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75 Jahre NATO – Gott sei Dank? Ein christlicher Blick auf das Bündnis

Am Sonntagmorgen, 11.08.2024

Pfarrer Jochen Reidegeld, Hamburg

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Es war Mitte der 80iger Jahre, als in meiner Heimat ein NATO-Manöver durchgeführt wurde. Ich war damals 15 Jahre alt. Mit einigen Jugendlichen des Ortes besorgte ich Pommes und verkaufte diese an die an unserem Bahnhof wartenden Soldaten. Da kam ich zu einem jungen Engländer, der auf seinem Panzer saß. Er lehnte dankend ab und sagte, dass er kein Geld bei sich habe. Daraufhin nahm ich all meinen Mut zusammen und antwortete ihm auf Englisch: "You don’t have to pay." – "Sie müssen nicht zahlen. Danke, dass Sie uns schützen und unser Land verteidigen."

Mir steht diese Begegnung wohl auch deshalb noch heute so klar vor Augen, weil sie damals einer tiefen Überzeugung entsprang. Für mich war die NATO ohne jeden Zweifel ein Bündnis, das nicht nur mich und mein Land, sondern auch die Freiheit, die Demokratie und die Menschenrechte schützte. Dafür war ich zutiefst dankbar und hatte nicht den geringsten Zweifel daran, dass die NATO ein Wertebündnis ist, das ich als Christ unterstützen kann und als Staatsbürger befürworten soll.

Mein Vertrauen war lange Zeit unerschüttert geblieben, dass wir als westliche, demokratische Gesellschaften - und damit auch die NATO – ohne jeden Zweifel auf der Seiter derer stehen, die das Völkerrecht und die Menschenrechte verteidigen. Als ich aber 2014 zum ersten Mal in den Irak ging, um humanitäre Güter in Flüchtlingslager zu bringen, ist diese Überzeugung großen Fragen und Zweifeln gewichen. Natürlich war es nicht die NATO, die 2003 in den Irak einmarschiert ist, aber es waren führende NATO-Mitglieder, die unter falschem Vorwand diese Region letztendlich destabilisierten. Ich vergesse nicht meine ersten Diskussionen mit einheimischen humanitären Helferinnen und Helfern. Sie fragten mich, nach welchen Bestimmungen des Völkerrechts und unter Achtung welcher Menschenrechte die Invasion damals denn stattgefunden hätte, durch die so viele ihrer Landsleute Leben und Heimat verloren hätten. – Ich hatte darauf keine Antwort und konnte nur beschämt schweigen. So geht es mir bei den Begegnungen vor Ort bis heute.

Diese Frage der Iraker hat mich nicht mehr losgelassen. Und inzwischen beschäftigt mich das Thema „Krieg und Frieden“ sozusagen hauptberuflich. Ich bin wissenschaftlicher Projektleiter am Institut für Theologie und Frieden in Hamburg. Es ist eine Einrichtung, die zum katholischen Militärbischofsamt gehört. Dort setzen wir uns unter anderem mit der Frage auseinander, welche friedensethischen Maßstäbe für militärische Konflikte gelten und ob die christliche Botschaft zur Konfliktlösung beitragen kann. Und damit sind wir schon voll im Thema. Darf es aus christlicher Sicht überhaupt so etwas wie ein Militärbischofsamt geben? Ist irgendein Militärbündnis der Welt aus Sicht der christlichen Botschaft, die doch eine Friedensbotschaft ist, überhaupt zu rechtfertigen? Kann es also einen christlichen Blick auf die NATO geben, der nur ansatzweise positiv ist?

Gerade die Erfahrung des Zweiten Weltkrieges, dass einmal begonnene militärische Gewalt zu einer Entfesselung menschlicher Grausamkeit geführt hat, erzeugt in manchen Kreisen eine generelle Kritik an der NATO als Militärbündnis. Es ist die Position eines entschlossenen Pazifismus. Diese Haltung kann man so zusammenfassen:

"Pazifismus im strikten Sinne bezeichnet eine Grundhaltung, die Gewaltanwendung und insbesondere den Einsatz von Waffen grundsätzlich ablehnt. Auch wenn ein Staat angegriffen wird, Menschen an Leib und Leben bedroht und grundlegende Rechte verletzt werden, ist aus dieser Sicht eine Verteidigung mit militärischen Mitteln unzulässig. Der Pazifismus betont dagegen die Notwendigkeit einer kriegsvermeidenden Arbeit für einen 'gerechten Frieden' und votiert im Konfliktfall für eine 'aktive Gewaltfreiheit'. Damit kann die Verweigerung jeder Art von Zusammenarbeit mit dem Aggressor gemeint sein bis hin zu Formen zivilen Widerstands. Oft wird dabei auf Martin Luther King und Mahatma Gandhi als Vorbilder verwiesen." [1]

Sich mit Gewalt gegen ein Unrecht zu wehren, kann aus Sicht des entschiedenen Pazifisten nie zu etwas Gutem führen. Darum werden militärische Mitte genauso abgelehnt wie jede Art von Militärbündnissen, selbst wenn diese nach eigenem Verständnis defensiver Natur sind. Ein Blick in das Neue Testament der Bibel scheint ihnen recht zu geben. Dort erteilt Jesus der Haltung und dem Instrument der Gewalt eine eindeutige Absage. Die Bergpredigt ist dabei als Herzstück seiner Botschaft zu sehen, mit der Jesus die Dynamik der Gewalt durchbrechen will.

