"Die seraphische[n] Jenseitsblicke [dieses Requiems machen] jeden halbwegs Empfänglichen wehrlos (…): vor allem, wenn (…) [die] Sopran- und Altpartien des Chores (…) von Knaben gesungen werden. Beim Schlusssatz 'In paradiso' überlegt auch der erprobte Agnostiker, ob sich da für ihn nicht doch ein Türspalt zur Ewigkeit auftut."
Das schreibt der ehemalige Musikredakteur Rainer Peters über Gabriel Faurés "Requiem". Es ist das international am meisten gespielte Werk des französischen Komponisten. Der Ausdruck "Requiem" entstammt der lateinischen Bitte "Requiem aeternam dona eis, Domine", zu Deutsch: "Ewige Ruhe schenke ihnen, o Herr". Dieses kurze Bittgebet erklingt am Beginn der traditionellen lateinischen Totenmesse. So war es etwa gestern bisweilen der Fall – am Allerseelentag, wenn die katholische Kirche der Verstorbenen gedenkt.
Fauré versteht den Tod eigener Aussage nach "eher als freudige Erlösung und glückliches Streben nach dem Jenseits und weniger als schmerzvollen Weg." Diese Grundhaltung durchzieht denn auch sein Requiem, op. 48. In der gesamten Musikliteratur gibt es keine andere Vertonung der Totenmesse mit einer derart versöhnlichen und optimistischen Ausrichtung. Morgen, am 4. November, ist der 100. Todestag von Gabriel Fauré.
Fauré wird 1845 in Pamiers geboren und getauft. Das ist ein kleines Städtchen in Südfrankreich. Als Vierjähriger entdeckt der Junge in einer Kapelle ein Harmonium, als Achtjähriger ist er bereits mit dem Klavier recht gut vertraut. Ein Jahr später wird Fauré ins prestigeträchtige Pariser Internat École Niedermeyer aufgenommen. Hier werden Kirchenmusiker herangezogen. Hier steht die intensive Beschäftigung mit alter, polyphoner und modaler Musik ebenso an wie die besondere Pflege des Chorgesangs mit dem Schwerpunkt "gregorianischer Choral".
"Wichtig für die musikalische Ausbildung in Frankreich ist diese Ausbildung des Organistentums, des Klavierspielens, auch des gregorianischen Chorals. Da hängt eine gewisse melodiöse Schulung mit zusammen, die dort ganz typisch war, die ganz viele Komponisten dort mitgetragen haben und entwickelt haben. Also: Der gregorianische Choral spielt eine wichtige Rolle, und das hat auch natürlich seine Werke sehr geprägt."
Das sagt der Dirigent Patrick Orlich im Hinblick auf Ausbildung und Kompositionen von Gabriel Fauré.
Nach der Schul- und Studienzeit arbeitet Fauré zunächst in der Provinz. 1870 kehrt er nach Paris zurück.Drei Jahre später wird er offizieller Vertreter seines Lehrers, Freundes und Förderers Camille Saint Saëns an der "Èglise de la Madelaine". Diesen besonderen Ort skizziert der französische Musikwissenschaftler Jean-Michelle Nectoux so:
"Hier wurden große Hochzeiten und Begräbnisse prominenter Persönlichkeiten (…) zu mondänen Ereignissen hochgespielt. Das sonntägliche Hochamt diente dazu, der staunenden Menge im Zuge des Kirchgangs Gefolge und Kleidung zur Schau zu stellen. Somit war die Madeleine eine 'Luxuspfarrei', die größten Wert auf Ordnung und Schönheit prachtvoller Feiern legte."
An der La Madeleine verbringt Fauré gut 30 Jahre. Hier wird er 1877 zum Kapellmeister ernannt, hier macht er sich einen Namen im Pariser Musikleben. Hier wird 1888 auch sein Requiem uraufgeführt, hier wird Fauré 1896 endlich Titulaire.
