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Noch im Straflager die Bergpredigt Jesu vor Augen … Vor einem Jahr starb Aleksej Naval’nyj

Am Sonntagmorgen, 09.02.2025

Norbert Franz, Berlin

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"Meine Aufgabe ist es, das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit zu suchen, und um alles andere kümmern sich der alte Herr Jesus und seine Verwandtschaft. Sie werden dich nicht im Stich lassen und lösen alle deine kleinen Problemchen."

Mit diesen Worten beendet Aleksej Naval’nyj seine Autobiographie, an der er auch noch im Gefängnis bis zu seinem Tod in einem Straflager in Russlands hohem Norden geschrieben hat. Sie geben Aufschluss darüber, was hierzulande nur sehr selten mit Naval’nyi in Verbindung gebracht wird: Sein christlicher Glaube war die Kraftquelle seines Lebens. Dazu gehört auch der Mut, sich mit den Mächtigen anzulegen und sich selbst nicht von der Angst dominieren zu lassen. Was er ironisch "Problemchen" nennt, war, dass er den Tod vor Augen hatte.

Als Person des öffentlichen Lebens war Aleksej Naval’nyj durchaus umstritten. Er hatte mehrfach die politischen Positionen gewechselt und manchmal radikale Ansichten geäußert, er hatte sich gelegentlich um öffentliche Ämter beworben, seine eigentliche Rolle fand er schließlich darin, Korruption und Amtsmissbrauch der Mächtigen anzuprangern. Er wurde eine Art Volkstribun, dem die einfachen Leute zuhörten und der Mitstreiter um sich sammeln konnte. Das machte ihn für die Mächtigen gefährlich, weshalb sie versuchten, ihn zu vergiften. 

Im Oktober 2024 erschien parallel in vielen Ländern das 560 Seiten umfassende Buch mit den Lebenserinnerungen Naval’nyjs, nicht nur auf Russisch, sondern in mehr als 25 Sprachen übersetzt. Wer darin der Rolle des Christentums in Naval‘nyjs Leben auf die Spur kommen will, muss sich die Stellen zusammensuchen. Das Vorzeigen seiner Seele und der ernste, feierliche Ton liegen ihm nämlich nicht. Von ernsten Dingen spricht er bisweilen etwas flapsig, was im russischen Original deutlicher wird als in der in Deutschland gedruckten Übersetzung. Etwa, wenn er Jesus als «alten Herrn» bezeichnet. Er zeigt damit auf seine Art die Vertrautheit.

Naval‘nyj war zwar heimlich getauft worden, wuchs aber im religionsfernen Milieu der sowjetischen Schule und Hochschule heran. Die Gottesfrage stellte sich ihm anscheinend erst, als ihm und seiner Frau im Jahr 2001 das erste Kind geboren wurde. Staunend über das neue Leben erschienen ihm die einfachen materialistischen Erklärungen doch allzu dürftig. Er schreibt:

"Es musste da noch etwas geben. Von einem eingefleischten Atheisten entwickelte ich mich allmählich zu einem religiösen Menschen."

Was diesen religiösen Menschen ausmacht, wird in einer Gerichtsverhandlung deutlich. Seit 2013 versuchte das Regime, Naval’nyis Aktivitäten zu unterbinden, indem es ihn mit allen möglichen Anklagen vor Gericht stellen und verurteilen ließ. Als er im Jahr 2021 wieder einmal vor Gericht stand, nutzte Naval‘nyj das ihm gesetzlich zustehende "letzte Wort" des Angeklagten, um sein Selbstverständnis öffentlich zu machen: Es gehe ihm bei seinen Aktionen nicht einfach um Bürgerrechte, sondern um die Gerechtigkeit, von der Jesus von Nazareth in seiner Bergpredigt gesprochen hat:

"Kürzlich hat mir jemand geschrieben: 'Du, Naval‘nyj, warum sagen dir eigentlich ständig alle: Halt durch, gib nicht auf […]. Du hast doch in einem Interview gesagt, du glaubst an Gott. Und es steht ja geschrieben: Selig sind, die da hungert und dürstet nach Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden. Dann geht es dir doch bestens!' Und ich dachte mir: Da versteht mich ja jemand richtig gut! […] [Ich habe] dieses Gebot […] immer als Handlungsanweisung verstanden. Es macht mir zwar keinen Spaß, hier zu sein, aber ich bedauere auch keinesfalls meine Rückkehr [aus Deutschland] und das, was ich gerade tue. Denn ich habe alles richtig gemacht. Ich fühle sogar so etwas wie Genugtuung, weil ich in einer schwierigen Zeit getan habe, was in der Anweisung steht. Ich habe das Gebot nicht verraten."