"Und Jesus sagte zu der Menge: Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Auge für Auge und Zahn für Zahn. Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin! Und wenn dich einer vor Gericht bringen will, um dir das Hemd wegzunehmen, dann lass ihm auch den Mantel! Und wenn dich einer zwingen will, eine Meile mit ihm zu gehen, dann geh zwei mit ihm!"

Um es gleich deutlich zu sagen: Mit der nicht selten zu hörenden Interpretation, dass dies ja nicht wörtlich zu nehmen sei und diese Radikalität in der Praxis eben nicht anwendbar, wird man diesem Herzstück der Bergpredigt nicht gerecht – und man macht es sich zu leicht. Jesus geht es darum, der Gewalt im Großen und im Kleinen an der Wurzel entgegenzuwirken. Er will den Automatismus von Gewalt und Gegenwalt unterbrechen. Und doch bleiben berechtigte Fragen.

Als Einzelner kann ich diesen Weg des Verzichts auf jede Gegenwehr leichter verwirklichen, als wenn es um andere oder um ganze Bevölkerungsgruppen geht. Wie verhalte ich mich im Fall eines Angriffskrieges, in dessen Folge Menschen getötet, vertrieben, Opfer einer Gewaltherrschaft werden? Schon seit frühester Zeit setzt sich die Friedensethik mit der Frage auseinander, was dann ethisch und im Sinne der christlichen Botschaft verantwortlich ist.

Es gibt Situationen, in denen als letztes Mittel auch ein militärisches Eingreifen notwendig ist, wobei dies dann nicht jede Form und jedes Ausmaß der Gewalt rechtfertigt. Darum besteht auch eine ethische Rechtfertigung dafür, dass jedes Land – und zwar nur zu seiner Verteidigung – Streitkräfte unterhält. Aus dem gleichen Grund ist auch ein militärisches Eingreifen als letztes Mittel selbst der UNO gerechtfertigt – dann aber ausschließlich nach den strengen Kriterien des Völkerrechts. Damit die Soldatinnen und Soldaten in Einsätzen, die diesen Regeln folgen sollen, nicht alleingelassen werden, macht eine von der Befehlskette unabhängige Militärseelsorge Sinn. In einem solchem Rahmen ist es dann das Militärbischofsamt, das in den schwierigen Abwägungsfragen begleitet und auch eine kritisch hinterfragende Stimme sein will.

Der Militärbischof ist derzeit der Essener Bischof Franz-Josef Overbeck. Im Sinne der Bergpredigt fordert auch er kritische Distanz zu jeder Form der Gewalt ein. Und doch schließt er militärische Gewalt als Mittel zur Erlangung eines gerechten Friedens nicht aus:

"weil das Selbstverteidigungsrecht sowohl von einzelnen Menschen als auch von Staaten nicht befragbar sein darf. Dazu gehört, die Ziele zu bestimmen, mit denen für den Frieden gewirkt wird, wenn denn Gewalt droht. Und wenn je das Ziel ein gutes ist, dann kann das Übel einer Gewaltanwendung nur mit dem Ziel, dass es Frieden gibt, in Kauf genommen werden. Wohlwissend, dass mit jeder Form von Gewaltanwendung Schuld und auch Sünde im Spiel sind."

Diese Klarstellung ist wichtig: Jede Form der Gewalt – auch die ethisch gerechtfertigte – bringt Schuld mit sich. Darum laden jene, die Kriege beginnen ja so eine große Schuld auf sich. Darum ist der Krieg und jede Form der Gewalt ein so großes Unrecht, weil dadurch so großes Leid angereichtet wird und weil Menschen dadurch in die Situation gebracht werden, nur noch zwischen schlimmen Alternativen zu wählen. Und dennoch kann eben für das Ziel, den Frieden wieder herzustellen, Gewalt als letztes Mittel gerechtfertigt sein. Diese nötige Ambivalenz sieht der Militärbischof auch mit der Bibel begründet, die das abendländische Denken und Wertesystem entscheidend geprägt hat

"Das große Erbe des abendländischen Denkens birgt in sich sowohl die Tradition des Judentums und damit auch des Christentums, was wiederum bedeutet, die Bedeutung des Friedens als ein Werk der Gerechtigkeit, wie es der Prophet Jesaja beschreibt, zu reflektieren als auch natürlich den unbedingten Willen Christi selbst, für den Frieden einzutreten, wie man vor allen Dingen an den Seligpreisungen im Matthäus-Evangelium sehen kann, mit in dieses Denken einzuspeisen."

