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Sei ein Mensch! Wie der Advent (noch) besser wird

Am Sonntagmorgen, 01.12.2024

Michael Kinnen, Berlin

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"Und wenn Sie es mir erlauben und wenn Sie mögen – gerade heute aus diesem Anlass und gerade hier in diesem höchsten deutschen Hause –, dann lass ich Ihnen den kleinen und doch so großartigen, wundervollen Satz, den mein Vater, Leon Reif, gesagt hat, dann lass ich Ihnen diesen Satz hier: 'Sej a Mensch!' – 'Sei ein Mensch!"

Es war zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus im Januar. Ich saß auf der Pressetribüne, als der Sportjournalist Marcel Reif im Bundestag eine Ansprache gehalten hat. Mit dem Satz "Sei ein Mensch!" erinnerte er an das Schicksal seines Vaters Leon Reif. Der habe ihm und seiner Familie das mitgegeben als Lebensmaxime: Sei ein Mensch! Menschlich sein. Das ist angesichts dessen, was Leon Reif und die vielen Millionen Opfer des systematischen und unvergleichlichen Naziterrors erlebt haben, umso ergreifender. Wie Marcel Reif es zusammenfasst, ist es ein kleiner, und doch so großartiger und wundervoller Satz. Klein und einfach, weil wir ja alle Menschen sind.

Sei ein Mensch – das scheint nichts Besonderes. Aber menschlich sein, das gelingt eben nicht allen. Nicht in den Unmenschlichkeiten schwerster Kriegsverbrechen – und noch nicht mal im Kleinen im Unfrieden des Alltags. Gerade jetzt, da so viele verunsichert sind durch die politische Lage in der Welt und auch bei uns. Und viele machen sich auch Sorgen um die eigene Zukunft.

Und deshalb ist der Satz auch großartig und wunderbar – weil er so schlicht und doch herausfordernd ist. Für mich ist es ein Satz, der gut als Überschrift in diese Adventszeit passt, die gerade beginnt: Sei ein Mensch! Ich glaube, dass damit der Advent – die Vorbereitungszeit auf das Weihnachtsfest – besser werden kann. Christinnen und Christen feiern an Weihnachten, dass Jesus Christus geboren wurde, dass Gott selbst Mensch geworden ist, ein menschliches Antlitz hat. Und da passt es ja, dass der Advent darauf vorbereitet und etwas mit uns Menschen macht. Warum? Drei Perspektiven möchte ich hier nennen, die das erklären: eine Perspektive aus der Politik, eine aus der Kunst und eine aus der Theologie. Zuerst die Perspektive der Politik.

"Die Würde des Menschen ist unantastbar."

So steht es in unserem Grundgesetz. Der erste Satz im ersten Artikel. Der wichtigste Satz. In diesem Jahr war Verfassungsjubiläum. Das Gedenken daran, dass dieses Grundgesetz vor 75 Jahren verkündet wurde. Es gab Staatstragendes dazu. Und eine kleine Aktion, die nicht in den großen Schlagzeilen war, aber die mich besonders angesprochen hat. Sie kommt von einem Team um den Kölner Künstler und katholischen Diakon Ralf Knoblauch. "Würde – unantastbar": Auf kleinen Holztafeln stehen nur diese beiden Worte eingebrannt: "Würde – unantastbar". Dazu eine symbolische Krone. Denn jeder Mensch hat eine königliche Würde, soll das heißen. Egal, ob arm oder reich, mit oder ohne Migrationshintergrund, jung oder alt; ja, sogar unabhängig davon, ob schon geboren oder nicht: Alle Menschen haben eine bleibende, unantastbare Würde. Weil sie Gottes Geschöpfe sind, seine Ebenbilder – wie das christliche Menschenbild sagt: Weil sie Menschen sind.

Die Holztäfelchen aus der Kunstaktion wurden an verschiedenen Orten aufgestellt, an denen die Würde von Menschen berührt wird: Wo sie verletzt wird ebenso wie dort, wo sie besonders geschützt wird und man sich mit ihr beschäftigt: Bei Initiativen zum Beispiel, die sich für Menschenrechte einsetzen. In der Ausgabestelle der Tafel, wo Menschen aus prekären Verhältnissen für etwas Essen anstehen; in Kirchengemeinden, die sich der Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt aus den eigenen Reihen stellen. In Parlamenten, in denen eine menschenwürdige Politik gefragt ist.

