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Advent: "Was für ein Glück, wenn ich auch mal unglücklich sein darf!"

Am Sonntagmorgen, 03.12.2023

Von Melanie Wolfers, Wien

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Der heutige Sonntag läutet die Adventszeit ein. Der Advent ist für manche die schönste Zeit des Jahres mit seinem warmen Kerzenlicht, mit Plätzchenduft und Lichterketten. Die kurzen Tage und langen Nächten wecken die Sehnsucht nach Nähe und Geborgenheit, nach Frieden und Glück. Und die Auslagen in den Einkaufsstraßen geben geschäftstüchtige Tipps, wie Weihnachten zu einem frohen Fest werden kann. Gerade angesichts der zahlreichen Glücksversprechen möchte ich eine Lanze brechen für das Recht, auch unglücklich sein zu dürfen! Denn ich glaube, dass gerade der Advent dazu ermutigt.

Laut verschiedener Umfragen zum Lebenssinn geht es der Mehrheit unserer Gesellschaft um möglichst viel Spaß und Genuss. Glück wird gleichgesetzt mit ununterbrochen "positiven" Emotionen, mit angenehmen Erfahrungen und einem Leben voller Höhepunkte. Und man meint, dies bewerkstelligen zu können.

Doch das ist eine Märchenerzählung ersten Ranges. Sie versucht erfolglos, den schwindenden Sinn zu ersetzen. Vor allem aber übt die unreflektierte Annahme, dass Glück herstellbar sei, einen ungemeinen Druck aus. Denn wo es die Freiheit gibt, das eigene Glück zu suchen, da entsteht der Zwang, es gefälligst auch zu finden. Kein Wunder, dass bei diesen unrealistischen Vorstellungen es dunkle Empfindungen schwer haben, zu ihrem Recht zu kommen.

Macht ein Mensch jedoch den Fehler, von den Widrigkeiten seiner Existenz zu erzählen – von der miesen Stimmung im Betrieb, von einer schmerzlichen Liebesbeziehung oder von der anhaltenden Trauer über die verstorbene Großmutter –, dann sucht das Gegenüber oft den Fehler beim Unglücklichen selbst. Und schnell wird eine breite Palette an Lösungstipps angeboten: "Verabrede dich mal mit jemandem!" "Such dir eine neue Stelle!" "Gönn dir mal was Gutes, vielleicht einen Wellnesstag?!" Jeder dieser Vorschläge enthält die subtile Botschaft: "Du hast es in der Hand, gut drauf zu sein. Selbst schuld, dass du unglücklich bist."

Gute Gründe, traurig zu sein

Die Erwartung, dass das Leben aus Spaß besteht, lässt alle, die sich unglücklich fühlen, gleich dreifach leiden: Erstens fühlen sie sich unglücklich. Zweitens müssen sie sich Vorwürfe anhören, dass sie nicht genügend für ihr Glück investieren. Und drittens tendieren viele dazu, sich selbstkritisch zu beäugen, denn: "Alle anderen sind glücklich, bloß ich nicht! Was mache ich nur falsch?" Es klingt paradox, trifft aber zu: Viele wären glücklicher, wenn sie auch einmal unglücklich sein dürften!

Es gibt gute Gründe, traurig zu sein! Ein realistischer Blick zeigt die Unausweichlichkeit des Leidens. Vieles, was unglücklich macht, bricht ungefragt herein: der Verlust des Arbeitsplatzes, ein schwerer Unfall, die Nachrichtenlage, die aktuell weiß Gott keinen Grund gibt, glücklich und zufrieden zu sein… Traurigsein kann aber auch damit zusammenhängen, eine Situation verfehlt zu haben. Etwa wenn jemand die Gelegenheit verpasst hat, einer anderen Person seine Liebe zu gestehen.

Vor allem aber meldet sich Trauer zu Wort, wenn der Abschied von einem vertrauten Menschen ansteht: Wenn die Kinder das Haus verlassen; wenn der Partner oder die Partnerin beruflich mehrere Monate ins Ausland reisen muss. In all diesen kleinen Abschieden klopft der ultimative Abschied an die Tür: der Tod. Und wenn ein geliebter Mensch stirbt, dann weicht die Trauer darüber oft viele Jahre nicht.

Doch auch ohne konkrete Anlässe kann eine melancholische Traurigkeit über einen kommen: Etwa wenn einem aufgeht, dass alles vom Menschen Geschaffene keinen Bestand hat. Dass der Sinn des Lebens fragwürdig ist und es keine sichere Antwort gibt. All dies zeigt: Nur vorsätzlich Blinde oder schlecht Informierte haben nichts zu leiden! Traurig sein zu können ist hingegen ein Zeichen seelischer Gesundheit und spricht für einen realistischen Blick auf die Wirklichkeit.

Macht Gott glücklich?

Oft werde ich als Ordensfrau gefragt, ob mein Glaube mich vor Trauer und Angst bewahrt. Doch ganz im Gegenteil: Der Glaube an Gott macht unglücklich. Gott selbst macht unglücklich!

