Genau morgen vor hundert Jahren, gegen Mittag, ist Franz Kafka gestorben, mit 41 Jahren, unheilbar an Tuberkulose erkrankt. Zwei Jahre vor seinem Tod hat er die Erzählung "Ein Hungerkünstler" veröffentlicht, das Porträt eines Schaustellers, der wochenlang ohne Nahrung leben kann und dafür anfangs allseits bewundert und bestaunt wird. Hungern ist sein ganzer Lebensinhalt, zuletzt eingesperrt in einem Zirkuskäfig, den irgendwann aber keiner der Zirkusbesucher mehr beachtet, weil die Sensation keine mehr ist. Zum Schluss wird er sterbend und vergessen und auch nur zufällig im Stroh des Käfigs entdeckt. Auf die Frage des Aufsehers, warum er nicht aufgehört habe zu hungern, kommt es zu diesem Dialog:
"'Weil ich hungern muss, ich kann nicht anders', sagte der Hungerkünstler. 'Da sieh mal einer', sagte der Aufseher, 'Warum kannst du denn nicht anders?' 'Weil ich', sagte der Hungerkünstler, hob das Köpfchen ein wenig und sprach mit wie zum Kuss gespitzten Lippen gerade in das Ohr des Aufsehers hinein, damit nichts verloren ginge, 'weil ich nicht die Speise finden konnte, die mir schmeckt. Hätte ich sie gefunden, glaube mir, ich hätte kein Aufsehen gemacht und mich vollgegessen wie du und alle.'"
Vieles spricht dafür, dass Kafka in dieser Erzählung sein eigenes Schicksal als Schriftsteller verarbeitet hat, das prekäre Verhältnis zwischen Autor und Publikum. Der Hungerkünstler konnte gar nicht anders als hungern. Hungern ist für ihn keine Leistung, für die er Bewunderung verdient hätte, sondern ein unwiderstehlicher Zwang. Dahinter tritt alles andere zurück. Auch Kafka konnte nicht anders. Er konnte nicht anders als schreiben. Der Kafka Biograph Safranski hat es auf den Punkt gebracht: Kafka hat um sein Leben geschrieben! Und so wird auch bei ihm alles andere zweitrangig.
Kafka schreibt wie ein Getriebener, Suchender. Man könnte auch sagen, analog zum Hungerkünstler, wie ein Unersättlicher, der sich nicht abspeisen lässt und sich im Schreiben verausgabt, auf der Suche nach einer Speise, die wirklich schmeckt. Das verleitet mich zu einer riskanten Frage, die vielleicht so manchen zum Protest reizt, mir aber immer wieder kommt, wenn ich Kafka lese: War er, Kafka, auch ein religiöser Mensch? Ich will Kafka nicht vereinnahmen, gar taufen, aber die großen Fragen und Abgründe in seinem Werk lassen mich immer wieder fragen nach einer transzendenten Sehnsucht, die sich jeder Vereinnahmung und Vereinfachung entzieht.
Wie religiös war Kafka?
Kafka war Jude, aber letztlich nicht heimisch in seiner angestammten Herkunftsreligion. Das verbindet ihn mit vielen jüdischen Schriftstellerkollegen seiner Zeit. Auf sich persönlich gemünzt schreibt er:
"Ich bin nicht von der allerdings schon schwer sinkenden Hand des Christentums ins Leben geführt worden wie Kierkegaard und habe nicht den letzten Zipfel des davonfliegenden jüdischen Gebetsmantels noch gefangen wie die Zionisten. Ich bin Ende oder Anfang."
Kafka spürt die verblassende Relevanz des Christentums und auch seines eigenen Judentums, er spürt sein Unbehaust-Sein zwischen Tradition und Moderne und darin eingeschlossenen die Not einer metaphysischen Obdachlosigkeit seiner Zeit, was so viel heißt wie: Transzendenz ja, aber ohne klare Richtung und ohne eindeutiges Ziel. Der gestirnte Himmel über dem Menschen ist eingedunkelt, der Mensch in Kafkas Werk heimgesucht von Fremdheit, anonymen Mächten, zwanghaften Routinen und existentieller Verzweiflung. Und darin immer wieder eingebettet Fragmente und Sehnsuchtsbilder einer überkommenen Religiosität, die aber nur gebrochen aufleuchtet und durch karikierende Übermalungen zugleich entfremdet wirkt. Doch die darin eingeschlossenen großen Fragen des Menschen treiben auch Kafka um.