"Das ist einfach der Titularorganist, also der erste Organist. Das sind sehr prominente Positionen in Frankreich, vor allem in Paris schon zu dieser Zeit. Man ist nicht nur in eine bestimmte berühmte Kirche gegangen, sondern wollte auch einen ganz bestimmten berühmten Musiker, Organisten hören."
Christian Weiherer, Dommusikdirektor am St. Marien-Dom zu Hamburg. 1896 erhält Fauré eine langersehnte Stelle am Pariser Konservatorium – als Lehrer für Komposition, Kontrapunkt und Fuge. Einer seiner Schüler wird Maurice Ravel. Neun Jahre später wird Fauré sogar Direktor des Konservatoriums. Doch zunehmende Taubheit zwingt ihn, dieses Amt mit 74 Jahren niederzulegen. Fünf Jahre später stirbt Gabriel Fauré. Bei der Totenmesse für ihn im November 1924 erklingen dann auch Teile aus seinem berühmten Requiem.
"Der Anfang, es ist ja der Introitus, d.h. der Gottesdienst, das Requiem beginnt – unter Umständen mit einem Einzug des liturgischen Dienstes, vielleicht wird sogar der Sarg hereingeschoben. Und dieser erste Ton, dieses Unisono-D im forte fortissimo, das abschwellt und dann in einen ganz zarten, ruhigen, schreitenden, ersten 'Requiem aeternam'-Einsatz des Chores reingeht, das ist so ein Statement, das in die Sache hineinführt, eine gewisse Dramatik hat, aber durch dieses Unisono ja auch alles offenlässt erst mal."
Ein programmatischer Beginn. Schlichtheit und Zurückhaltung prägen Faurés Requiem in weiten Teilen.
"Das Stück ist ja ursprünglich für einen relativ kleinen Chor geschrieben. Also bei der Uraufführung waren so um die 30-35 Sänger, ausschließlich männliche Sänger, also Knaben- und Männerstimmen aber vom reinen Notentext ist es ein relativ einfaches Stück."
Der Dirigent Stefan Schuck ergänzt:
"Es gibt nur eine Solo-Violine, keine Tutti-Violinen, sondern nur dann Bratschen, die allerdings geteilt sind, Celli und Kontrabass, dazu noch eben die Solo-Violine, Harfe, Pauken und Orgel. Also es ist eine sehr kleine kammermusikalische Besetzung."
Den Eindruck der Schlichtheit und Zurückhaltung erzielt Fauré auch dadurch, dass er die lateinischen Texte der traditionellen Totenmesse kürzt, überarbeitet und mit zwei weiteren Textpassagen ergänzt. Verse, die an das Jüngste Gericht erinnern und an das Grauen der Hölle, lässt Fauré weg. So entsteht ein siebenteiliges Werk mit einer Spielzeit von 40 Minuten. Komponiert hat Fauré sein Requiem in der Zeit zwischen dem Tod seines Vaters – das war im Sommer 1885 – und dem Tod seiner Mutter am Silvestertag 1887. Eine Verbindung zwischen diesen beiden Daten und dem schöpferischen Wirken des Komponisten liegt nahe, trifft aber nicht zu. Denn gut 20 Jahre später notiert Fauré in einem Brief an seinen Kollegen, den Komponisten Maurice Emmanuel:
"Mein Requiem wurde ohne Anlass komponiert …, zu meinem Vergnügen, wenn ich so sagen darf! Es wurde erstmals um 1890 in der Madeleine zu einer Totenfeier für irgendein Gemeindemitglied aufgeführt. Das ist alles, was ich Ihnen sagen kann! Ihr sehr ergebener Gabriel Fauré."
Andernorts findet man folgende Äußerung:
"Vielleicht habe ich instinktiv versucht, dem Konventionellen zu entgehen. So lange Zeit schon begleite ich an der Orgel die Beerdigungsmessen! Ich habe genug davon und wollte etwas anderes machen."
