Sankt Ottilien: Das kleine Klosterdorf der Missionsbenediktiner liegt in Bayern inmitten einer idyllischen Natur. Wie oft bin ich hier an dem winzigen Bahnhof ausgestiegen, um den ehemaligen Erzabt des Klosters, Notker Wolf, für die Medien zu interviewen. Meist kam er gerade von einer spannenden Reise zu den Klöstern der Benediktiner in aller Welt zurück. Vor genau einem Jahr, am 2. April 2024, – es war kurz nach Ostern – verstarb Notker Wolf überraschend auf einer Pilgerreise nach Rom. In einem unserer letzten Interviews hatten wir darüber gesprochen, welche kirchliche Botschaft wohl heute am wichtigsten sei, und Abt Notker meinte nachdenklich:
"Die Botschaft der Auferstehung! Denn letzten Endes ist die Geschichte in der Hand Gottes. Als Benediktiner habe ich keine Angst vor dem Tod. Für mich ist der Tod nicht der letzte Moment des Lebens, sondern der Übergang zu einem neuen Leben. Ich muss den Mut zum Leben haben, aber auch den Mut zum Sterben."
Vom Bahnhof Sankt Ottilien aus führt der Weg zum Kloster am Friedhof der Missionsbenediktiner vorbei. Hier ruht heute auf einem kleinen Hügel unter einem Steinkreuz Notker Wolf. Sein Grab ist nach Osten ausgerichtet, hin zur aufgehenden Sonne, die im Christentum von jeher ein Symbol der Auferstehung ist. Nach der Beisetzung legten Besucher an dem schlichten Erdgrab noch wochenlang Blumen ab. Und bis heute sieht man hier immer wieder Menschen, die sich gerne an Notker Wolf erinnern.
Zu den Missionsbenediktinern gehören derzeit rund 1000 Mönche auf 5 Kontinenten. Etwa 80 leben in Sankt Ottilien und kommen in der neugotischen Abteikirche regelmäßig zum Gebet zusammen.
Hinter der Kirche öffnen sich im Missionsmuseum die Türen zur Welt: Notker Wolf führte hier gerne staunende Besuchergruppen zu exotischen Schmetterlingen, afrikanischen Holzmasken oder koreanischen Buddha-Figuren, die er und seine Mitbrüder gesammelt hatten. Die internationale Atmosphäre des Klosters habe ihn bereits 1961 motiviert, sich gleich nach dem Abitur der Ordensgemeinschaft anzuschließen, meinte Abt Notker rückblickend. Natürlich gab es auch noch andere Gründe:
"Ich würde sagen: eine große Begeisterung für die Kirche und ihre Sendung. Wir waren 13 im Noviziat, und wir haben damals gemeint, übermorgen könnten wir die ganze Welt katholisch machen. Das sieht natürlich heute anders aus. Aber wir sehen heute weiterhin die Notwendigkeit der Gründungen neuer Klöster als geistliche Zentren, als Zentren der Kultur und der Entwicklung."
Soziale und caritative Dienste wie benediktinische Schulen oder Krankenhäuser seien weiterhin wertvoll, resümierte Notker Wolf 2020 zu seinem 80. Geburtstag. Aber weitaus wichtiger erscheine ihm die spirituelle Kraft, die von Klöstern ausgehen könne. Hier liege für die Mönche eine enorme Herausforderung:
"Für mich besteht sie im Wesentlichen darin, das Christentum, das Evangelium zu 'leben': ein Kloster als geistliche Anlaufstelle, auch als Zentren, wo die Menschen merken, dass Gott der Herr der Welt ist. Da gibt es unendlich viel zu tun."
Technische und wissenschaftliche Errungenschaften verdrängen den Glauben zunehmend aus der modernen Gesellschaft. Das Zweite Vatikanische Konzil versuchte schon in den 1960er Jahren, auf diese Entwicklung zu reagieren. Notker Wolf war damals Student und später Philosophie-Professor an der internationalen Benediktiner-Hochschule von Sant´Anselmo in Rom:
"Es war ein unglaublicher Aufbruch. Ich habe das ganze Konzil von Anfang bis Ende miterlebt. Es war eine unglaubliche Zeit. Da ist der Glaube aufgeblüht. Die Kirche ist zu einer echten Weltkirche geworden. Aber, was wirklich Religionsfreiheit bedeutet, oder der Umgang mit den anderen Religionen, oder innerkirchlich die Kollegialität der Bischöfe … das alles vom Konzil ist halbwegs auf der Strecke geblieben."
Papst Franziskus bemühte sich stets, das Konzil weiter umzusetzen. Doch eines der größten Hindernisse dabei sei das Machtstreben in der Kirche, so Abt Notker. Es blockiere oft die Zusammenarbeit von Gläubigen verschiedener Kulturen, von Geistlichen und Laien, von Frauen und Männern.