Hier wird deutlich: Das Wort Jesu, dass die selig sind, die nach Gerechtigkeit hungern und dürsten, habe er nicht einfach nur als eine tröstende Zusage, sondern immer als "Handlungsaufforderung", als "Gebot" verstanden. In diesem Geist wird vielleicht auch deutlich, warum er nach seiner Vergiftung und der anschließenden Genesung in Deutschland wieder freiwillig nach Russland zurückging: Das bewusste Auf-Sich-Nehmen von Erniedrigung und Leid, um der Sache willen, ist eine weltlich verstandene "Nachahmung Christi", wie sie in Russland auch in der Literatur vielfältig gestaltet wurde. Auch wer die christliche Lehre nur wenig kennt, versteht, dass Christi Leiden und Tod seine Lehre besser beglaubigt als alle Worte.

Aleksej Naval’nyj war klar, dass er mit der Rückkehr nach Moskau möglicherweise sein Ende besiegelte. Aber er sah darin eine immens wichtige Form der Mitteilung an seine Mitbürger: keine Angst zu zeigen, deutlich zu machen, dass die Einschüchterung Putins nicht wirkt.

Als Naval’nyj 2021 als "Extremist" und "Terrorist" in einer Strafkolonie untergebracht wird, vertieft er sich in die Bibel. Er lernt die 111 Verse der Bergpredigt auswendig und sagt sie sich innerlich immer wieder auf, wenn er irgendwo antreten und stillstehen muss.

"Hier drin studiere ich gerade die Bergpredigt, weil mir seit einem Monat, ob ihr es glaubt oder nicht, keine anderen Bücher außer der Bibel erlaubt wurden. Die Bergpredigt ist bewundernswert, […]"

 

Wegen seiner Vertrautheit mit dem Text berührt es ihn ganz besonders, als eines Tages gerade dieser Text, den er sozusagen als seinen Text empfindet, in einem Gefängnisgottesdienst verlesen wird:

"Verflixt! Um ein Haar wäre ich in Ohnmacht gefallen, nur unter enormen Schwierigkeiten gelang es mir, die Tränen so weit zurückzuhalten, dass sie mir nur in Tröpfchen und nicht in Strömen flossen. Völlig überwältigt und beflügelt verließ ich die Kirche.' […] … Es war cool. Die richtige Zeit und der richtige Ort."

Naval’nyi war zu vorsichtig, zu skeptisch, als dass er dieses Erlebnis einfach als ein göttliches Zeichen gedeutet hätte. Er wusste, dass er sich gerade in einem Hungerstreik befand und deshalb für Einbildungen empfänglich war. Doch kurz darauf steckte ihm ein Mithäftling eine kleine Papp-Ikone mit einem Engelbild zu, auf deren Rückseite ein Gebet stand. Auch dieses Geschenk wollte er nicht als Zeichen deuten, der Ikone keine besonderen Kräfte zuzuschreiben, deshalb beschränkt er sich darauf, das Geschenk als eine Geste der Solidarität zu deuten. Sie sagte ihm, dass er – trotz aller Bemühungen der Behörden, ihn zu isolieren – nicht allein war.

Er schreibt, dass es ihm durch das Erlebnis in der Kirche und durch das Geschenk "moralisch und physisch etwas leichter" wurde. Es stärkte ihn auch, wenn er die Strategien der Behörden durchschaute. Immer wieder übersetzte er deren Handlungsweise in Worte. In der schon genannten Schlussrede deutete Naval‘nyj die Haft als solche als einen Einschüchterungsversuch:

"Und das ist das Wichtigste, was dieser Machtapparat, was unser ganzes System solchen Menschen sagen will: 'Du bist allein. Du bist ein Einzelgänger'. Zuerst Angst einjagen und dann zeigen, dass du allein bist."

Aleksej Naval’nyj zeigte bemerkenswerte Fähigkeiten, Menschen direkt oder über das Internet anzusprechen, sie zu motivieren. Deshalb dominieren in seiner Autobiographie die Erinnerungen an seine Aktionen. Die größeren, grundsätzlichen Fragen schneidet er nur selten an. Er ist kein Philosoph. An eine Art Vorherbestimmung, ein Kismet zu glauben, verbietet ihm allein schon sein Selbstverständnis als Macher, als Kämpfer. Er glaubt nicht an ein Schicksal, sondern daran, dass er sich auf Gott verlassen kann. Kurz vor seinem Tod kommt es dann zu der schon eingangs erwähnten letzten Eintragung, in der er - ohne große Worte zu machen – ganz explizit die Verbindung von Engagement und tiefem Gottvertrauen zieht.

