren und sie zu entwürdigen.
Die Zeromachos haben erkannt, was auch Nadine mit ihrer Geschichte bestätigt. Die meisten Frauen in der Prostitution entscheiden sich nicht freiwillig dafür, sie sind in Not und müssen teilweise acht, zehn oder sogar zwanzig Männer pro Tag „bedienen“. Das macht niemand freiwillig.
Nadine muss das Gott sei Dank nun nicht mehr tun. Sie kann endlich selbstbestimmt leben. Sie muss ihren Körper nicht mehr von der Seele abspalten, wenn sie „bei der Arbeit“ ist und das hat viel mit Würde zu tun. Denn wir Menschen brauchen das, dass wir uns körperlich und seelisch frei entfalten können. Weder Seele noch Körper dürfen von irgendjemandem legal missbraucht werden.
Die Zeromachos arbeiten daran, dass Prostitution für ganz viele Frauen endlich Geschichte wird. Als Frau kann ich ihrem Verein nicht beitreten, aber ich schließe mich der Botschaft an und sage:
Ich möchte irgendwann in einem Land leben, das Prostitution endlich verbietet, Freier bestraft und Frauen wie Nadine schützt.