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"Zerbrechlich und souverän." Zum 250. Geburtstag der Mystikerin Anna Katharina Emmerick

Am Sonntagmorgen, 08.09.2024

Mathias Albracht, Münster

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Zitat Generalvikar Droste zu Vischering:
"Ich muss Ihnen nun etwas von der Nonne in Dülmen schreiben: Ich würde glauben, auch nicht einmal dieses schreiben zu dürfen, wenn es nicht schon hier auf dem Lande und zwar unrichtig erzählet würde: Meine Meinung über sie ist: Dass sie eine besondere Freundin Gottes ist, wovon aber wir nichts gemerket hätten, wenn Gott sie nicht 'gestempelt' hätte, – das scheint mir so klar, nach dem, was ich von ihr selbst gehöret, und an ihr gesehen habe: Vernünftigerweise hätte man sich das nicht denken können."

Diese Zeilen schreibt im Jahr 1813 der Münsteraner Generalvikar Graf Droste zu Vischering an einen Freund in Berlin. Es geht um eine gemeinsame Bekannte, deren eigenartige Geschichte das gesamte Münsterland in dieser Zeit bewegt.

In einem kargen Zimmerlein in der Stadt Dülmen wohnt bettlägerig und fragil eine Nonne. Sie trage die Wundmale Christi an sich, erzählt man sich. Doch es sind nicht nur diese sonderbaren Erscheinungen am Körper der 39-jährigen, die die Menschen anzieht. Es ist auch ihre aufmerksame Hingabe und die offensichtliche Fähigkeit, jedem einzelnen das richtige Wort des Trostes oder Rates zu sagen, die die Menschen von weit her nach Dülmen zieht. Der Name dieser Nonne lautet Anna Katharina Emmerick.

Heute vor 250 Jahren, am 8. September 1774, wurde sie geboren. Die Geschichte der Emmerick beginnt in einem einfachen Häuschen in der Bauernschaft Flamschen bei Coesfeld. Hier wächst sie auf in einer "Köttersfamilie", bei meist abhängigen Kleinstbauern, die zur einfachsten Schicht der damaligen Landbevölkerung zählen.

Schon früh entdecken die Eltern, dass in diesem Kind eine ganz besondere Gabe schlummert. Eine ungeahnte Kraft der Imagination, des inneren Sehens, das Anna Katharina vor allem in Verbindung mit religiösen Themen zeigt. In späteren Jahren beschreibt sie selbst ihre ersten Erinnerungen an diese Gabe:

Zitat Anna Katharina Emmerick:
"Ich hatte die Gesichte von den Begebenheiten des Alten und Neuen Testamentes so frühe, dass ich mich wohl erinnere, wie mein Vater am Feuer sitzend mich als ein kleines Mädchen zwischen seine Knie nahm und zu mir sagte: 'Anntrienken, nu vertell mi wat'; da erzählte ich ihm nun ganz lebhaft und deutlich allerlei biblische Geschichten, und da er gar nie dergleichen und auf diese Weise je gehört noch gesehen, weinte er, dass die dicken Tropfen auf mich niederfielen, und sagte: 'Kind, wu her heffst du dat?' Da sagte ich ihm, Vatter, das ist ja so, das seh ich ja so. Da wurde er still und sagte nichts mehr."

Anna Katharina eröffnet sich eine innere Welt der Dinge, die ihrer Umgebung verborgen bleibt. Sie sieht Szenen des Glaubens wie Träume am hellen Tage vor sich. Eine Welt, die schon früh auch andere Menschen in ihren Bann zieht und die ihr selbst solche Freude bereitet, dass das innere Leben mit Gott und die Gewissheit seiner Nähe und Liebe für jeden Menschen das Thema ihres Lebens werden wird.

