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"Gott hat es nicht gefallen..." Müssen wir Gott anders denken?

Am Sonntagmorgen, 04.06.2023

Sabine Pemsel-Maier, Freiburg

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"Gott hat es gefallen, meinen geliebten Ehemann und unseren treusorgenden Vater zu sich in seine ewige Heimat zu berufen. Viel zu früh musste er uns verlassen."

Dieser Satz stammt aus einer Todesanzeige. Auch in einer immer säkularer werdenden Gesellschaft begegnet man solchen Formulierungen noch hin und wieder. Sie sind getragen vom christlichen Glauben, dass alles, was auf dieser Welt geschieht, nicht ohne Gottes Plan und Willen geschieht. Und sie sind genährt von der Überzeugung, dass Gott unmittelbar in die Welt eingreifen kann und das auch tut.

Der Schweizer reformierte Pfarrer und Schriftsteller Kurt Marti, der 2017 in hohem Alter gestorben ist, hat zu solchen Vorstellungen ein Gegengedicht geschrieben. Es trägt den Titel "gott hat es nicht gefallen". Das Gedicht ist seinen so genannten "Leichenreden" entnommen. In ihnen setzte sich Kurt Marti mit den Bestattungsritualen, den damit verbundenen Texten und den gängigen religiösen Vorstellungsmustern seiner Zeit auseinander.

"Dem herrn unserem gott
hat es ganz und gar nicht gefallen
daß gustav e. lips
durch einen verkehrsunfall starb
erstens war er zu jung
zweitens seiner frau ein zärtlicher mann
drittens zwei kindern ein lustiger vater
viertens den freunden ein guter freund
fünftens erfüllt von vielen ideen
 
was soll jetzt ohne ihn werden?
was ist seine frau ohne ihn?
wer spielt mit den kindern?
wer ersetzt einen freund?
wer hat die neuen ideen?
 
dem herrn unserem gott
hat es ganz und gar nicht gefallen,
daß einige von euch dachten
es habe ihm solches gefallen."

Kann alles wirklich Gottes Wille sein?

Kurt Marti hatte als Stadtpfarrer von Bern zahllose Beerdigungen zu halten. Er spürte dabei oft die Grenzen der liturgischen Sprache mit ihrer Formelhaftigkeit, die zwar Raum ließ für persönliche Deutungen, aber von vielen als Sammlung leerer Worthülsen empfunden wurde und die auch ihn nicht zufriedenstellten.

Mit seinem Gegentext wollte sich Marti nicht über das tiefe Gottvertrauen derjenigen Menschen mokieren, die überzeugt sind, dass alles, was geschieht, im Sinne Gottes geschieht. Aber er wollte eine oft leichtfertig gebrauchte Redewendung in Frage stellen, die dazu missbraucht werden kann, alles, auch das schlimmste Unheil, als Willen oder Gefallen Gottes zu deklarieren.

Was gefällt Gott? Was will er und was tut er? Wissen wir das? "Holt" er Menschen mitten aus ihrem Erdenleben, ihren Beziehungen, ihren unerledigten Aufgaben? Und warum "holt" er den einen so früh und lässt andere, die in hohem Alter und lebenssatt oder gar lebensüberdrüssig sind, nicht sterben? Greift er unmittelbar in die Welt ein? Wie handelt Gott? Oder klingt die Rede vom Handeln viel zu anthropomorph? Viele Theologinnen und Theologen, wenngleich nicht alle, bevorzugen stattdessen die Rede vom Wirken Gottes. Die Frage ist damit jedoch noch nicht beantwortet. Wie wirkt Gott?

Die gegenwärtige Theologie bietet unterschiedliche Modelle, um diese Frage einer Antwort zuzuführen. Sie hat nicht die eine Antwort auf diese Frage. Denn auch die klügste und frömmste Theologie weiß nicht, was Gott will und wie er wirkt. Vielmehr sucht sie diesem Geheimnis durch die gedankliche Konzeption von Modellen auf die Spur zu kommen. Auch in anderen Bereichen arbeitet die Theologie mit Modellen, etwa wenn sie plausibel zu machen sucht, wie Jesus Christus Mensch und Gott zugleich sein kann. Die Modellbildungen zum Wirken Gottes sind in unterschiedlichen Zeiten und Kontexten entstanden.

Interventionismus: Gott lenkt alles, oder nicht?

Ein sehr altes Modell ist der sogenannte Interventionismus, wie das punktuelle Eingreifen Gottes in die Welt auch genannt wird. Es entspricht der Sichtweise der Bibel, nach der Gott die Geschicke seiner Geschöpfe lenkt und "von oben" bzw. "von außen" in den Lauf der Welt eingreift. Dieses Modell liegt auch Formulierungen zugrunde wie "Gott hat es gefallen, diesen oder jenen Menschen zu sich zu holen". Unter gläubigen Menschen ist es weit verbreitet. Für viele ist es eine Möglichkeit, einem schweren Unglück oder Schicksalsschlag irgendeinen Sinn abzugewinnen – "Gott hat es ja so gewollt".