Gott hat uns aufgefordert, groß vom Menschen zu denken. Er hat uns ermöglicht, uns als Töchter und Söhne Gottes zu verstehen und zu achten. Doch je mehr wir Gott Glauben schenken und je größer wir vom Menschen denken, umso skandalöser wird, was dem Menschen angetan wird. Und umso stärker verwundet das Schweigen Gottes. Es irritiert den Glauben zutiefst. Manchmal denke ich: Wie viel einfacher wäre das Leben, wenn es Gott nicht gäbe! Dann könnte ich in der Rolle der neutralen Zuschauerin verharren und mich des Urteils über Sinn oder Unsinn eines Geschehens enthalten. Vieles wäre leichter zu ertragen. Im Unterschied dazu macht der Glaube leidend und unglücklich. Er lehrt den Schrei: "Wo bist du, Gott? Sei endlich Gott!"

Es gibt eine Würde der Untröstlichkeit. Das Leben geht nicht auf. Zahlreiche Gründe lassen einen an der Güte des Lebens zweifeln. Und je größer wir – kraft des Glaubens – vom Menschen denken, desto ­weniger lässt sich erklären und wiedergutmachen, was Menschen einander antun.

Diese Untröstlichkeit gehört unaufhebbar zu einem christlichen Leben. Und daran ändert auch Weihnachten nichts. An Weihnachten, dem Fest der Geburt Jesu, feiern Christen, dass Gott uns in diesem Jesus wahrhaft vor Augen tritt. Und dass alles Menschliche zu einem Ort werden kann, wo Heiliges aufleuchtet. Doch zugleich bleibt dieses Kommen schmerzhaft verborgen, gerade weil es so menschlich ist.

Die Hoffnung auf das Kommen Gottes – nicht nur einst, sondern auch in Zukunft – ist ein Weckruf: Es geht immer wieder um die radikale und erschreckende Grenzüberschreitung Gottes hinein in Hilflosigkeit und blanke Körperlichkeit. Hinein in ein ohnmächtiges und verwundbares Leben. Doch anstatt sich durch diese verstörende Erzählung vom Kommen Gottes aufschrecken zu lassen, wird in der Adventszeit und dem damit verbundenen Kerzenschein und Plätzchenduft oft die Schlummertaste gedrückt, werden lebensfeindliche Paradoxien harmonisch eingeebnet.

Die Ent-Täuschung von Weihnachten

Es klingt vielleicht überraschend: Einen solchen Nachgeschmack hinterlassen auch manche kirchliche Appelle und besorgte Wortmeldungen von Christen, wenn sie die fürchterliche Not von Flüchtlingen vor Augen führen und zu sozialem Engagement auffordern. Nämlich dann, wenn Lösungsansätze zu einfach daherkommen. Wenn nichts von der Spannung spürbar wird zwischen Mitgefühl und der Unsicherheit, was unsere Gesellschaft verkraften kann. Wenn Paradoxien und handgreifliche Gefahren verschwiegen werden. Auf diese Weise erscheint die christliche Hoffnung als ein Mangel an Information oder als Feigheit, sich an das Tatsächliche zu halten. Doch Hoffen meint nicht zuletzt, Illusionen abzulegen – auch Illusionen über Gott.

Das Leben des evangelischen Theologen Dietrich Bonhoeffer gibt von einer solchen Hoffnung Zeugnis. Angesichts von Bombenhagel und der drohenden Gefahr seiner eigenen Hinrichtung durch die Nazis dichtet er in der Haft: "Von guten Mächten wunderbar geborgen". Das ist keine spirituelle Überhöhung seiner eigenen Lage, sondern vor allem wohl eine Bitte um Gott selbst: "Gott, erweise dich als jener, der du zu sein versprochen hast. Zeige dich als jener Gott, der uns wunderbar geborgen sein lässt."

Weihnachten selber ist ein ent-täuschendes Fest. Es deckt Täuschungen und Illusionen auf und konfrontiert mit der Wirklichkeit mit ihrem Schönen und ihrem Schrecken, mit ihrem Großen und ihrem Erbärmlichen. Ein feines Gespür dafür legt der Kult um die Windeln Jesu an den Tag. Seit vielen Jahrhunderten werden in Aachen die Windeln Jesu gezeigt und als Erinnerungsstücke an dessen Leben verehrt. Unabhängig davon, ob es sich hier um die wahren Windeln Jesu oder um Plagiate beziehungsweise Imitationen handelt, so steht außer Frage: Die Leute haben sich eine feine Nase für das Konkrete und Verstörende der Menschwerdung Gottes bewahrt, wenn sie zu dieser Wallfahrt aufbrechen. Die Windeln stehen auch für Gestank und Kot, für Tränen und Bedürftigkeit, die dem menschlichen Leib und Leben anhaften. Nicht erst das Kreuz Jesu, sondern schon seine Geburt ist eine Ungeheuerlichkeit.

