Jedes Jahr wird der „Tag der Deutschen Einheit“ in einem anderen Bundesland gefeiert. In diesem Jahr war Erfurt der Ort der Feier. Am Morgen des 3. Oktober gab es einen Gottesdienst im Erfurter Mariendom, den ich am Bildschirm mitverfolgt habe. Eine Szene hat mich besonders beeindruckt und ist bei mir hängen geblieben. Ein blinder Mann trug einen Text aus der Bibel vor.
Die Kameraeinstellung zeigt immer wieder im Detail, wie er mit seinen Fingern über die erhabenen Punkt der Blindenschrift entlanggleitet und relativ flüssig den Evangelientext vorträgt.
Es ist erstaunlich, denke ich, welche Sensibilität sehbehinderte Menschen für ihre Umgebung entwickeln können. Noch erstaunlicher ist, wie der menschliche Tastsinn es vermag die fehlende Sehkraft auszugleichen.
Ich schaue auf die Finger des sehbehinderten Menschen, die flüssig über die vielen kleinen erhabenen Pünktchen gleiten. Dabei kommt mir das Motto der Erstkommunionvorbereitung dieses Jahres in den Sinn:
„Offene Augen – weites Herz.“
Unter diesem Leitwort bereiten sich derzeit rund 150.000 Kinder in den katholischen Gemeinden unseres Landes auf den Empfang der Heiligen Kommunion vor. Offene Augen – weites Herz.
Dieses Wort spielt auf die Begegnung des blindes Bettlers Bartimäus mit Jesus an, von der im Markusevangelium erzählt wird. Bartimäus sitzt am Stadttor von Jericho und bettelt. Etwas anderes blieb ihm nicht übrig. Arbeit gibt es damals für ihn nicht.
Zudem ist er sozial geächtet, weil die gläubigen Juden dieser Zeit seine Erblindung, die er von Geburt an hatte, als Strafe Gottes interpretieren, als Ausweis seiner Sünden. In dem Moment, als Jesus mit seinen Jüngern durch das Stadttor geht, sagt Bartimäus laut:
„Jesus, hab Erbarmen mit mir.“
Die Menschen wollen ihn zum Schweigen bringen. Aber er ruft immer lauter:
„Jesus, hab Erbarmen mit mir.“
Zum Erstaunen aller geht Jesus auf ihn zu.
„Was möchtest du von mir?“
fragt er den Blinden.
„Ich möchte wieder sehen können“
sagt der Bettler zu ihm. Und das Wunder geschieht. Jesus öffnet ihm die Augen.
Menschen ohne Handicap nehmen vieles, was eigentlich fast wie ein Wunder ist, für selbstverständlich. Dass man die Welt mit allen ihren Farben und all ihrer Schönheit sehen kann, gleicht eigentlich einem großen Geschenk. Aber sehen können schützt nicht vor der Gefahr, vieles zu übersehen.
Bartimäus ist blind. Er lebt sozusagen im Dunkeln. Doch er hat ein großes Gespür für das, was um ihn herum geschieht. Was er über Jesus gehört hatte, berührte ihn. Es hat ihm das Herz weit gemacht. Wenn wir mit unseren Erstkommunionkindern über diese Bibelstelle sprechen, begreifen sie sehr schnell, worum es geht. Offene Augen – weites Herz.
Es braucht auch heute Menschen wie Bartimäus. Menschen mit offenen Augen und einem weiten Herzen. Gott sei Dank gibt es sie. Da ist die Erzieherin, die mitten im Trubel ihrer Kindergartenkinder immer ein gutes Wort hat.
Da ist die Krankenschwester, die im Stress der Notaufnahme die Ruhe bewahrt. Das sind die Helfer in den Tafeln, die weitermachen, auch wenn sie überrannt werden. Sie sind es, die mit einem wachen Herzen und einem offenen Blick unsere Gesellschaft zusammenhalten.
Sie sind für die da, die heute wie blind und ohne Perspektive vor unseren Stadttoren sitzen, wie einst Bartimäus in Jericho. Es sind Menschen mit einem Gespür für das Wesentliche, wie der Lektor am Tag der deutschen Einheit im Erfurter Dom.
Menschen, die ein Fingerspitzengefühl entwickelt haben für das, worauf es ankommt, für das, was uns zusammenbringt.