Kafka war ein Mensch der geschärften Sinne. Ein Kafka-Porträt der jüdischen Malerin Macanova zeigt Kafka mit riesengroßen Ohren, die an Flügel von Engeln erinnern. Darin zeigt sich sein feines Gespür für die Fähigkeit zu lauschen, verbunden mit der Bereitschaft, auf die verborgenen Zeichen der Zeit zu hören und denen in seinem Werk eine Stimme zu geben, die nur zu leicht überhört werden. Zugleich sagt Kafka über sich: "Ich bin ein Augenmensch!" Er sieht tiefer und kreiert literarische Bilder, die den Leser in den Bann ziehen, ja manchmal geradezu überfluten.
Ewiges Davonlaufen – vor dem eigenen Gesetz?
Kafkas drei große Romane blieben allesamt unvollendet. Die Protagonisten der Handlung scheinen Kafka zu entgleiten, geradezu davonzulaufen, sodass Kafka sie mit seinen Worten nicht mehr einholen kann. Im Roman "Der Prozess" wird Josef K. verhaftet und stirbt am Schluss, ohne je erfahren zu haben, was der Grund seiner Verhaftung und seines Prozesses war; im Roman "Das Schloss" kommt der Landvermesser K., eingeladen von den Herren des Schlosses, nie dort an, und je länger er sich im Dorf darunter um Aufnahme müht, desto entrückter wird das Schloss.
Ankommen? Wohl eher eine Obdachlosigkeit unter einem Himmel, der sich entzieht. Und darunter eine wie ein Labyrinth anmutende Welt, in der die Figuren sich verlieren und geradezu verschlungen werden.
Im Prozess Roman gibt es eine entscheidende Schlüsselszene. Der angeklagte Josef K., der sich mit aller Kraft gegen seinen undurchschaubaren Prozess und das nie zu fassende Gericht zur Wehr setzt, befindet sich in einer Kathedrale, und ein Priester erzählt ihm die Parabel "Vor dem Gesetz": Ein Mann vom Lande bittet um Einlass in das Gesetz. Aber der Türhüter verweigert ihm den Einlass und fordert ihn auf zu warten. Nie hindert er ihn mit Gewalt, nur mit Worten. Alle Versuche, über die Jahre hinweg den Türhüter zu überreden oder zu bestechen, scheitern. Und so wartet der Mann vom Lande den Rest seines Lebens. Zum Schluss heißt es:
"Nun lebt er nicht mehr lange. Vor seinem Tod sammeln sich in seinem Kopfe alle Erfahrungen der ganzen Zeit zu einer Frage, die er bisher an den Türhüter noch nicht gestellt hat. Er winkt ihm zu, da er seinen erstarrenden Körper nicht mehr aufrichten kann... 'Alle streben doch nach dem Gesetz', sagt der Mann, 'Wieso kommt es, dass in den vielen Jahren niemand außer mir Einlass verlangt hat?' Der Türhüter erkennt, dass der Mann schon an seinem Ende ist, und, um sein vergehendes Gehör noch zu erreichen, brüllt er ihn an: 'Hier konnte niemand sonst Einlass erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn."
Als Leser fragt man sich, wozu der Wächter überhaupt notwendig war. Er drohte nur mit Worten, doch die reichten, um den Mann draußen zu halten. Das Gesetz wird dem Mann vom Lande nicht zu einem innerlichen, sondern bleibt unerreichbar, weil er sich nicht traut, sich selbst also geradezu nicht ermächtigt, am Türhüter vorbei, sich seinem Gesetz zu stellen. Hier geht es nicht um ein allgemeines Gesetz, sondern um ein individuelles, um die eigene innere Bestimmung, ja Berufung. Wenn man sich denn traut, sich diesem zu überlassen, allen Widerständen zum Trotz und an den Wächtern und Mittlern vorbei…
Es geht bei Kafka um Resonanz
Die Parabel wirft ein Licht auf den Prozess, in den Josef K. sich immer mehr zu verlieren droht, weil dieser ihm nur als äußere anonyme Macht begegnet. Doch geht es nicht in Wahrheit um einen inneren Prozess, um eine innere Läuterung und Ermächtigung, sich der eigenen Lebensschuld zu stellen, den eigenen Unschuldswahn wahrzunehmen? Am Ende sagt der Priester zu Josef K.:
"Das Gericht will nichts von dir. Es nimmt dich auf, wenn du kommst, und es entlässt dich, wenn du gehst."