Man weiß: Fauré war kein Freund des klassischen Requiems; schon gar nicht konnte er sich anfreunden mit der Dramatik und Theatralik, mit den musikalischen Schreckensbildern, die etwa Verdi und Berlioz in ihren Versionen des Requiems lautstark ausmalen. Dem wollte und konnte Fauré etwas entgegensetzen. Das wiederum missfiel dem Klerus von La Madeleine. Doch hatte Fauré von Beginn an die Trauernden und später das Konzertpublikum auf seiner Seite.
"Das 'Pie Jesu' hat etwas sehr Persönliches durch diese Einfachheit. Das könnte, ich sag mal, jede gut gebildete sangeslustige Stimme singen. Das hat sowas Privates, Persönliches, eben wie in einem Gebet."
Das Pie Jesu, über das der Dirigent Patrick Orlich hier spricht, markiert die spirituelle Mitte von Faurés Requiem. "Gütiger Herr Jesus, gib ihnen Ruhe. Amen.", lautet die deutsche Übersetzung des vertonten Textes. Das ist die einzige Passage, die der Komponist aus dem "Dies irae" übernimmt, einem Teil der klassischen Totenmesse, in dem die Schrecken des Todes betont werden. Vom großen Beben auf Erden, vom schrillen Klang der Posaune, die den gerechten "Richter der Rache" ankündigt, hört man nichts in Faurés Requiem. Der setzt auf einen gütigen Gott, der Barmherzigkeit walten lässt. Camille Saint Saëns liebte dieses Stück seines Schülers und Freundes. Er schrieb an Fauré:
"Dein 'Pie Jesu' ist das EINZIGE 'Pie Jesu', so wie Mozart 'Ave Verum' das EINZIGE 'Ave Verum' ist."
"In Paradisum" lautet der siebte und letzte Satz von Faurés Requiem. Hier greift der Komponist auf einen lateinischen Gesang aus dem 7. Jahrhundert zurück. "Zum Paradies mögen Engel dich geleiten …", beginnt die deutsche Übersetzung.
"Diese Worte sind überhaupt nicht Teil der Totenmesse, sondern (…) [ein Gesang] für das Geleit des Sarges zum Grab. Die Eindringlichkeit wird erhöht, weil der Text die Toten nicht 'sie', sondern 'du' nennt: Am Ende von Faurés Requiem wirst du und nicht einfach eine anonyme Seele zur Ruhe gebettet."
Das schreibt der Dirigent Lee Reynolds in einem Einführungstext zum Requiem, und der Fauré-Experte Jean-Michel Nectoux notiert hierzu:
"Faurés Textwahl offenbart einerseits seinen Wunsch nach Erneuerung – dieses Gebet wurde in der Tat äußerst selten vertont –, andererseits legt sie auch klar seine ästhetischen und philosophischen Ansichten dar: Der Engelschor ist musikalischer Ausdruck der 'freudigen Erlösung' und des 'glücklichen Strebens nach dem Jenseits', beides Bedeutungen, die der Tod für Fauré hatte."
Mit seinem Requiem ist Gabriel Fauré ein Geniestreich gelungen. Dank ebenso einfacher wie eindrücklicher Melodik erreicht das Werk die Herzen der Menschen – sei es in der Kirche, sei es im Konzertsaal. Es spendet Trauernden Trost und vermittelt vielen Zuhörenden eine leuchtende, friedvolle Perspektive auf das Leben und dessen Ende. Nochmals Stefan Schuck:
"Nicht das Leid überwiegt, sondern wirklich die Hoffnung, die aber eine ganz konkrete ist. Es ist eine Zusage, die in dieser Musik ist, eine liebevolle Zusage, es ist also kein dogmatischer Erlösungsprozess, der zwischen Böse und Gut entscheidet (…), sondern es ist eine Öffnung der Schönheit, der Herrlichkeit des Jenseits."
Die redaktionelle Verantwortung für die Sendung hat Martin Korden.
Musik:
"In Paradisum" aus: Gabriel Faurés Requiem
"Introit et Kyrie" aus: Gabriel Faurés Requiem
"Pie Jesu" aus: Gabriel Faurés Requiem
"In Paradisum" aus: Gabriel Faurés Requiem