"Europa soll sich eine Seele schaffen. Europa muss wieder ein Wegweiser für die Menschheit sein. Das geeinte Europa ist ein Symbol der allumfassenden Solidarität der Zukunft. Es bedeutet die Verwirklichung einer allgemeinen Demokratie im christlichen Sinne."
Worte von Robert Schuman, dem französischen Politiker mit ursprünglich deutscher Staatsbürgerschaft. Er gilt als Gründervater der Europäischen Union.
Sich selbst hat er stets als "Grenzmenschen" beschrieben. Sein Leben zwischen Völkern und Kulturen prägte ihn wohl ebenso wie sein katholischer Glaube; der war tief und sehr praktisch. 1886 in Clausen geboren, einem Vorort von Luxemburg, wuchs er mehrsprachig auf, in einer Atmosphäre intellektueller Lebendigkeit und sozialer Verantwortung. Schuman machte in Metz ein deutsches Abitur, studierte Jura in München, Berlin, Straßburg.
Katholizismus im Aufbruch
Aber es war eben nicht das enge Klima des preußischen Kaiserreichs, das ihn prägte, sondern der im Aufbruch begriffene deutsche Katholizismus. In einem Kreis von Theologen, Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlern traf er mit dem späteren Reichskanzler Heinrich Brüning und mit Romano Guardini zusammen, der ein großer Religionsphilosoph werden sollte. Als seine siebenundvierzigjährige Mutter tödlich verunglückte – der Vater war früh gestorben – vergrub sich Schuman in seiner Schwermut. Er dachte ernsthaft daran, Priester zu werden. Doch Freunde redeten ihm ins Gewissen, die Kirche, das Vaterland und das Recht hätten jetzt beherzte Laien nötig. Die Heiligen der kommenden Zeit würden Zivil tragen – schrieb ihm so sein Weggefährte Henri Eschbach.
Schuman gründete eine Anwaltskanzlei in Metz, engagierte sich in der Caritas-Arbeit, im "Volksverein für das katholische Deutschland", übernahm Führungsaufgaben im lothringischen Zusammenschluss katholischer Jugendverbände, organisierte 1913 den Deutschen Katholikentag in Metz – zweisprachig.
Den Ausbruch des Ersten Weltkriegs erlebte Robert Schuman nicht begeistert, sondern betroffen und entsetzt. Zum Glück konnte er in Lothringen bleiben, in einer Armee-Schreibstube und in der Verwaltung beschlagnahmter Vermögen.
Schumann wird von der Gestapo verhaftet
Nach dem Krieg und der Wiedereingliederung Elsass-Lothringens in den französischen Staat erhielt Schuman die französische Staatsangehörigkeit. Nun begann als Stadtrat und Abgeordneter in der Nationalversammlung seine politische Karriere. Er wirkte an der Gründung einer christlichen Gewerkschaft mit, plädierte für eine behutsame staatliche Lenkung der Wirtschaft. Robert Schuman gehörte nacheinander verschiedenen republikanischen Parteien an, die sich nach Frankreich hin orientierten, aber die kulturelle Eigenständigkeit von Elsass-Lothringen verteidigten.
Als Hitler-Deutschland Frankreich unterworfen hatte, war Schuman der erste Politiker, den die Gestapo verhaftete, im September 1940. Freunde konnten seine Deportation in ein KZ verhindern, und auch der nationalsozialistische Gauleiter Bürckel hätte den hochgebildeten Juristen mit seinen vielen Kontakten gern als Mitarbeiter gewonnen – was Schuman ebenso höflich ablehnte wie die NS-Zeitungen, die man ihm als Lektüre anbot. Schließlich quartierte man ihn in einer Art Festungshaft in einem Hotel in Neustadt an der Weinstraße ein; er durfte Freunde empfangen, sogar Reisen unternehmen.
Aber es war eben nicht die Freiheit. Mit Hilfe einflussreicher Gönner konnte Schuman aus Neustadt fliehen. Als Bergwanderer verkleidet und mit falschen Papieren überschritt er die Grenze zum unbesetzten Teil Frankreichs, versteckte sich in Benediktinerklöstern, warb Mönche mit ihrem Abt für die Widerstandsbewegung. Doch manche hielten ihn auch für verrückt, berichtete ein französisches Ehepaar, weil er, statt gegen die verhassten Deutschen zu hetzen, mitten im Krieg von einer deutsch-französischen Union als Basis für ein vereintes Europa träumte.
