"Das ist, glaube ich, das, was Thomas immer und zu allen Zeiten seinen Lesern und Leserinnen, seinen Jüngern und Jüngerinnen wohl vermittelt hat – eine geordnete Welt, die so ähnlich aussah im Bild wie eine gotische Kathedrale: Alles war integriert, aber alles war in einem Bauplan zusammengefasst, und alles strebte nach oben zu Gott. Und so ähnlich ist, glaube ich, auch seine Wirkung gewesen."
"Josef Pieper, der Münsteraner Philosoph hat mal sehr schön gesagt: Es gab Zeiten, da hat man in der katholischen Kirche die Schriften des Thomas zitiert wie im Sozialismus die Schriften von Karl Marx."
Zwei Experten-Stimmen zu Thomas von Aquin. Der große Philosoph und Theologe verstarb am 7. März 1274, vor nunmehr 750 Jahren, auf dem Weg zum Zweiten Konzil von Lyon. Thomas zählt zu den ganz großen Gelehrten des Mittelalters. Er war ungeheuer produktiv – im Denken wie im Schreiben. Zeitweise beschäftigt er vier Sekretäre parallel und geht dabei ähnlich vor wie ein Simultanschachspieler, springt von Thema zu Thema, von Schreiber zu Schreiber.
Bereits 1323, keine fünfzig Jahre nach seinem Tod, wird Thomas heiliggesprochen und im Jahr 1567 wird er zum Kirchenlehrer erhoben. So nennt man die wenigen, derzeit 37 Theologinnen, Theologen und Heiligen, die in den vergangenen 1900 Jahren prägenden Einfluss hatten auf die Theologie der christlichen Kirche.
Ein "Lehrer des gesunden Menschenverstandes"
Die immens große Bedeutung des Heiligen aus Aquin unterstreicht auch das aktuelle Kirchenrecht. Darin liest man im Kapitel über die Ausbildung von Klerikern:
"Es sind Vorlesungen in dogmatischer Theologie zu halten, die sich immer auf das geschriebene Wort Gottes zusammen mit der heiligen Tradition stützen; mit deren Hilfe sollen die (…) [angehenden Kleriker] die Heilsgeheimnisse [und theologischen Kernthemen], vor allem unter Anleitung des hl. Thomas als Lehrer, tiefer zu durchdringen lernen (…)." [1]
Wer war dieser Mann, den der englische Schriftsteller Keith Chesterton in seiner nahezu poetischen Biografie als "Lehrer des gesunden Menschenverstandes" bezeichnet? Was hat Thomas getrieben auf seinen vielen Reisen, was hat ihn inspiriert zu seinen zahlreichen Veröffentlichungen?
Rückblende: Im Jahr 1225 kommt Thomas im italienischen Roccasecca zur Welt – als siebtes Kind einer Adelsfamilie. Als jüngster Sohn soll er später, der Familientradition gemäß, ein geistliches Amt innehaben. Der Vater denkt dabei konkret an den Posten des Abtes im nahegelegenen Benediktinerkloster Montecassino. Doch es kommt anders. Gegen den Willen seiner Familie tritt Thomas dem Orden der Dominikaner bei. Ein zu der Zeit noch sehr junger Orden, in dem die Predigt und das Betteln im Vordergrund stehen – eine damals völlig alternative Lebensform.
In diesem Orden geht Thomas von Aquin seinen Weg. Zurückhaltung und Bescheidenheit zeichnen ihn ein Leben lang aus. Dennoch wird Thomas ein ganz Großer, da er alsbald in Paris auf seinen Ordensbruder Albert aus Schwaben trifft, der später Albertus Magnus genannt wird, Albert der Große. Der ältere Dominikaner entdeckt das Potential des jungen Italieners, nimmt Thomas mit nach Köln und macht ihn dort gewissermaßen zu seinem Assistenten.
Aristoteles wird zur Grundlage seiner Theologie
Es ist eine besondere Zeit. Städte wachsen, werden zu Zentren menschlichen Lebens, Universitäten bzw. deren Vorläufer entstehen. Im Jahr 1248 wird der Grundstein für den gotischen Neubau des Kölner Doms gelegt. Man darf annehmen: Albert und Thomas sind zugegen.
In der Geisteswelt tut sich ebenfalls Neues, werden doch die Schriften des Aristoteles wiederentdeckt und trotz anhaltender kirchlicher Widerstände gelesen. In Köln kommentiert und interpretiert Albertus Magnus die Werke des Aristoteles. Thomas saugt all das in sich auf und wird in seinem Denken maßgeblich davon geprägt, wie der Theologieprofessor Thomas Ruster betont:
"Diesen Philosophen Aristoteles zu lesen und ihn zur Grundlage seiner Theologie zu machen, war damals sehr modern und sehr innovativ. Und innovativ war eben auch vor allem bei Thomas, dass er eben meinte, Entscheidungen können nur aufgrund von Gründen getroffen werden. Du musst mir gute Gründe nennen, dann kann ich deinem Standpunkt zustimmen."