Für ihn selbst wurde das Thema "Macht" erstmals relevant, als ihn seine Mitbrüder 1977 zum fünften Erzabt von Sankt Ottilien wählten, erinnerte sich Notker Wolf. Im Alter von 37 Jahren hatte er nun plötzlich Macht. Eine Versuchung, versichert er, war es nicht:
"Ich hatte nie Machtgelüste, denn ich hatte zu viel an Machtstreben erlebt, politisch aber auch kirchlich, auch klösterlich, so dass ich mir sagte: Das ist nicht die Botschaft Jesu. – Es gibt ein Wort im Evangelium: 'In dieser Welt wird Macht ausgeübt, bei euch aber soll es nicht so sein. Wer unter euch der Größte sein will, sei euer Diener.' – Und ich stelle fest, dass viele das nicht kapiert haben."
Papst Franziskus geißelte häufig das "Machtgehabe" oder den Klerikalismus in Teilen der Kirche und des Vatikans. Damit, meinte Abt Notker, habe sich der Papst Freunde aber auch Feinde gemacht. Denn leider akzeptiere nicht jeder, dass das "Samenkorn der Liebe Gottes" nach einer solidarischen Kirche verlange:
"Das Evangelium sagt: 'Das kleine Samenkorn geht auf, es wird zu einem Baum, und da nisten die Vögel drin.' Das ist meine Vorstellung auch von Kirche: dass sich die Menschen alle darin wohlfühlen sollten."
Während der Amtszeit von Notker Wolf hielt in Sankt Ottilien – so hört man dort oft – "die Menschlichkeit Einzug". Zugleich öffneten sich die Benediktiner in beispielhafter Weise für den interreligiösen Dialog. Die Konzilserklärung "Nostra Aetate" hatte den Austausch mit Vertretern anderer Religionen durchaus empfohlen. Abt Notker hieß daher im Kloster schon bald buddhistische Mönche aus Japan willkommen.
"Sie wollten bei uns lernen, konkret, was Christentum heißt. Und das war für uns alle ein unglaubliches Erlebnis: zu sehen, wie ehrfürchtig diese Menschen sind, wie sie auch Respekt haben vor unserem Leben, wie sie es mitmachen. Seither besteht ein regelmäßiger Austausch."
Abt Notker und viele seiner Mitbrüder waren inzwischen zu Gast in buddhistischen Klöstern Japans. Schrittweise, so der Benediktiner, habe er in anderen Kulturen spirituelle Schätze entdeckt:
"Bei den Japanern, bei diesen Mönchen, war ich immer wieder erstaunt, wie sie versuchen, die Buddha-Natur in sich zu verwirklichen, mit welchen Opfern und mit welcher Hingabe sie das tun. Das kann man nur respektieren so etwas. Oder später war ich dann im Iran und habe dort erlebt, wie die Muslime mit allergrößter Ehrfurcht Allah verehren, niederknien, und das alles viel ernster machen als wir eigentlich unser normales religiöses Leben führen. Und von diesem Ernst können wir durchaus lernen, auch unseren eigenen Glauben zu leben."
Notker Wolf war überzeugt: Angesichts der Gefahr des Extremismus sind Gespräche zwischen seriösen Religionsvertretern der beste Weg, um Angst, Hass oder Vorurteile zu überwinden:
"Das Problem ist natürlich, dass der Islam immer auch politisch ist, sehr politisch, weshalb auch von vielen Seiten Angriffe kommen gegen den Dialog mit den Muslimen. Aber ich denke, Polemik führt uns nicht weiter."
Ganz im Gegenteil, erklärte Abt Notker. Denn die Alternative zum Dialog sei meist Gewalt, und das dürfe nicht sein. Es gelte zwischen den spirituellen Formen einer Religion und extremistischen Irrwegen unterscheiden. Auch das Christentum sei oft genug auf Abwege geraten und musste sich neu am Ursprung ausrichten. Niemand dürfe glauben, die alleinige Wahrheit zu besitzen, mahnte der Benediktiner zeitlebens. Das gelte im interreligiösen Dialog ebenso wie in der Ökumene:
"Wir müssen auch dem Anderen seinen Glauben zugestehen. Die Wahrheitsfrage wird allzu oft zu einer Machtfrage. Da heißt es dann immer: Wer hat Recht? – Und wenn ich 'Recht habe', stehe ich über dem anderen. Wir müssen unterscheiden lernen, uns kennen lernen, achten lernen und wissen: Wir alle suchen die eine Wahrheit, wir alle suchen Gott."