Die Theologie hat sich weitgehend, wenngleich nicht völlig, vom interventionistischen Modell verabschiedet. Ein unmittelbares Handeln Gottes in der Welt ist mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen nur schwer vereinbar. Vor allem lässt der Interventionismus die Frage unbeantwortet, warum Gott in bestimmten Situationen eingreift und in anderen nicht, warum er die einen rettet und die anderen nicht. Allerdings lässt sich dieser Einwand zugleich entkräften mit dem Argument, dass wir Menschen Gottes unergründlichen Ratschluss gar nicht durchschauen können - es wäre geradezu anmaßend, ihn verstehen zu wollen.

Das lehrt nicht zuletzt das Buch Hiob aus dem Alten Testament. Hiob, ein gottesfürchtiger und gerechter Mann, wird von Gott geprüft und verliert seinen Wohlstand, seine Kinder und seine Gesundheit. Seine Freunde halten ihm letztlich vor, er habe sein Leiden selbst verschuldet. Am Ende aber spricht Gott selbst zu Hiob, verweist auf seine Schöpfermacht und seinen unergründlichen Ratschluss und konfrontiert Hiob mit der Frage: "Kennst du die Gesetze des Himmels?".

Doch viele Menschen geben sich mit dem Hinweis auf die Unergründbarkeit Gottes nicht zufrieden oder haben gar den Verdacht, einem Willkürgott ausgeliefert zu sein, der die christliche Überzeugung, dass Gott die Liebe ist, Lügen straft. Aus diesen Gründen hat die Vorstellung von einem von außen eingreifenden Gott für viele an Plausibilität verloren.

Ein weiteres kommt hinzu: Der Interventionismus entspricht dem antiken Weltbild. Er blendet die in der Neuzeit gewonnene Einsicht aus, dass die irdischen Wirklichkeiten ihre Eigengesetzlichkeit haben und nach eigenen Regeln ablaufen. Dass Gott die Geschehnisse der Welt steuern oder fortlaufend eingreifen müsste, wird schon dadurch in Frage gestellt.

Autonomie: Mensch und Natur sind eigenständig

Diesen Gedanken von der Eigengesetzlichkeit der Weltwirklichkeit greift ein ganz anders geartetes Modell auf. Es nimmt die "Autonomie der irdischen Wirklichkeiten" ernst. Sie spielte auch in der großen Katholischen Kirchenversammlung, dem Zweiten Vatikanischen Konzil, vor mittlerweile sechzig Jahren eine große Rolle – und zwar in der Konzilskonstitution "Gaudium et spes". Das Zweite Vatikanische Konzil nahm darin im Rückgriff auf die Tradition eine grundlegende Klärung des Gott-Welt-Verhältnisses vor, indem es den Gedanken der Freisetzung in den Mittelpunkt rückte: Gott entlässt die Welt in ihr Selbstsein und in die geschöpfliche Eigenständig­keit.

Damit ist nicht deren Loslösung von Gott gemeint, sondern eine theonom begründete Autonomie. Das bedeutet: Gott ist als Schöpfer der Urheber und Begründer der Welt. Mit der Rede von der Autonomie wird also keineswegs Gottes Schöpfermacht verneint. Vielmehr bringt das Wort zum Ausdruck, dass die Weltwirklichkeiten ihre eigenen Gesetze und auch ihre eigenen Entwicklungen haben.

Zu diesen Entwicklungen zählen auch Zufallsentwicklungen im Zuge der Evolution. Damit verbindet dieses Modell die Vorstellung vom Wirken Gottes mit dem evolutiven Wirklichkeitsverständnis. Es geht davon aus, dass Gott im Zuge der Evolution das von ihm Geschaffene freigibt und in seine Eigendynamik entlässt. Das göttliche Wirken ist nicht als direktes, unmittelbares Eingreifen zu verstehen, sondern als Freisetzen der irdischen Wirklichkeiten, wobei Gott ihr ermöglichender Urgrund bleibt. Indem Gott sie im wahren Sinn des Wortes aus der Hand gibt, ist damit auch die Möglichkeit gegeben, dass sie eine ungute oder unheilvolle Entwicklung nehmen.

Der Verkehrstod von Gustav E. Lips aus dem Text von Kurt Marti wäre ein Beispiel dafür. Er ist nicht Gottes Wille oder Wirken, sondern der Preis der Freiheit der geschöpflichen Wirklichkeit, etwa die Folge von Unachtsamkeit im Straßenverkehr oder von schuldhafter Raserei oder eine unglückliche Verkettung verschiedener Abläufe.  