Zwischen Deutschland und Frankreich
Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte Schuman in die französische Politik zurück. Wurde Finanzminister, dann Ministerpräsident. Ab 1948 Außenminister – in acht Kabinetten bis 1952, die stets der politischen Mitte zugeordnet waren.
In dieser Zeit war es in Frankreich vor allem das Verhältnis zum Kriegsgegner Deutschland, das die Gemüter erregte. In Deutschland wiederum erinnerte man sich an die französische Besetzung des Ruhrgebiets 1918, als französische Polizisten auf demonstrierende "Krupp"-Arbeiter schossen und ein Blutbad anrichteten. Nun hatte sich die französische Besatzungsmacht 1946 das Saarland per Zollunion einverleibt. In dieser Phase war es die zugleich geschmeidige wie visionäre Politik von Außenminister Schuman, die dafür sorgte, dass die Lage nicht erneut eskalierte.
Die Franzosen waren gewillt, jede Neuauflage eines starken deutschen Reiches zu verhindern. Deshalb konzentrierte sich Frankreich darauf, die deutsche Industrie einer perfekten Kontrolle zu unterwerfen und die einstigen Konzernherren auszuschalten. In dieser Situation vollbrachte Schuman das Wunder, die besonders sensible Produktion von Kohle, Eisen und Stahl einer länderübergreifenden Behörde zu übertragen. Ein Modellprojekt mit Folgen: fruchtbare Zusammenarbeit statt misstrauischer Abgrenzung. Zum ersten Mal verzichteten europäische Staaten auf ein Stück Souveränität, um des größeren Ganzen willen
Frieden durch wirtschaftliche Kooperation
Zähe Verhandlungen waren nötig. Am Ende konnte Robert Schuman eine zunächst von sechs Staaten gemeinsam besetzte sogenannte "Hohe Behörde" für die Produktion von Kohle, Eisen und Stahl durchsetzen. Womit er den französischen Wunsch, die deutsche Schwerindustrie unter Kontrolle zu haben, ebenso zufrieden stellte wie die Adenauer-Regierung, die auf Gleichberechtigung beharrte.
"Europa lässt sich nicht mit einem Schlag herstellen."
– so begründete Schuman seine Strategie.
"Es wird durch konkrete Tatsachen entstehen, die zunächst eine Solidarität der Tat schaffen."
Und eine europäische Föderation bilden, die zur Bewahrung des Friedens unerlässlich war. Denn Kohle und Stahl waren die Basis der Rüstungsproduktion; sie wechselseitig und gemeinsam zu kontrollieren, so war Schuman überzeugt, bedeute wirksame Vertrauens- und Friedenspolitik.
"Deutschland ist am gefährlichsten, wenn es auf sich selbst verwiesen ist und so einer zerstörerischen Gärung überlassen wird."
– so argumentierte der Grenzgänger Schuman und warb für die Einbettung eines föderalistisch verfassten Deutschlands in die westeuropäische Politik.
1950 begannen in Paris die Verhandlungen zwischen Frankreich, Deutschland, Italien, den Niederlanden, Belgien und Luxemburg, die nach fast einem Jahr, am 18. April 1951, endlich zur Errichtung der "Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl" führten – zur Montanunion. Glücklich resümierte Robert Schuman:
"Ein dauerhafter und kontrollierter Zusammenschluss der Kohle- und Stahlindustrie nimmt allen teilnehmenden Ländern de facto die Möglichkeit, gegen die anderen Beteiligten einen Krieg zu führen oder vorzubereiten. Denn man führt keinen Krieg, wenn man nicht mehr frei über die Energie und das Metall verfügen kann, die die Grundlagen solcher Unternehmungen darstellen."
Schumanns Idee von Europa
Schon 1949 hatte Schuman einen Entwurf für eine europäische Union ausgearbeitet, mit übernationalen Entscheidungsinstanzen. Das war politisch noch nicht zu bewerkstelligen, nicht nur wegen der Skepsis der Briten, sondern auch wegen der Abneigung der eigenen französischen Regierung, auf nationale Kompetenzen zu verzichten. Schumans hartnäckiger Gegner, der Sozialist Edouard Herriot, setzte sich mit dem Modell des Europarats durch, der auf reine Beratungsfunktionen beschränkt war. Auf Schumans Konto geht allerdings die 1950 von diesem Europarat beschlossene Menschenrechtskonvention, die heute in vierzig Staaten geltendes Recht ist.