Im Jahr 1252 kommt Thomas als aufstrebender "Starprofessor" zurück nach Paris, in das Zentrum der damaligen Wissenschaft. Er ist gut gerüstet, aber keinesfalls unumstritten, sieht er doch im rationalen Denken der Philosophie nicht Teufels Werk sondern Gottes Schöpfung. Thomas folgt damit nicht der damals gängigen Abwertung alles Weltlichen – wie etwa in der Philosophie Platons und in der Theologie des heiligen Augustinus. Im Gegenteil: Nichts ist im Intellekt, was nicht zuvor in den Sinnen gewesen ist. So lautet einer von Thomas‘ Grundsätzen im Gefolge von Aristoteles. Damit bricht sich in Thomas‘ Schriften und in seiner Umgebung ein neues Lebensgefühl Bahn, bringt aber auch theologischen Streit mit sich. Der Schriftsteller und Thomas-Kenner Markus Orths:
"Diese platonische Ideenschau ist jetzt nicht beim Thomas weg, die ist ja immer noch irgendwo da, aber das Aristotelische, das Konkrete, das Sinnliche wird sehr stark gemacht. Und wenn man sich jetzt mal historisch da reinversetzt, ist es damals natürlich ein Riesenskandal gewesen ist. Insofern könnte man schon sagen, dass das eine Art Revolution zur damaligen Zeit war."
"Summa Theologiae": Lehrbuch für Anfänger
Schließlich zieht der Predigerorden Thomas aus dem Epizentrum theologischer Konflikte ab und holt ihn nach Italien zurück. Nun beginnt die fruchtbarste Phase im kurzen Leben des Aquinaten. Thomas verfasst sein Hauptwerk, die "Summa Theologiae". Dazu Thomas-Experte Hanns-Gregor Nissing:
"Die 'Summe der Theologie' oder die 'Summa Theologia' ist das Hauptwerk des Thomas, an dem er die längste Zeit seines Lebens gearbeitet hat. Es ist dabei interessant, dass es sich nicht um ein eigentlich wissenschaftliches Werk handelt, sondern um ein Lehrbuch für Anfänger. Thomas hat das Werk geschrieben nicht für den Universitätsbetrieb, sondern für seine Mitbrüder in der Seelsorge. Etwas pointiert könnte man sagen: Die 'Summe der Theologie' ist ein pastoraltheologisches Handbuch."
Das klingt ungewohnt, ist aber plausibel vor folgendem Hintergrund: Mitte des 13. Jahrhunderts hat der Dominikanerorden großen Zulauf. Nicht jeder, der eintritt, kann predigen, ist mit allen theologischen Wassern gewaschen. Da möchte und kann Thomas Hilfestellung leisten. Zu Recht notiert Josef Pieper, der Münsteraner Thomas-Experte:
"Im Grunde ist er die ganze Zeit und an jedem Ort vor allem eines: Lehrer." [2]
Thomas selbst beschreibt seine Lebensaufgabe, seine Berufung mit folgenden Worten des heiligen Hilarius von Poitiers:
"Ich bin mir bewusst, es Gott schuldig zu sein, dies als die vornehmste Pflicht meines Lebens zu sehen, dass all mein Sinnen und Reden Kunde gebe von ihm." [3]
Es ist somit nicht abwegig, Thomas im weiteren Sinne als "Apostel" zu bezeichnen. Später hat ihm sein prägender Einfluss auf die Theologie den Ehrentitel "Kirchenlehrer" eingebracht.
Hymnen, die bis heute geblieben sind
Der Beginn eines mittelalterlichen lateinischen Hymnus, eine gregorianische Melodie, hier mit Orgelspiel untermalt. "Pange lingua, gloriosi" lauten die ersten drei Worte. Mit "Preise, Zunge, das Geheimnis" beginnt die deutsche Übersetzung des feierlichen Gesangs.
"Preise, Zunge, das Geheimnis: Christi Leib in Herrlichkeit.
(…) Wort ist wahres Fleisch geworden: Brot kann wahres Fleisch nun sein.
In der Kraft desselben Wortes wird zu Christi Blut der Wein.
Ist‘s den Sinnen auch verborgen: Es genügt der Glaub allein." [4]
So weit einige Zeilen aus der ersten und vierten Strophe des Hymnus. Alle sechs Strophen, sowohl lateinisch als auch deutsch, findet man im Gotteslob, im katholischen Gebet- und Gesangbuch. Darunter liest man im Kleingedruckten:
Text: Thomas von Aquin 1263/64. Melodie nach Einsiedeln 1. Hälfte 12. Jahrhundert
Deutlich wird: Thomas von Aquin greift auf eine bereits vorliegende Melodie zurück. Wie kommt es zu dieser Dichtung, zu dieser Verknüpfung? 1264 führt Papst Urban IV. das Fronleichnamsfest ein als nunmehr für die Gesamtkirche verbindliches Fest. Dafür bedarf es passender liturgischer Texte.