Das pneumatologische Modell: Gott wirkt von innen

Für die Frage, wie Gott zu denken ist, soll hier noch ein Modell zur Sprache kommen. In der Theologie wird es als pneumatologisch bezeichnet. Es setzt auf das Wirken des Geistes Gottes im Menschen und greift damit einen urbiblischen Gedanken auf. Demnach handelt Gott nicht durch einen wirkursächlich vermittelten Eingriff in die Welt, sondern durch die Kraft seines Geistes – man könnte auch sagen: Gott wirkt nicht äußerlich, sondern innerlich.

Voraussetzung dafür ist, dass Menschen für Gottes Geist empfänglich sind und ihr Herz von ihm bewegen lassen. Dieser Modelltypus begegnet in unterschiedlichen Varianten in der Theologie und in der kirchlichen Verkündigung. Gottes Geistwirken, so die tiefe Überzeugung gläubiger Menschen, ermöglicht Erfahrungen von Heilung, von Trost, von Geführt-Werden. Ein solches Wirken Gottes ist nicht berechenbar. Vor allem zwingt es nicht und überwältigt nicht, es rückt die Dinge nicht gewaltsam zurecht, sondern wirkt durch die Anziehungskraft und Attraktivität des Guten.

Damit ist es ein Wirken im Sinne der Macht der Schwachheit, jener Schwachheit Gottes, von der der Apostel Paulus überzeugt war, dass sie stärker ist als die Menschen, wie er im ersten Brief an die Korinther formuliert. Wo Geschöpfe ansprechbar sind für Gottes werbendes Wirken im Geist und sich ihm öffnen, da vermag Gott alles; wo sie sich dagegen ihm verschließen, da vermag er nichts. Gott interagiert demnach nicht punktuell mit dem Weltprozess, sondern er handelt durch Menschen, die sich seinem Geist öffnen. Dieser Geist ist kein anderer als der Geist Jesu Christi.

Das pneumatologische Modell gibt keine Antwort auf die Frage, warum Gustav E. Lips sterben musste. Doch es entfaltet eine spirituelle Kraft, weil es ermutigt, sich in schwierigen Situationen und Krisen Gott anzuvertrauen und sich von ihm stärken und verwandeln zu lassen.

Gott immer neu denken

Die drei vorgestellten Modelle zum Wirken Gottes stehen nicht durchweg im Widerspruch zueinander; teils ergänzen sie sich. Letztlich geht es in allen um nichts Geringeres als um die grundsätzliche Frage: Was und wen stellen wir uns unter Gott vor? Eine Wirklichkeit, die dieser Welt gegenübersteht und gewissermaßen von oben in sie hineinregiert? Oder eine Wirklichkeit, die der Welt immanent ist und sie durchdringt? Oder vielleicht beides zugleich?

Damit ist ein Raum für die kritische Reflexion, Diskussion und für die modellhafte Weiterentwicklung eröffnet. Dürfen wir Gott und sein Wirken anders denken als die Bibel es tut? Ja, müssen wir Gott vielleicht anders denken?

In immer neuen Anläufen Gott neu zu denken, ist ein Grundauftrag der Theologie. Ich weiß nicht, ob Marti sich mit theologischen Modellen auseinandergesetzt hat. Auf jeden Fall hat er oft in der Heiligen Schrift gelesen und sich davon inspirieren lassen. Der Gott, den die Bibel bezeugt, begegnete ihm als Gott des Lebens, als Gott, der Leben für alle will, nicht nur auf dieser Welt, sondern Leben über den Tod hinaus.

Kurt Marti war überzeugt davon, dass die Macht dieses Gottes sich auch über den Tod erstreckt. Darum ist sein Gedicht mit dem Hinweis, dass der Tod von Gustav E. Lips Gott nicht gefallen hat, noch nicht zu Ende, sondern umfasst noch drei weitere Zeilen. Sie lauten so:

"im namen dessen, der tote erweckte
im namen des toten, der auferstand:
wir protestieren gegen den tod von gustav e. lips."

Die redaktionelle Verantwortung für die Sendung hat Martin Korden

Musik:

Ludovico Einaudi – Walk

Ludovico Einaudi – Nuvole Bianche

Ludovico Einaudi – A Fuoco

Ludovico Einaudi – Walk

Über die Autorin Sabine Pemsel-Maier

Sabine Pemsel-Maier aus Freiburg ist Professorin an der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Sie studierte katholischen Theologie, Philosophie, Pädagogik und Germanistik; Promotion in ökumenischer Theologie. Außerdem übte Sie verschiedenste Tätigkeiten in Schuldienst, Lehrerausbildung, Erwachsenenbildung und Wissenschaft aus. Ihre Schwerpunkte sind: Ökumenische Theologie, Genderfragen, Religionspädagogik, Themen im Schnittfeld von systematischer und religionspädagogischer Theologie.

Kontakt: pemsel-maier@ph-freiburg.de