Frieden und Gerechtigkeit – beides nennt die NATO für sich selbst als handlungsleitend: Sie definiert sich als Bündnis, welches ausschließlich der Verteidigung dienen darf. Und sie sieht ihren Auftrag in der Bewahrung und in der Wiederherstellung eines gerechten Friedens und der Herrschaft des Rechts. In ihrem eigenen Verständnis ist die NATO darum nicht nur eine Militärallianz, sondern ein wertegeleitetes Bündnis.
Verteidigt die NATO damit also christliche Werte?

"Ich würde sie als abendländisch bezeichnen und zum Abendland gehört auch das Christentum, aber sie sind ethisch von einer solchen Relevanz aber auch inhaltlichen Bestimmtheit, dass sie auch zum Beispiel im Blick auf Immanuel Kant gelesen werden können und müssen und sich von daher natürlich dem weiten Raum des Christentums verpflichtet wissen, aber doch noch andere Perspektiven einschließen."

Auch Immanuel Kant, der große deutsche Philosoph aus dem 18. Jahrhundert, hat nach ethischen Kriterien gesucht, denen militärische Gewalt zu folgen hat. Dabei hat er eine enge Begrenzung von Gründen und Zielen definiert, die diese rechtfertigen, wie etwa die Beschränkung auf defensive und das Recht wiederherstellende Kriegsziele.

Um zum Anfang der Sendung zurückzukehren – wer hat denn jetzt recht? Der Jugendliche, der dankbar war für den Schutz seiner Freiheit und für den Schutz seiner christlichen Lebensweise? Oder der Erwachsene, der erschreckt war durch einen nicht verantwortbaren und auch durch das Völkerrecht nicht gedeckten Einsatz von Gewalt durch Mitglieder der NATO?

Ich glaube, beide haben recht. Denn eine grundsätzliche Befürwortung der NATO als Bündnis, das einen Raum der Freiheit und des Rechts aufrechterhält – und das ist auch heute noch meine persönliche Auffassung – entbindet nicht von der ständigen kritischen Nachfrage, ob dieses Bündnis in seinem Handeln diesem Anspruch gerecht wird.

Eine Glaubwürdigkeit kann die NATO wieder gewinnen, wenn es im Eintreten für das Recht immer den Vorgaben des Völkerrechtes und der Menschenrechte folgt – auch dann, wenn es den eigenen Interessen auf den ersten Blick zuwiderläuft. Im Sinne einer christlichen Ethik verantwortlich handelt die NATO dann, wenn sie neben den als letztes Mittel notwendigen militärischen Maßnahmen nicht aufhört, parallel nach Wegen einer friedlichen Verständigung zu suchen. Und von besonderer Bedeutung für die Zukunft ist ein Eintreten der Mitgliedsländer der NATO für einen gerechten Frieden. Denn: Eine Hauptursache der Gewalt ist die ungleiche Verteilung der Güter und der Zukunftschancen. Wenn die NATO ein Bündnis des Friedens sein will, besteht ein wesentlicher Auftrag nicht in der Sicherung eigener Güter sondern im Einsatz für deren gerechte Aufteilung.

Ein christlicher Blick auf das Bündnis ist also möglich – nicht in Form einer Heiligung militärischer Gewalt, sondern vielmehr als kritischer und manchmal auch unbequemer Wertekompass. Das kann im Hinblick auf ihr Selbstverständnis nur im Interesse der NATO sein.


Die redaktionelle Verantwortung für die Sendung hat Martin Korden.

Musik:

Steve Reich – Three Movements for Orchestra

Arvo Pärt – Da Pacem Domine

Arvo Pärt – Mein Weg

Philip Glass – String Quartet No.2. IV.

Philip Glass – String Quartet No.2. IV.


[1] https://domberg-akademie.de/blog/blog-detail/frieden-kriegen-sind-unsere-ideale-noch-realistisch

Über den Autor Pfarrer Jochen Reidegeld

Jochen Reidegeld studierte katholische Theologie an der Westfälischen Wilhelms Universität in Münster und an der Eberhard Karls Universität in Tübingen. Nach der Priesterweihe 1996 erwarb 2003 das Lic. iur. can. und promovierte sich im Jahr 2012 mit einer Arbeit zu differenzierten Formen der Gemeindeleitung.

Er war unter anderem stellvertretender Generalvikar des Bistums Münster, Leiter der Hauptabteilung "Zentrale Aufgaben", Ordensreferent und Rundfunkbeauftragter des Bistums Münster, anschließend Kreisdechant in Steinfurt.

Seit dem Jahr 2014 ist Jochen Reidegeld humanitär in Syrien und im Irak aktiv. Einen Schwerpunkt bildet dabei das Shingalgebirge im Norden des Iraks, in dem sich der Genozid an den Eziden ereignete. Mit dem 1.1.2023 begann er als Projektleiter am Institut für Theologie und Frieden.