Schon bei seiner Verhaftung hatte der Aufseher der Gerichtsabordnung Josef K. zu verstehen gegeben:
"Denken Sie weniger an uns und an das, was mit Ihnen geschehen wird, denken Sie lieber mehr an sich."
Zwei geradezu urreligiöse Motive blitzen hier auf: Da ist zum einen die Selbstermächtigung zu einem selbstbestimmten Leben vor dem eigenen inneren Gesetz; und es geht um Rechtfertigung in einem inneren Prozess, der es vermag, ein verfehltes Leben richtig zu stellen, das aber in der Begegnung mit einem Größeren, der sich im eigenen inneren Gesetz artikuliert. Der Kafka-Biograph Safranski schreibt:
"In einer solchen existentialistischen Interpretation erscheint das Gericht als geradezu befreiend: Es wirft den Einzelnen auf sich selbst zurück und eröffnet ihm damit die Chance zur Selbstermächtigung… Auf einmal hat es etwas mit Erleuchtung zu tun, fast sogar mit Erlösung."
Eine drückende Stimmung liegt über allen Romanen und vielen Erzählungen Kafkas, doch diese Stimmung wird bisweilen auch aufgebrochen, ja erhellt – mit Humor und religiösen Anspielungen.
In dem, was Kafka in seiner Zeit ahnt und beschreibt, geht es ihm um Resonanz. Zur Resonanz gehören immer zwei: Einer, der sich öffnet und empfängt, und ein Anderer oder ein Anderes, ja Größeres, von dem eine Botschaft ausgeht. Der Mensch, der sich nicht öffnet und sich nicht auf dieses Größere hinübersteigt, droht sich zu verlieren und unterzugehen. Aber zur Not der Zeit gehört auch eine Botschaft, die den Adressanten nicht mehr erreicht. Kafka diagnostiziert die "sinkende Hand des Christentums", die innere Auszehrung religiöser Gebilde.
An die Himmelskette gebunden: um frei zu sein
Wie ergeht es einer Botschaft aus einer transzendenten Welt, die nicht mehr durchdringt? In Kafkas Erzählung "Eine kaiserliche Botschaft" findet diese Not des Menschen ihre metaphorische Verdichtung: Der sterbende Kaiser hat einen Boten mit einer Botschaft entlassen. Der macht sich sogleich auf den Weg, aber es gelingt ihm nicht, in die Außenwelt durchzubrechen. Die Botschaft bleibt "auf der Strecke". Und so endet die Erzählung in einem melancholischen Fazit:
"Niemand dringt hier durch und gar mit der Botschaft eines Toten. – Du aber sitzt an Deinem Fenster und erträumst sie Dir, wenn der Abend kommt."
Doch Kafka lässt nicht locker. Er hat um sein Leben geschrieben und fühlt sich als Mensch doppelt gebunden. Er schreibt:
"Der Mensch ist ein freier und gesicherter Bürger der Erde. Denn er ist an eine Kette gelegt, die lange genug ist, um ihm alle irdischen Räume frei zu geben und doch nur so lang, dass nichts ihn über die Grenzen der Erde reißen kann. Gleichzeitig aber ist er auch an eine ähnlich berechnete Himmelskette gelegt. Will er nun auf die Erde, drosselt ihn das Halsband des Himmels, will er in den Himmel, jenes der Erde. Und trotzdem hat er alle Möglichkeiten."
Wir sind als Menschen Kinder der Erde und Kinder des Himmels. Um sich nicht in den Abgründen und Labyrinthen der Erde zu verlieren, braucht es diese Kette des Himmels, die uns bindet und zugleich alle Freiheiten lässt. Eine Freiheit, die uns der Erde treu bleiben lässt und dem Leben hier und jetzt. Stillstand ist dabei keine Option, sondern Mut zum Aufbruch und zu einer Reise, von der Kafka sagt:
"Es ist ja zum Glück eine wahrhaft ungeheure Reise."
Die redaktionelle Verantwortung für die Sendung hat Martin Korden.
Musik:
Arvo Pärt – Tabula Rasa II. Silentium
Mikolaj Gorecki – Concerto Notturno III. Molto Lento
Arvo Pärt – Mein Weg
Arvo Pärt – Mein Weg
Karol Szymanowski – Mythen: Narziss