Bei dem Versuch, Brücken zwischen Menschen, Kulturen und Religionen zu bauen, half Notker Wolf oft die Musik. Lautet doch das Motto, das er für seine Arbeit als Erzabt wählte: "Jubilate Deo" – "Lobt Gott mit Jubel". Querflöte und Gitarre flogen mit ihm rund um den Globus – zur Freude seiner Gastgeber in aller Welt.
"1984, zur Hundertjahrfeier der Gründung von Sankt Ottilien, kamen die Zen-buddhistischen und schintoistischen Freunde und haben mir eine Yamaha-Flöte überreicht. Ich habe sozusagen eine interreligiöse Querflöte."
Im Jahr 2000 führte der Lebensweg von Abt Notker wieder nach Rom, wo er zum höchsten Repräsentanten der internationalen Konföderation der Benediktiner gewählt wurde: zum Abtprimas. Sein Amtssitz war fortan in der ewigen Stadt, in der Abtei Sant´ Anselmo auf dem Hügel Aventin. Von dort aus galt seine Sorge mehr als 20.000 benediktinischen Ordensleuten in allen Kontinenten. Rund ein Drittel waren Frauen. Ihnen den Rücken zu stärken, war Notker Wolf stets wichtig:
"Es ist uns gelungen, die Frauen unter einem eigenen Dach zusammen zu führen, – das geistliche Band der Benediktinerinnen, – in dem die ganzen Frauenklöster verbunden sind, mit einer eigens gewählten Koordinatorin an der Spitze. Es ist eine tolle Angelegenheit. Und das ist letzten Endes auch eine der Hauptaufgaben eines Abtprimas: nicht zu herrschen, sondern die Einheit des Ordens zu bewerkstelligen und die Zusammenarbeit unter den Klöstern zu fördern."
Das Amt des Abtprimas könnte ein Modell zur Lösung mancher kirchlicher Probleme sein, meinte Notker Wolf. Denn es stehe für Zusammengehörigkeit und für Unabhängigkeit:
"Ich würde mir so etwas durchaus auch vorstellen als ökumenisches Modell. Ein Abtprimas kann überhaupt nicht hineinregieren in andere Klöster oder Kongregationen, und trotzdem ist seine Funktion als Symbol der Einheit enorm wichtig. Man kann sehr viel tun, ohne befehlen zu müssen. Deshalb habe ich immer von der Macht der Machtlosigkeit gesprochen."
"Rock the border – make up your mind!" – "Durchbrich die Grenzen, öffne Dein Herz!" … fordert die Rockband "Feedback", mit der Notker Wolf lange aufgetreten ist. Bilder des "rockenden Abtes" mit E-Gitarre gingen um die Welt. Die Rock-Musik sei für ihn ein Ventil, um der Frustration über kirchliche oder gesellschaftliche Blockaden Luft zu machen, scherzte Abt Notker gerne. Denn diese Musik sei als "Kritik am Establishment" entstanden und rufe den Menschen zu Freiheit in Verantwortung.
Nach Ablauf seiner Amtszeit als Abtprimas kehrte Notker Wolf 2016 nach Sankt Ottilien zurück. Dort blieb er ein gefragter Ratgeber. Exerzitien, Vorträge und viele Bücher füllten sein Leben. Das letzte Buch, das wir zusammen schrieben "Kraftort Rom – Spirituelle Streifzüge", spiegelt nochmals die Kraft des Glaubens, die sein Leben inmitten aller Herausforderungen prägte:
Die Kirche muss vertrauen. Die Angst, die ich in der Kirche an vielen Orten erlebe, ist völlig fehl am Platz. Freude ist eigentlich die Botschaft des Evangeliums. Wir brauchen eine Kirche, wo Menschen geborgen sind. Ein Song meiner Band Feedback lautete 'My best friend': Jesus oder Gott zu erfahren als 'meinen festen Freund', das muss das Entscheidende sein. Das gibt Freiheit, und vor allen Dingen Freiheit von aller Angst.
Die Gelassenheit eines gesunden Gottvertrauens, ja, der Mut, die Offenheit und die Lebensfreude, die daraus erwachsen, bleiben Abt Notkers stärkstes Zeugnis. In einem seiner letzten Texte schrieb er 2024:
"Ich kehre immer wieder zu Jesus zurück, denn ich habe ihn in meinem Leben erfahren wie die Jünger. Es ist letztlich das Vertrauen auf ihn, das mir Hoffnung schenkt für mein Lebensende. … Wie es nach meinem Tod aussehen wird, bewegt mich nicht. Ich vertraue auf den liebenden Vater Jesu Christi."
Die redaktionelle Verantwortung für die Sendung hat Martin Korden.
Musik:
Capelle Antiqua München – Te Deum Laudamus (Gregorian Chant)
Yoshikazu Iwamoto – Trois Vallées
Notker Wolf – Dir, dir, Jehowa, will ich singen (J.S. Bach)
Feedback – Rock The Border
Feedback – My best friend