Ich habe sie gesehen in einer Geburtsstation eines Krankenhauses; auch vor Gedenkstätten, die an die Gräueltaten der Nazis erinnern – und mahnen, wo es hinführt, wenn sich Hass und rechte Hetze auch heute modrig-fruchtbaren Boden suchen. Überall dort – und an vielen kreativen anderen Orten – sind solche Würdetäfelchen zu finden und mahnen dabei – ganz anschaulich, wo dieser Appell Gehör finden soll, damit die Welt ein bisschen besser wird: "Sei ein Mensch"!

Sei ein Mensch! Als Anleitung für den Advent; damit der noch besser wird. Aber wie geht das? Was ist der Mensch? – Das ist die uralte philosophische Frage. Und manchmal helfen da die kleinen Antworten, um einen Anfang zu machen – und doch in die Tiefe zu gehen. Hier kommt also die zweite Perspektive. Und zwar aus der Kunst, genauer: aus der Musik. Nämlich die von Herbert Grönemeyer in seinem Lied "Mensch". – Was ist der Mensch? Darauf hat Grönemeyer diese Antwort:

"... und der mensch heißt mensch
weil er vergisst,
weil er verdrängt
und weil er schwärmt und stählt
weil er wärmt, wenn er erzählt (…)

und weil er schwärmt und glaubt,
sich anlehnt und vertraut. (…)

weil er erinnert, weil er kämpft
und weil er hofft und liebt
weil er mitfühlt und vergibt

und weil er lacht
und weil er lebt
du fehlst."

Wenn er schwärmt und glaubt, vertraut, mitfühlt, vergibt … – menschliche Regungen, die Menschsein ausmachen. Aber da ist auch dieses „du fehlst“ in jedem Refrain. Grönemeyer besingt den Verlust lieber Menschen. Ich will das aber auch so verstehen, dass ich da selbst gemeint bin – als Zuhörer bei diesem Lied. Dann wird das "du fehlst" zum Appell: Sei DU derjenige, der mitfühlt und vergibt, der schwärmt und lebt und liebt und lacht. Sei ein Mensch! Mit dir wird es adventlicher, weihnachtlicher, schöner in dieser dunklen Jahreszeit und in dieser oft so dunklen Welt.

Sei ein Mensch! Das heißt, sich das Menschliche bewahren, wenn alles drunter und drüber geht – auch angesichts von Leid, Tod und Trostlosigkeit. Und deshalb noch eine dritte Perspektive neben Politik und Kunst. Die Perspektive der Theologie: Heute beginnt der Advent. Die Zeit auf Weihnachten hin. Für Christinnen und Christen ist das das Fest der Menschwerdung Gottes. Gott selbst wird Mensch – in Jesus Christus. Mitten in Leid, Tod und Terror der damaligen Zeit, als Kind in der Armut der Krippe. Und als Hoffnung für unsere Zeit.

Damit es menschlicher zugeht, auch durch unser Mitwirken. Das ist auch die Botschaft von Weihnachten: Sej a Mensch! Sei ein Mensch – oder wie es der kürzlich verstorbene Bischof Franz Kamphaus in einem Buchtitel schreibt: "Mach’s wie Gott, werde Mensch!" Das Vorbild ist Jesus. Aber der macht’s einem auch nicht immer leicht, ein adventlicher Mensch zu sein, schrieb Bischof Kamphaus in seinem Buch über Jesus.

"Er sprach vom Salz der Erde, nicht von Honig oder Marmelade. Er hat die Leidenschaft nicht durch Gemütlichkeit ersetzt. Vorsichtig und sparsam mit sich selbst umzugehen war nicht seine Art. Er schonte sich nicht, er setzte sich aus. Er beanspruchte keine Privilegien und pochte nicht auf seinen Besitzstand. Er wollte nicht an anderen verdienen, er diente. (…) Er widerstand der Versuchung, die Welt mit Gewalt in Ordnung zu bringen – kein heiliger Krieger, der um der vermeintlich guten Sache willen über Leichen geht. (…) Er war so frei, sich verschenken zu können. Er ließ nicht andere für sich sterben, sondern starb für die Menschen – 'für euch und für alle'. Krippe und Kreuz – er ist sich treu geblieben." [1]

Krippe und Kreuz. Nachfolge Jesu ist nicht einfach. Aber eine Herausforderung gerade im Advent. Der christliche Glaube sagt: Dabei sind wir nicht allein, auch wenn die Welt im Advent nicht friedlich, sondern alles andere als eine heile Welt ist. Gott ist dennoch und gerade deshalb "mittendrin", wie es in einem Adventstext des Priesters und Poeten Stephan Wahl heißt:

"Gott fährt in die Knochen, geht unter die Haut, wird Mensch.
Unter Unauffälligen und Schrillen, Musterfamilien und Beziehungschaoten, Heiligen und Gaunern, Asketen und Huren, Bankiers und Müllmännern,
herzlich Fröhlichen und abgrundtief Traurigen.
Glaubenden und Zweiflern.
Gott ganz unten, sich für nichts zu schade, keine Angst vor dem Staub.
Kein Ekel vor den Gerüchen von Körper und Seele.
Kein unberührbarer Götzengott, aus Stein und Gold, sich selber genügend.
'Der heruntergekommene Gott.' (Wilhelm Bruners)

Der Allmächtige – machtlos, arm und hinabgestiegen.
Das ist unfassbare Größe.
Gott sucht mit unendlicher Geduld, um jeden zu finden, wie fern er auch ist.
Leg dein Licht an wie ein Kleid, trau dich durch die Nacht.
Du wirst gefunden." [2]

Sei ein Mensch! Das ist eine schöne Überschrift für diesen Advent, finde ich. Damit er gut gelingen kann. Dass das nicht immer einfach ist, ist aber auch klar. Deshalb glaube ich – gerade auch als Christ –, dass da auch Gott seine Hand im Spiel hat und seinen Segen dazu gibt, damit es gelingt; um ein adventlicher Mensch zu werden und zu sein. Gerade auch, wenn wie jetzt die Welt aus den Fugen geraten scheint. Adventliche Menschen sind keine perfekten Menschen; Adventliche Menschen sind auf dem Weg, suchende Menschen. Und: gesegnete Menschen. Menschen, die die Welt ein bisschen besser machen wollen – und selbst zum Segen werden, so wie sie sind.

Ich komme nochmal zurück auf den Anfang, die Rede von Marcel Reif im Bundestag; den eindringlichen Appell „Sei ein Mensch!“. Auf der Tribüne saß damals auch die inzwischen 103-jährige Margot Friedländer. Eine jüdische Holocaust-Überlebende. Sie wiederholt diese Botschaft immer wieder: Seid Menschen! – Auch und gerade im Unheil der Welt. Das ist nicht nur etwas für den Advent, in dem Christen auf die Menschwerdung Gottes schauen. Die Jüdin Margot Friedländer hat eine Botschaft, die adventlich und weihnachtlich ist – und das ganze Jahr gilt, über diese Tage hinaus: Friede den Menschen auf Erden! Trotz allem.

Wie das geht? Und wie der Advent noch besser wird? Manchmal ist die Antwort ganz kurz – und doch so tiefgehend wie herausfordernd: Sei ein Mensch! Das letzte Wort soll hier daher Margot Friedländer haben:

"Was war, war. Das können wir nicht mehr ändern. Aber es darf nie wieder geschehen. Ich sage nur: Seid Menschen! Das ist das Wichtigste. Wenn man Mensch ist und andere Menschen respektiert, das ist das Wesentliche: Wir sind alle gleich. Es gibt kein christliches, kein muslimisches, kein jüdisches Blut. Es gibt nur menschliches Blut. Wir sind alle, alle gleiche Menschen."

Die redaktionelle Verantwortung für die Sendung hat Martin Korden.

Musik:

III. Credo "Incarnatus est" (Große Messe – W.A. Mozart)

Herbert Grönemeyer – Mensch

III. Credo "Incarnatus est" (Große Messe – W.A. Mozart)


[1] Aus: Franz Kamphaus, Mach’s wie Gott, werde Mensch. Ein Lesebuch zum Glauben, Herder-Verlag, Freiburg i.Br., überarbeitete Ausgabe 2019, S. 93.

[2] "Mittendrin" aus: Stephan Wahl: … reiß die Himmel auf. Meditationen zu Advent und Weihnachten, echter-Verlag, Würzburg 2013, Seite 80f.

Über den Autor Michael Kinnen

Michael Kinnen, Jahrgang 1977, studierte Theologie in Trier, Frankfurt und Mainz. Er absolvierte die studienbegleitende Journalistenausbildung an der katholischen Journalistenschule in München und ist seit 1998 für verschiedene Programme der Kirche im Radio "auf Sendung". Zum Thema "Gott in Einsdreißig - Fides et 'Radio'" promovierte er an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt zum Verkündigungsauftrag der Katholischen Kirche im Privatfunk. Berufliche Stationen führten ihn von Mainz über Berlin nach Trier. Michael Kinnen ist verheiratet und Vater einer Tochter.

Kontakt: info@radiopredigt.de