"Meine Aufgabe ist es, das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit zu suchen, und um alles andere kümmern sich der alte Herr Jesus und seine Verwandtschaft. Sie werden dich nicht im Stich lassen und lösen alle deine kleinen Problemchen."

Aleksej Naval’nyj kämpfte nicht für irgendeine abstrakte Idee von Gerechtigkeit, sondern für gerechte Verhältnisse in seinem Heimatland. Ein freies Russland, in dem vieles verbessert werden muss. Eine gerechte Verteilung der Güter des Landes etwa oder eine höhere Lebenserwartung. Dass er sich dabei auf seinen christlichen Glauben beruft, ist nicht nur eine Kampfansage an Putin und seine Mitarbeiter, er tritt auch mit den Hierarchen der russischen orthodoxen Kirche in Konkurrenz um die Bestimmung des Kerns der christlichen Botschaft.

Das machte Naval’nyjs Witwe Julija Naval’naja deutlich, als sie nach dessen Tod auf einer Internetplattform über das Selbstverständnis ihres Mannes als Christ schrieb. Sie setzte es in Kontrast zu Vladimir Putin, den öffentliche Bilder immer wieder als religiösen Menschen zeigen. In einem ganzen Absatz beschreibt sie die Bilder von Putins Gottesdienstbesuchen, Ikonenverehrung, Aufträge für Kirchenbauten. Aber, so fährt sie fort,

" ... Wir wussten schon vorher, dass Putins Glaube nicht echt ist, aber jetzt sehen wir es deutlicher denn je. Glaube bedeutet nicht, eine Ikone zu küssen. Im Glauben geht es um Güte, um Barmherzigkeit, um Erlösung."

Nicht nur Vladimir Putin ist mit dieser Klarstellung gemeint, sondern auch Kirill, der Patriarch der Russisch-Orthodoxen Kirche. Dieser hatte bei mehreren Gelegenheiten erklärt hat, die Politik Putins befinde sich in völliger Übereinstimmung mit dem Christentum, ja die Präsidentschaft Putins sei ein «Wunder». Selbst dem Krieg, den Putin gegen die Ukraine führt, gibt er eine religiöse Begründung, wenn er ihn einen «heiligen Krieg» nennt – für Julija Naval’naja eine Scheinheiligkeit.

Aleksej Naval’nyj hat seinen Lebenserinnerungen den Titel PATRIOT gegeben. Seit Putin seine Politik mit dem traditionellen russischen Nationalismus begründet, wird der Begriff "Patriotismus" vor allem zu dessen Bemäntelung missbraucht. Heute nennt sich fast jeder einen Patrioten. Es ist eine bemerkenswerte Koinzidenz, dass in demselben Oktober 2024, in dem Naval’nyjs Buch erschien, auch eine Publikation des Patriarchen Kirill in die Öffentlichkeit kam, das dem Untertitel nach von "Patriotismus und Glaube" handelt. Darin fordert er die russischen Soldaten auf, sich aufzuopfern und verspricht ihnen ewiges Leben. Den Patriotismus definiert der Patriarch als "Treue zu dem göttlichen Ratschluss über dein Land und dein Volk".

Folgt man dem Patriarchen, dann hat Gott Russland ausersehen, in dem "Kampf des Guten gegen das kosmische Böse" auf der Seite des Guten in den Krieg zu ziehen. Die Übel, die Naval’nyj bekämpfen wollte, sind ungleich konkreter: Machtgier und Raffsucht bei den Eliten, die den Menschen die Freiheit nehmen und sich selbst bereichern, statt allgemeinen Wohlstand und Gerechtigkeit für alle zu garantieren. Wenn er sich um eine solche Gerechtigkeit bemüht, weiß er sich im Einklang mit der Bergpredigt des Jesus von Nazareth. Zwei Bücher, zwei Vorstellungen von Russland, zwei Arten von Christentum. Naval’nyjs Christentum hat sich an der Bibel orientiert und war imstande, seinem Leben Sinn und Zuversicht zu verleihen. Auch noch im Straflager, den Tod vor Augen.


Die redaktionelle Verantwortung für die Sendung hat Martin Korden.

Musik:

Jeff Beal – Making History

Roque Banos – Dear Daughter

Roque Banos – Dear Daughter

Jeff Beal – Claire’s Dream

Francis Wells – To Have Trusted

Jeff Beal – Making History

Über den Autor Norbert Franz

Norbert P. Franz hatte Professuren für russische und ukrainische Literatur und Kultur inne, zuletzt an der Universität Potsdam. Neben populären Genres und Filmen war das Verhältnis von Kultur und Religion einer seiner Schwerpunkte in den Publikationen und der Lehre, und dazu forscht er bis heute. Er ist der Autor einer Studie zum Teufel in der russischen Literatur.