Während der Feldarbeit bei Coesfeld hört sie eines Tages die Glocke eines dortigen Nonnenklosters. Der Klang geht ihr durch Mark und Bein und formt in ihr den klaren und festen Wunsch, selbst ins Kloster gehen zu wollen. Doch ein Leben als Klosterfrau gehörte sich für diese untere Schicht der Landbevölkerung nicht. Anna Katharina setzt alle Ressourcen dafür ein, um sich einen besseren Stand zu verschaffen. Sie arbeitet als Näherin, um hoffentlich bald den Beruf einer Schneiderin ergreifen zu können. Neben ihrer Arbeit versucht sie das Orgelspielen zu erlernen, in der Hoffnung, so für eine Klostergemeinschaft interessanter zu werden.

Anna Katharinas Begabung, Geistliches vor ihrem inneren Auge zu sehen und auch körperlich zu spüren, meldet sich in dieser Zeit wieder stärker denn je. Während einer Übestunde macht sie auf der Orgelempore der Coesfelder Jesuitenkirche eine einschneidende spirituelle Erfahrung.

Zitat Anna Katharina Emmerick:
"Ich kniete auf der Orgelbühne vor einem Kruzifix in lebhaftem Gebet. Ich war ganz in Betrachtung versunken, da wurde mir so sachte und so heiß, und ich sah von dem Altar der Kirche her, meinen himmlischen Bräutigam in Gestalt eines leuchtenden Jünglings vor mich hintreten. Seine Linke hielt einen Blumenkranz, seine Rechte eine Dornenkrone, er bot sie mir zur Wahl dar. Ich griff nach der Dornenkrone, er setzte sie mir auf, und ich drückte sie mir mit beiden Händen auf den Kopf, worauf er verschwand und ich mit einem heftigen Schmerz rings um das Haupt wieder zur Besinnung kam."

Nach vielen Versuchen gelangt Anna Katharina Emmerick an ihr Ziel. 1802 findet sie bei den Augustinerinnen des Klosters Agnetenberg in Dülmen eine Gemeinschaft, die bereit ist, sie aufzunehmen.

Ihre Eltern sind am Boden zerstört. Doch für Anna Katharina beginnt im Kloster die glücklichste Zeit ihres Lebens. Für ihre älteren Mitschwestern ist sie allerdings ein Fremdkörper in der Gemeinschaft. Ihr reges Gebetsleben bei gleichzeitig immer fröhlichem Gemüt wird den verweltlichten Schwestern besserer Herkunft zur Provokation und das lassen sie ihre Mitschwester spüren. Anna Katharina muss einfachste Arbeiten verrichten. Und fesselt ihr kränkliches Naturell sie wieder mal ans Bett, wird sie nur grob und nachlässig gepflegt. Ihr selbst macht das alles nichts. Sie sagt über diese Zeit:

Zitat Anna Katharina Emmerick:
"Ich hatte einen Stuhl ohne Sitz und einen ohne Lehne in meiner Zelle und sie war doch oft so voll und prächtig, dass der ganze Himmel darin zu sein schien."

Doch darauf nimmt der Lauf der Geschichte keine Rücksicht. Westfalen ist mittlerweile von Napoleon besetzt und das Kloster Agnetenberg wird aufgelöst. Dazu unzählige andere Ordenshäuser – mit einer Geschichte teilweise so alt wie das nun zerfallende Römische Reich deutscher Nation. Tabula rasa. Anna Katharina steht zunächst ortlos in einer heimatlos gewordenen Welt unter fremder Herrschaft. Nach kurzer Zeit findet sie eine neue Bleibe als Haushälterin bei einem aus Frankreich geflohenen Priester, Pater Lambert.

