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Nicht nur im Herbst … Warum wir immer wieder Ernte-Dank feiern sollten

Am Sonntagmorgen, 05.10.2025

Sabine Pemsel-Maier, Freiburg im Breisgau

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Heute feiern in vielen Gemeinden Christinnen und Christen Erntedank. Die Ernte hier bei uns war weitgehend gut; die meisten Bauern sind zufrieden. Und anderswo? In vielen afrikanischen Staaten ist ein großer Teil der Ernte der Dürre zum Opfer gefallen und verdorrt.

Die Erntedank-Altäre hierzulande werden prächtig sein, werden wieder überquellen von allen nur denkbaren Früchten und Gemüsen, von Blumen, Brot und den anderen Gaben der Natur, die man dort arrangiert hat.

In vielen Teilen dieser Erde werden auch an diesem Tag Millionen Menschen Hunger leiden. Die Stimmung wird gut sein und die Lieder fröhlich. – In anderen Ländern tobt ein Kampf um Nahrung.

Wir werden zu Gott beten, ihm danken und seine Schöpfermacht preisen. Ob Ernten gut oder schlecht ausfallen, hat nichts mit Gottes Schöpfermacht zu tun. Ernteerträge sind Ergebnis des Einsatzes von Technik, von Maschinen, von chemikalischem Know-how. Wozu also danken?

Erntedank ist ein schönes und buntes Fest, was fürs Auge und die Sinne.

Erntedank ist ein Fest von gestern, nicht mehr als bunte Folklore.

Erntedank – ein Anachronismus? Es hat freilich etwas Archaisches an sich. Erntefeste gab es bereits im Römischen Reich, im antiken Griechenland und auch im Volk Israel. Der jüdische Festkalender kennt seit Urzeiten gleich zwei Erntedankfeste: Schawuot, wörtlich: Wochenfest, das im Frühjahr als Getreide-Fest begangen wird, und das Laubhüttenfest im Herbst zum Abschluss der Erntesaison. Auch andere Religionen und Kulturen, besonders in Süd- und Ostasien, feiern Ernte-Feste. Sie alle sehen die Früchte des Feldes als Gottes Geschenk. In der christlichen Kirche ist das Erntedankfest seit dem dritten Jahrhundert belegt. Es wurde lange Zeit an unterschiedlichen Terminen gefeiert. Später bürgerte sich die Feier am Michaelistag, dem 29. September ein, und dann am ersten Sonntag im Oktober, ohne dass dieser Termin absolut verbindlich wäre.

Es ist offensichtlich eine uralte Erfahrung, dass Menschen sich beschenkt fühlen, wenn Ihnen Gutes widerfährt, und es ist ein tiefes menschliches Grundbedürfnis, dafür Danke zu sagen. Das ist alles andere als ein Anachronismus. Mit gutem Grund rät die neuere Achtsamkeitsforschung dazu, ein Dankbarkeitstagebuch zu führen, gegen Abend fünf Minuten innezuhalten und sich zu fragen oder noch besser, aufzuschreiben: Was ist mir heute Gutes widerfahren, für das ich dankbar sein darf? Bewusste Dankbarkeit gilt darum als ein Stück Lebenskunst. Wer denkt, sieht nichts als selbstverständlich an. Wer dankt, wird aufmerksam für das Gute und Schöne im eigenen Leben.

Und: Wer dankbar ist für all das Viele, das einem geschenkt wird, der hat es vermutlich weniger nötig als andere, neidisch zu sein und andere für das, was sie haben, anzufeinden. Die Dankbarkeit kann so zu einem Schlüssel für ein erfülltes Leben werden, weil sie die Perspektive verändert und den Blick auf das Positive lenkt.

Solcher Dank richtet sich nicht notwendigerweise an einen konkreten Geber; er kann namenlos verbleiben und in einem allgemeinen Gefühl seinen Ausdruck finden. Auch Menschen, die nicht an Gott glauben, sagen Danke. Ein beredtes Zeugnis dafür gibt ein lyrischer Text von Hans Magnus Enzensberger. Er trägt den Titel: "Empfänger unbekannt – Retour a le’expediteur" – "zurück an den Absender".

"Vielen Dank für die Wolken.

Vielen Dank für das wohltemperierte Klavier

Und warum nicht für die warmen Winterstiefel.

Vielen Dank für mein sonderbares Gehirn

Und für allerhand andere verborgene Organe,

für die Luft und natürlich für den Bordeaux.