Unser menschliches Dasein ist ausgespannt zwischen einer blutigen Geburt und den letzten Atemzügen. Vertrauen und Verzweiflung, Einsamkeit und Geborgenheit, Erbärmlichkeit und Größe prägen es. In Jesus Christus umarmt Gott dieses Dasein und ermutigt uns, dass wir anderen und uns selbst wertschätzend und loyal begegnen. Dass wir wachsen in der Freundschaft mit uns selbst.

Gegglücktes Traurigsein – wie geht das?

Die Lebenskunst, mit sich selbst befreundet zu sein, zeigt sich nicht zuletzt im Umgang mit dunklen Empfindungen und Gedanken. Natürlich tut es weh, unglücklich zu sein. Trauern schmerzt. Doch was hilft, dass das Traurigsein "glückt"?

Ein Erstes kann darin liegen, die eigene Traurigkeit zu entdramatisieren und damit auch zu normalisieren. Dass wir nicht pausenlos auf Wolke sieben schweben, sondern uns auch mal unglücklich fühlen oder einen tiefen Kummer spüren, ist durch und durch menschlich und gehört zur Polarität des Lebens. Erst das Gesamtpaket – inklusive grauer Alltag – macht die Fülle des Lebens aus.

Zur Kunst des Unglücklichseins gehört, dass ich einem tristen Tag sein Daseinsrecht zugestehe. Dass ich mir den Schmerz wehtun lasse, der in einem Verlust oder in der himmelschreienden Not von Menschen steckt. Und dass ich der eigenen Trauer Zeit und Raum gebe. Eine solch wohlwollend-freundschaftliche Haltung der eigenen Seele gegenüber bedarf einer bewussten Lebenskultur in einer auf Selbstoptimierung getrimmten Gesellschaft.

"Unser Christsein wird heute nur in zweierlei bestehen: im Beten und im Tun des Gerechten unter den Menschen." Diesen Satz hat Dietrich Bonhoeffer 1944 in der Nazi-Haft aufgeschrieben. Darin liegt ein zweifacher Hinweis darauf, wie man das Unglücklich-Sein annehmen und gestalten kann: Zum einen: Das Gerechte tun; sich weder von der Macht der anderen noch von der eigenen Ohnmacht lähmen lassen, sondern im Hier und Jetzt das Leben in die Hand nehmen. Gott selbst ist es, der seine neue Welt aufbaut und am Ende der Zeit vollendet. Doch er baut sie aus den Steinen unseres Lebens, unserer Entscheidungen, unserer Tränen und unserer Liebe. Und deswegen haben die Weltgeschichte und die konkrete Lebensgeschichte einer jeden Person einen echten und absoluten Ernst.

Und als zweites: Beten. Christliches Beten schützt nicht vor Kummer und Verzweiflung, wohl aber bewahrt es vor Gleichgültigkeit. Es fordert heraus, sich der eigenen Not zu stellen und Augen und Herz für das Elend anderer zu öffnen. Gegen die eigene Trauer und Ohnmacht anbeten zu wollen, ist zwar nachvollziehbar, doch im Grunde eine infantile Versuchung. Im Glauben eröffnet sich ein Horizont, in dem ganz im Gegenteil alles Platz hat – auch die Not und das Nichtverstehen. Ich muss sie nicht besiegen oder bewältigen, nicht verdrängen oder ausblenden. Vielmehr kann ich sie nah an mich heranlassen, weil ich darauf hoffe, dass alles eingebettet ist in ein À-Dieu, in ein "Zu Gott".

In einen unbegrenzten göttlichen Zusammenhang, der Leben und Liebe verspricht. Bonhoeffer drückt den Schmerz und den Trost, der in der christlichen Hoffnung liegt, mit den Worten aus: "Wir leben im Vorletzten und glauben an das Letzte."

Die Adventzeit, die heute beginnt, richtet den Blick darauf: "Wir leben im Vorletzten und glauben an das Letzte." Eine spannungsreiche Hoffnung! Sie bestärkt mich darin, nicht zwanghaft gut drauf zu sein, sondern auch den dunklen Empfindungen und bedrückenden Entwicklungen Raum zu geben. Dann lässt sich erfahren: Was für ein Glück, wenn ich auch mal unglücklich sein darf.
 


Die redaktionelle Verantwortung für die Sendung hat Martin Korden.

Musik:

Max Richter: A Catalogue Of Afternoons

Max Richter: Written on the Sky

Max Richter: A Catalogue Of Afternoons


[1] Der Radiobeitrag speist sich aus meinem Buch "Freunde fürs Leben. Von der Kunst, mit sich selbst befreundet zu sein", adeo-Verlag 6. Auflage 2923, 73-79.

Über die Autorin Melanie Wolters

Dr. Melanie Wolfers ist Philosophin, Theologin und Mutmacherin. Seit 2004 lebt die Expertin für Lebensfragen und Spiritualität in der internationalen Ordensgemeinschaft der Salvatorianerinnen in Wien. Sie ist Bestseller-Autorin, Rednerin und betreibt den Podcast GANZ SCHÖN MUTIG – dein Podcast für ein erfülltes Leben.

Kontakt: www.melaniewolfers.de