Bereits in ihren letzten Klosterjahren bemerkte sie an sich eigenartige Wunden. In ihrem Schleier fand sie bei der Wäsche plötzlich Blutflecken. Zeigte sich Christus bisher nur in ihrer Vorstellung, überschreitet ihr Glaube offenbar auf wundersame Weise die Schwelle ins auch äußerlich wahrnehmbar Körperliche. Ein Phänomen, das Kirche und Wissenschaft bis heute Rätsel aufgibt, psychologisch und medizinisch ungelöst bleibt und Raum zur Spekulation offenlässt. Und gleichzeitig ist es ein tief verbindendes, körperliches Schicksal mit einigen anderen im Glauben verwurzelten Gestalten der Geschichte, wie beispielsweise dem Heiligen Franz von Assisi.

Anna Katharina bemüht sich das alles zunächst für sich zu behalten. Es ist ihr unangenehm. Doch ihr direktes Umfeld kann darüber nicht schweigen. Gerüchte machen die Runde. Als eines Tages auch ihrem Geistlichen Begleiter, dem aus Münster vertriebenen Dominikaner Limberg die Wunden auffallen, nimmt ihn Pater Lambert zur Seite:

Zitat Pater Lambert
"Pater, dies muss kein Mensch wissen, sondern unter uns bleiben, sonst haben wir viel Verdruss und Spektakel."

Die böse Vorahnung sollte sich bewahrheiten. Wer vom Dorf kommt, der weiß, wie schnell so eine Sensation die Runde macht. Anna Katharinas Zustand und die seltsamen Zeichen lassen sich nicht geheim halten. Davon hört auch der ortsansässige Arzt und Kreisphysikus Franz Wilhelm Wesener, der sich als aufgeklärter Mensch diesem dubiosen und sonderbaren Fall widmen möchte.

Medizinisch bald an die Grenzen seiner Kunst geführt, beeindruckt ihn bald die Person hinter allem. Er besucht die Emmerick fast täglich und wird ab jetzt Tagebuch führen über diese besondere Patientin.

Zitat Wesener:
"Nirgend fand ich Betrug, nirgend auch nicht das geringste irdische Interesse und in allen Stücken die unbefangene, ruhige, obgleich todschwache Person. Ich fand in ihr jenes harmlose Gemüt, welches mit sich und der ganzen Welt im Frieden lebt."

Anna Katharina macht auch in dieser Zeit prägende geistliche Erfahrungen. Als sie eines Tages wie gewohnt das klösterliche Tagzeitengebet verrichten möchte, bleiben ihre Blicke auf dem Kreuz im Zimmer hängen. Wie schon oft steht ihr mit einem Mal das Leiden Jesu innerlich vor Augen und sie durchfährt durch Mark und Bein der Zuspruch:

"Sieh hier: Meine Liebe – sie ist ohne Grenzen. Alle, alle kommt in meine Arme!"

Die Aufzeichnungen der Visionen Emmericks vom Leiden Jesu werden später eines der wichtigsten Werke über sie sein. Sie sind ein Werk des Clemens von Brentanos, eines jungen Berliner Literaten. Brentano wird durch Freunde auf Anna Katharina Emmerick aufmerksam gemacht und schon bei der ersten Begegnung mit ihr wird sie ihm zur faszinierenden Gesprächspartnerin. Seinen Freunden berichtet er,

Zitat Clemens von Brentano:
"… dass ich mich noch bei niemandem so durch und durch wohl und vertraulich befunden habe. (…) Sie ist so (…) natürlich, so lebendig, so unschuldig, so kindlich, dass alle Wunder an ihr zur Natur werden."

Was heute als Überlieferung Anna Katharina Emmericks gilt, stammt zuallermeist aus Clemens von Brentanos Feder, ihrem treuesten, längsten und mit Sicherheit auch aufdringlichstem Besucher. Sechs Jahre wich er nicht von ihrer Seite und sammelte rund 16.000 Seiten Aufzeichnungen über sie, ihr inneres Erleben und die Gespräche mit ihr. Alles jedoch auch untrennbar verwoben mit seiner eigenen Phantasie und der Bewältigung seiner eigenen Lebensfragen.