Seine christlichen Überzeugungen waren von Anfang an Leitlinie für seine Politik. Aus einem nüchternen, intelligenten Glauben heraus fühlte sich Robert Schuman der Toleranz und einer Brüderlichkeit verpflichtet, die enge Grenzen zu sprengen vermag. So verstand er sich gut mit anderen aufgeschlossenen Christdemokraten, die wie Schuman praktizierende Katholiken waren und in Grenzregionen lebten: Mit dem Italiener Alcide De Gasperi, der aus dem Trentino kam, und mit dem Rheinländer Konrad Adenauer. Im Bewusstsein gemeinsamer religiöser und kultureller Traditionen konnte man die geistigen Grundlagen einer europäischen Union legen. Erst danach kamen die politischen und wirtschaftlichen Details. Robert Schuman stellte klar:
"Es ist nicht verlangt, eine neue Moral zu erfinden. Dem Christen genügt die Moral des Christentums. Was notwendig und neu ist, das ist eine Schule, in der man das praktische zwischenmenschliche Verhalten erlernt, in der die christlichen Prinzipien angewendet werden und sich in den Beziehungen von Mensch zu Mensch bewahrheiten. Es muss begonnen werden, ein günstiges moralisches Klima zu schaffen für die brüderliche Einigung, die über die heutigen Zerrissenheiten hinausgeht."
Von 1958 bis 1960 war Robert Schuman der erste Präsident des Europäischen Parlaments. Oft trat er als Redner auf und warb für seine Visionen, dezent, sachlich argumentierend, aber voll heimlich glühender Leidenschaft. Er war oft schlecht angezogen, wirkte etwas linkisch bei öffentlichen Auftritten und bisweilen skurril, wenn er den Kopf beim Zuhören schief legte. Aber er überzeugte durch präzises Denken, schlagfertige Antworten, herzlichen Humor und eine liebenswürdige Noblesse.
Sein Ministerkollege André Philip gestand einst, es sei die Ausstrahlung inneren Lebens gewesen, die von Schuman ausging, die ihm als erstes aufgefallen sei. Man habe vor einem geweihten Menschen gestanden, der seinen Ehrgeiz abgelegt hatte.
Adenauer: "Dat is ne heilischmäßije Mann!"
Bekannt ist auch das Kompliment des sonst nicht zu großen Gefühlen neigenden deutschen Bundeskanzlers Adenauer, der in seiner heimischen Kölner Mundart staunte: "Dat is ne heilischmäßije Mann!"
Dabei hielt Schuman überhaupt nichts von aufdringlichen Bekehrungsversuchen. Er hatte immer einen Rosenkranz bei sich und ging auch als Premier täglich in die Heilige Messe, den katholischen Gottesdienst. In wichtigen Verhandlungen konnte er "ein Mann von Stahl" sein, wie ihm der amerikanische Außenminister Dean Acheson bescheinigte.
Vor sechzig Jahren – am 4. September 1963 – starb Robert Schuman siebenundsiebzigjährig in Scy-Chazelle bei Metz. Er wurde dort in der Kapelle einer mittelalterlichen Templerkirche beigesetzt. Sein Vermögen ging an etliche Waisenhäuser.
Frankreich lohnte ihm seine Visionen schlecht. Charles de Gaulle blieb dem Begräbnis fern und ließ auch den deutschen Bundeskanzler Adenauer wissen, seine Anwesenheit sei nicht erwünscht. Doch mittlerweile verehren sie ihn in beiden Ländern als geistigen Vater eines neuen Europas.
Auch in der Katholische Kirche ehrt man Schuman. Sein Engagement in der Politik, bei der Versöhnung zwischen Frankreich und Deutschland und für ein geeintes Europa seien nicht zu trennen von seinem tiefen katholischen Glauben. 2004 wurde das Seligsprechungsverfahren auf Diözesanebene in Metz abgeschlossen.
2021 erkannte Papst Franziskus dem Seligsprechungskandidaten den sogenannten heroischen Tugendgrad zu – eine Art Vorstufe zur Seligsprechung.
In der Basilika des rheinischen Wallfahrtsortes Kevelaer gehört Robert Schuman schon seit den siebziger Jahren ganz selbstverständlich zu den bei Gott Vollendeten: Ein farbiges Medaillon im Mittelschiff reiht ihn unter die Väter Europas ein.
Die redaktionelle Verantwortung für die Sendung hat Martin Korden.
Musik:
Thierry Huillet – Rhapsodie sur l'Hymne Européen
Thierry Huillet – Rhapsodie sur l'Hymne Européen
Christophe Guyard – Rhapsodie sur l'Hymne Européen