Herzlichen Dank dafür dass mir das Fahrzeug nicht ausgeht

Und die Begierde, und das Bedauern, das inständige Bedauern.

Vielen Dank für die vier Jahreszeiten,

für die Zahl 'e' und für das Koffein

und natürlich für die Erdbeeren auf dem Teller,

gemalt von Chardin, sowie für den Schlaf,

für den Schlaf ganz besonders,

und damit ich es nicht vergesse,

für den Anfang und das Ende

und die paar Minuten dazwischen

inständigen Dank,

meinetwegen für die Wühlmäuse im Garten."

Für vieles wird hier Danke gesagt, für die existentiellen Dinge im Leben, aber auch für so manches Banale oder gar Unangenehme wie die Wühlmäuse. Der Text changiert so zwischen Ernsthaftigkeit und ein wenig Ironie. Aber der Empfänger fehlt. Und darum verhallt der Dank und die Worte gehen zurück an den Absender, an Enzensberger selbst.

Kann man danken, wenn es keinen Empfänger gibt? Oder ist Dank dann überflüssig? Erst der Glaube, der alles Geschehen auf dieser Welt in einen Bezug zu Gott setzt, erschließt Erfahrungen von Fülle und Kostbarkeit als Gotteserfahrungen, führt zu echter Dankbarkeit, weil es einen Adressaten gibt. Damit ist nicht gemeint, dass Gott die warmen Winterstiefel "macht" oder den Bordeaux "schickt". Vielmehr kommt im glaubenden Danken zum Ausdruck, dass Gott der Urgrund von allem ist. Für glaubende Menschen bleibt dieser Urgrund nicht anonym, sondern hat einen Namen: Das Alte Testament spricht von Gott Jahwe – von einem Gott, der da ist und in allem anwesend ist. Darum hat der Dank im Glauben einen Adressaten. Er richtet sich an ein Gegenüber, an ein göttliches Du.

In der säkularisierten Welt sind wir uns bewusst, dass Gott nicht einfach im Sinne einer Wirkursache den guten Ausgang der Ernte "macht" oder umgekehrt ihn durch sein gezieltes Ein-greifen verhindert. Wäre dem so, dann wäre er wahrhaft ein ungerechter, ja grausamer Gott, der aus unbegreiflichen Gründen einen Teil der Erde gedeihen und den anderen darben lässt. Wir wissen um die entscheidenden Faktoren, wie Klimaverhältnisse, Wetter, Bodenbeschaffenheit, Saatgut, Qualität der Aufzucht und so weiter – und dass Gott nicht ständig gewissermaßen "von oben" her in seine Schöpfung eingreift.

Dass sich die Erfahrung des Beschenkt-Werdens und das mit ihr verbundene Bedürfnis zu danken in der Vergangenheit an der Ernte festmachte, ist angesichts der ursprünglich bäuerlich-agrarisch strukturierten Gesellschaften leicht nachvollziehbar. Und nach wie vor erfahren Menschen, dass sie in Naturkreisläufe eingebunden sind und trotz des technischen Fortschritts von diesen abhängig bleiben. Es ist nicht nur der Klimawandel, der immer mehr sichtbar macht, dass eine ausreichende Versorgung der Menschheit mit Nahrungsmitteln keine Selbstverständlichkeit ist und es übrigens auch nie war.

Zugleich leben die meisten von uns in einer Überfluss-Gesellschaft und haben sich bestens daran gewöhnt. Vielleicht hängt es auch damit zusammen, dass es schwer ist, im Alltag Dankbarkeit zu kultivieren. Es geht nicht um das routinierte "Danke", sondern um eine innere, eine nachdenkliche Haltung.

Erntedank – das ist nicht nur ein Thema für den Herbst und es muss dabei auch nicht nur um die Ernte auf den Feldern gehen: Für jeden Menschen gibt es im Lauf seines Lebens verschiedene ganz individuelle Anlässe, für "gute Ernte" zu danken:

  • wenn eine Arbeit zu einem erfolgreichen Ende geführt wurde;
  • wenn das Leben von Menschen, für die wir Verantwortung tragen, gelingt;
  • wenn eine schwierige Situation gut ausgeht;
  • wenn man von langer Krankheit genesen ist oder aus einer Depression herausfindet;
  • wenn man dem Menschen begegnet ist, mit dem man eine gemeinsame Zukunft aufbauen möchte;
  • wenn ein Kind geboren wird.

Fest verankerte "Dankzeiten" im Leben können darum hilfreich sein. Danken kann so zu einer Grundhaltung eines religiösen Lebens werden.