Diese allzu romantisch-poetischen Texte waren für eine nüchterne Bewertung des Lebens der Anna Katharina Emmerick nicht immer förderlich. Für die Seligsprechung gerieten Brentanos Schilderungen sogar fast zum Hindernis. Wären da nicht auch die anderen Erfahrungsberichte gewesen, etwa auch die der Dichterin Luise Hensel.

Zitat Luise Hensel:
"Sie empfing mich mit großer Freundlichkeit und […] umarmte mich, was mich tief demütigte und ich sagte die ungeschickten Worte: 'Wenn sie mich kennte, würde sie nicht so mit mir sein.' Da ließ sie mich plötzlich aus ihren Armen und schaute mich mit einem langen, ernsten, unaussprechlichen Blick an. Dann sagte sie: 'Glaube mir, wer zu mir kommt, dem sehe ich auf den Grund des Herzens, das hat mir Gott gegeben.' Und freundlich lächelnd fügte sie hinzu: 'Dein Wille ist gut' – und herzte mich von neuem. O, wie unaussprechlich trostreich war mir das."

Anna Katharina Emmerick war die spirituelle Attraktion des Münsterlandes. Die Verwundete, die den Menschen einer verwundeten Welt Hoffnung gibt. Bei einer Tasse Kaffee für die Gäste hörte sie Nöte und Sorgen und begegnete zerbrechlich und souverän jedem mit überwältigender Herzlichkeit. Sie hatte die Gabe, Menschen zu trösten, sie zu beflügeln und in ihrem Sinne den Himmel zu öffnen.

Dem Staat schmeckten die Geschichten und der Rummel um die Nonne aus Dülmen nicht. Dem "Bauernspuk" sollte ein Ende gemacht werden. Doch eine preußische Untersuchungskommission konnte an der Emmerick keine Täuschung finden – und zog ohne das gewünschte Ergebnis wieder ab. Jede weitere preußische Intervention versprach nur Streit.

Die Emmerick blieb ein Rätsel, doch die Dülmener ließen sich ihre Anna Katharina nicht mehr wegnehmen. Sie war zu ihrer Gewährsfrau für Gottes Liebe geworden. Unerschütterlich in ihrem Glauben.

1823 verschlechterte sich ihr Zustand. Und am 9. Februar 1824 starb Anna Katharina Emmerick nach einem auszehrenden Leben in schwierigen Zeiten. Was bleibt, sind auch 200 Jahre nach ihrem Tod die Erinnerungen an Begegnungen mit ihr. Begegnungen, die Menschen tief im Innersten berührt haben und ein ihnen nie da gewesenes Maß an Hoffnung und Trost gespendet haben.

Anna Katharina Emmerick war sich sicher: Der liebende Gott weiß für jede und jeden einen Weg und er meint es gut. Oder wie sie es selbst gesagt hat:

Zitat Anna Katharina Emmerick:
 "Gott führt jeden seinen eigenen Weg; und was macht es, ob wir auf diesem oder jenem Weg zum Himmel kommen? Möchten wir alles nur tun, was Gott von uns verlangt."

Die redaktionelle Verantwortung für die Sendung hat Martin Korden.

Musik:

Jeff Beal – Making History

Jeff Beal – Coming Home

Jeff Beal – I know what I have to do

Jeff Beal – Making History

Jeff Beal – One bite at a time

Über den Autor Mathias Albracht

Mathias Albracht, geboren 1989, ist Diplom-Theologe und hat katholische Theologie, Philosophie und Kulturwissenschaften in Paderborn, und Uppsala studiert. Seit 2017 ist er Pastoralreferent im Bistum Münster. Nach einer Zeit im Generalvikariat und als Beauftragter für die Verkündigung in den öffentlich-rechtlichen Medien ist er seit 2024 an St. Lamberti und dem St.-Paulus-Dom zu Münster tätig. Er ist verheiratet und hat einen Sohn.