Seinerzeit residiert der päpstliche Hof in Orvieto; zur selben Zeit wirkt Thomas ebendort als Lehrer am Dominikaner-Konvent. Papst Urban und Thomas kennen einander bereits, und so macht sich Thomas auf Urbans Bitte hin ans Werk. "Pange, lingua, gloriosi corporis mysterium" wird sein Text für den Hymnus in der Vesper, im Abendgebet am Fronleichnamsfest.
"Mit dem Vesperhymnus sucht Thomas ganz bewusst den Anschluss an den Kreuzeshymnus Pange, lingua, gloriosi proelium cerataminis des [Bischofs] Venantius Fortunatus (…), der [Ende des 6. Jahrhunderts] anlässlich der Ankunft einer Kreuzesreliquie in Portiers geschaffen worden war (…). Nicht nur (…) [Beginn] und poetische Form des älteren Liedes werden übernommen, sondern auch die Melodie. Auf diese Weise wird der innere Zusammenhang von Passion und Eucharistie betont." [5]
Das schreibt Alexander Zerfaß, Professor für Liturgiewissenschaft und Sakramententheologie an der Universität Salzburg. Die beiden Schlussstrophen des Hymnus sind Katholikinnen und Katholiken wohlbekannt; sie beginnen mit den Worten "Tantum ergo sacramentum". Sie erklingen, bevor der Vorsteher der Liturgie die versammelte Gemeinde mit dem "Allerheiligsten", mit dem Leib Christi segnet.
Blicken die ersten vier Strophen auf Jesu Leben, Verkündigung und Selbsthingabe, die in der Eucharistie immer wieder deutlich wird, kommt in den beiden Schlussstrophen "die gläubige und ehrfurchtvolle Antwort auf die Gabe der Eucharistie" [A. Zerfaß, 981] zum Ausdruck.
Gelten seine Lehren heute als überholt?
Was bleibt von Thomas über diesen Gesang und über seine mehr als vierzig Bände umfassenden Veröffentlichungen hinaus? Zunächst der Blick auf einige Defizite seines theologischen Erbes. Der Theologe Thomas denkt vom Menschen her und auf den Menschen hin. Nur um des Menschen Heil wurde die Welt geschaffen. Diese Sichtweise ist – nicht nur mit Blick auf andere Geschöpfe – so heute schwer vertretbar.
Dann: Der Theologie kommt heute nach eigenem Selbstverständnis nicht mehr die Rolle zu wie zu Thomas‘ Zeiten. Sie ist weder den anderen Wissenschaften überlegen – so dachte Thomas im Mittelalter –, noch kann nur sie allein als Wissenschaft Menschen den Weg zum Heil weisen.
Schließlich ist und bleibt Thomas, "Apostel des gesunden Menschenverstands", dennoch weiterhin wegweisend. Thomas Ruster hebt hervor:
"Was ich an ihm bewundere und was ich auch für nachahmenswert halte: Er hat den Mut gehabt, das Christentum ganz neu zu erfinden. Also das Christentum (…), was er entwickelt, das gab es vorher nicht. Und er hat zwar an die Tradition angeknüpft, aber er hat eine ganz neue Form von christlichem Glauben in die Welt gebracht und erfunden. Und das finde ich nachahmenswert. Das Christentum muss ab und zu mal neu erfunden werden. Das kommt alle paar Jahre, alle paar 100 Jahre mal vor – später kam Luther usw. Und das ist großartig, hat er mit großer Konsequenz getan. Bis zum Schluss hat er dieses Konstrukt weiterentwickelt und damit eine für viele Menschen offenbar glaubwürdige und wichtige Form geschaffen. Und das sollten wir heute auch tun."
Die redaktionelle Verantwortung für die Sendung hat Martin Korden.
Musik:
Anonymus – Conductus "Pater Noster Commiserans"
[1] CIC 1983, can 253 § 3
[2] Pieper, J., Thomas von Aquin. Leben und Werk, in: Ders., Werke Bd. 2: Darstellungen und Interpretationen: Thomas von Aquin und die Scholastik
[3] zitiert nach: Nissing, H.-G., Wald, B., Vorwort zur Gesamtausgabe, in: Thomas von Aquin. Das Wort. Kommentar zum Prolog des Johannes-Evangeliums, übersetzt v. Josef Pieper (Thomas von Aquin, Einführende Schriften, Band 1, hg. von H.-G. Nissing und B. Wald), VII-XII, hier: IX.
[4] Gotteslob 493, Übersetzung: Liborius O. Lumma 2008
[5] Zerfaß, A., Preise, Zunge, das Geheimnis [u.a.], in: Franz, A., Kurzke, H., Schäfer, Chr., Die Lieder des Gotteslob. Geschichte – Liturgie – Kultur, Verlag Katholisches Bibelwerk: Stuttgart 2017, 975-983, hier: 981