Alles, was zuvor genannt wurde, verdankt sich oft eigener Anstrengung und harter Arbeit. Zumindest haben wir an all dem einen persönlichen Anteil. Und doch hängt das eben nicht alles nur von unserer Anstrengung und Leistung ab. In alledem leuchtet etwas auf von der grundsätzlichen Unverfügbarkeit des Lebens.

Daran erinnert auch jeder katholische Gottesdienst: Die Eucharistiefeier ist ihrem Kern ein Dankgeschehen für die Heilstaten Gottes. Und wenn das eucharistische Hochgebet die Gaben von Brot und Wein nicht nur als "Frucht der menschlichen Arbeit" bezeichnet, sondern zugleich als "Frucht der Erde" und als "Frucht des Weinstocks", dann wird eben diese Unverfügbarkeit betont. Auch die Bitte aus dem Vater Unser-Gebet: "Unser tägliches Brot gib uns heute" macht diese Unverfügbarkeit bewusst. So gibt es im persönlichen Leben immer wieder Anlässe der Dankbarkeit, und es ist wichtig, individuelle kleine Feste des Dankens zu begehen. Erntedank hat seine Zeit und seinen Platz nicht nur im Herbst. "Seid dankbar in allen Dingen; denn das ist der Wille Gottes in Christus Jesus für euch", so heißt es im ersten Thessalonicherbrief in der Bibel.

Missernten und Hunger in Teilen dieser Erde sind kein Argument gegen das Danken und die Feier von Erntedank. Zum einen bitten Christinnen und Christen an Erntedank um Solidarität und Gerechtigkeit für hungernde Menschen. Zum anderen wird der Sinn des Festes verfehlt, wenn über dem Dank für das eigene Wohlergehen diejenigen vergessen werden, die daran nicht teilhaben. Erntedank ist gerade nicht die Feier der Selbstgenügsamkeit, sondern der Stachel im Fleisch der Satten. Erntedank ruft immer auch auf zur Unterstützung derer, denen es nicht so gut geht. Danken und Teilen gehören zusammen. Mit gutem Grund heben die liturgischen Texte im Gottesdienst auf die soziale Verantwortung ab, die aus der reichen Ernte erwächst, und machen aufmerksam auf die Verpflichtung, den Notleidenden zu helfen.

Erntedank-Gottesdienste sind darum oft mit einer Solidaritätsaktion zugunsten notleidender Menschen verbunden. Dazu gehört die Aktion: "Die Welt an einem Tisch" vom Internationalen Katholischen Missionswerk "Missio": Im Anschluss an den Erntedankgottesdienst werden gezielt Menschen eingeladen, die sonst nicht oder eher selten dabei sind, Obdachlose etwa oder geflüchtete Familien. Ein solches Solidaritätsessen ist eine andere Art, Erntedank zu begehen, als die zahllosen Menüvorschläge, die das Internet bietet, um Erntedank im kleinen Kreis mit einem schönen Abendessen zu feiern, mit Kürbis- und Maronensüppchen, Kasslerbraten mit Rieslingkraut und Birnen im Speckmantel, und zum Abschluss noch ein Apple-Crumble mit Sahne.

Das Genießen-Können ist durchaus eine christliche Tugend. Aber wo es sich verselbständigt und die Notleidenden vergisst, verkehrt es sich ins Gegenteil.

Wir sagen oft, als Floskel, ohne viel nachzudenken: "Gott sei Dank". Am Erntedankfest und nicht nur da, sondern auch bei den vielen individuellen Dankanlässen sollten wir dieses Wort umdrehen und ganz bewusst sagen: "Dank sei Gott"!

Die redaktionelle Verantwortung für die Sendung hat Martin Korden.

Musik:

Arvo Pärt – Pro et contra I. Maestoso

Chilly Gonzales – Manifesto

Laurence Ipsum – Looking Back

Laurence Ipsum – Looking Back

Über die Autorin Sabine Pemsel-Maier

Sabine Pemsel-Maier aus Freiburg ist Professorin an der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Sie studierte katholischen Theologie, Philosophie, Pädagogik und Germanistik; Promotion in ökumenischer Theologie. Außerdem übte Sie verschiedenste Tätigkeiten in Schuldienst, Lehrerausbildung, Erwachsenenbildung und Wissenschaft aus. Ihre Schwerpunkte sind: Ökumenische Theologie, Genderfragen, Religionspädagogik, Themen im Schnittfeld von systematischer und religionspädagogischer Theologie.

Kontakt: pemsel-maier@ph-freiburg.de