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Optimistisches Liedchen

Wort zum Tage, 16.01.2023

Pfarrer Detlef Ziegler, Münster

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Früher war vieles anders, aber nicht unbedingt besser. Der verklärte Blick zurück reibt sich an der rauen Wirklichkeit der Gegenwart. Und wenn wir jetzt, alle Jahre wieder, am Beginn eines neuen Jahres stehen, wie schauen wir da in die Zukunft? Pessimistisch? Mit einem Schulterzucken? Oder doch auch mit Zuversicht?

Schwarzseher gibt es zuhauf. Viele haben recht mit ihrer dringenden Mahnung: So darf es nicht weitergehen! Manche Mahnungen klingen geradezu apokalyptisch, befeuert von einer Endzeitstimmung. Junge Menschen, die sich querlegen und festkleben, nennen sich die letzte Generation. Ihre Methoden, um Aufmerksamkeit zu erzeugen, finde ich nicht immer angemessen. Und irgendwie riecht es nach Weltuntergang.

Keine Frage: Die Probleme sind groß. Und bei so manchen Zukunftsfragen gilt es wirklich, keine Zeit mehr zu verlieren. Und dass junge Menschen besorgt, ja mit Angst in die Zukunft schauen, verstehe ich nur zu gut. Ja, die Zeit drängt.

Kommt jetzt das große Aber? Allerdings! Denn ich sage mir auch: Wenn ich nur schwarzsehe, wird mich das auf Dauer lähmen. Der Dichter Hans Magnus Enzensberger, gerade erst verstorben, ein kritischer Zeitgeist und zeitlebens um Veränderung bemüht, weiß dennoch um den Wunsch nach Normalität und Zuversicht im Alltäglichen. Und so stimmt er ein Gedicht an, das er „Optimistisches Liedchen“ genannt hat:

„Hie und da kommt es vor,
daß einer um Hilfe schreit.
Schon springt ein andrer ins Wasser,
vollkommen kostenlos.

Mitten im dicksten Kapitalismus
kommt die schimmernde Feuerwehr
um die Ecke und löscht, oder im Hut
des Bettlers silbert es plötzlich.

Vormittags wimmelt es auf den Straßen
von Personen, die ohne gezücktes Messer
hin- und herlaufen, seelenruhig,
auf der Suche nach Milch und Radieschen.

Wie im tiefsten Frieden.
Ein herrlicher Anblick.“

Man merkt: Auch für Enzensberger ist der Alltag eine gebrochene und nicht nur eine heile Welt. Die Anspielungen auf den dicksten Kapitalismus und die gezückten Messer spiegeln die permanente Bedrohung der Normalität. Es ist auch nicht tiefster Friede, sondern nur wie im tiefsten Frieden; da fehlt noch viel.

Und doch ist es ein herrlicher Anblick. Herrlich ist der Anblick, wie immer wieder Gesten der Solidarität und Nächstenliebe den Alltag aufhellen. Es gibt sie, täglich. Gott sei Dank! Und ich wünsche uns allen mehr davon, damit wir die Köpfe nicht hängen lassen.

Über den Autor Pfarrer Dr. Detlef Ziegler

Pfarrer Dr. Detlef Ziegler, geboren und aufgewachsen im Ruhgebiet, studierte Theologie, Philosophie, klassische Philologie und Pädagogik in Münster und München. 1985 wurde er in Münster zum Priester geweiht. Von 1990 bis 2001 war er Studienrat am Gymnasium Paulinum in Münster und danach in der Aus- und Fortbildung im Bistum Münster tätig. Zudem hatte er Lehraufträge für philosophische und theologische Anthropologie, Neues Testament und Homiletik in Münster und Paderborn.

Kontakt: ziegler@bistum-muenster.de