Newsletter

"Morgenstern der finstern Nacht." Zum 400. Geburtstag des Mystikers Angelus Silesius

Am Sonntagmorgen, 12.01.2025

Christian Feldmann, Regensburg

Beitrag anhören

"Morgenstern der finstern Nacht, Der die Welt voll Freuden macht,

Leucht in meines Herzens Schrein.

Schau, dein Himmel ist in mir,

Er begehrt dich, seine Zier.

Säume nicht, o mein Licht,

Komm, komm, eh der Tag anbricht."

Er war ein Mystiker, ein Träumer, ein zärtlicher Poet durch und durch. Johann Scheffler aus Breslau, der sich später den Künstlernamen Angelus Silesius zulegte, "Engel aus Schlesien". Dieser Johann Scheffler wurde nicht müde, den unfassbaren, so fern erscheinenden Gott als nah und berührbar zu schildern. Sein Gott ist ein leidenschaftlicher Liebhaber, der darauf brennt, in die Menschenseele einzugehen, die sich nach ihm sehnt. Keiner kann ihn fassen, besitzen, manipulieren – aber jeder vermag ihn zu erreichen.

Er muss ein weihnachtlicher Mensch gewesen sein. Man kann ihn sich am besten an der Krippe betend vorstellen, ganz verliebt in das Jesuskind und einfach nur staunend, beglückt staunend über dieses weihnachtliche Geheimnis, dass der große Gott ein kleines Kind wird und in die Geschichte der Menschen eintritt. In ihr ganz alltägliches Leben, in ihre verwundeten Seelen mit ihren Sehnsüchten und Sorgen und Ängsten. Seine schönsten Gedichte und Lieder handeln von diesem bezaubernden Mysterium – und der unerhörten Provokation, die in der Menschwerdung Gottes liegt:

"Komm, schau der Jungfraun Kind, so siehst du in der Wiegen

Den Himmel und die Erd und hundert Welten liegen.“

 

„Ach könnte nur dein Herz zu einer Krippe werden,

Gott würde noch einmal ein Kind auf dieser Erden.

Wird Christus tausendmal in Betlehem geboren

Und nicht in dir, du bleibst noch ewiglich verloren."

Doch der zarte Poet und Mystiker hat auch eine verstörende, unangenehme, ja, aggressive Seite. Nicht wenige seiner Mitbürger hielten ihn für überspannt, manche auch für komplett übergeschnappt. Eine brennende Fackel und ein Kruzifix in den Händen, eine Dornenkrone auf dem Haupt und fromme Lieder singend – mehr laut als schön – so führte er Wallfahrten und Prozessionen an, nach eigener Aussage, um die Lutheraner zu demütigen. "Das kommt davon, wenn ein Medicus zu dichten anfängt!", sagten die Leute.

Dabei stammte dieser im Dezember 1624 in Breslau geborene Johann Scheffler selbst aus einer Protestantenfamilie. Er war ein ausgesprochen talentierter junger Arzt gewesen. Seine Karriere hatte im Jahr 1643 begonnen; da war Scheffler nach Straßburg gegangen, um Medizin und Staatsrecht zu studieren. Zurück in Schlesien, machte er sich schnell einen Namen, und bald holte ihn der Herzog von Oels als Leibarzt an seinen Hof.

Aber Scheffler beschränkte sich nicht auf die Heilkunst. Er schrieb Gedichte und sympathisierte mit einem mystisch angehauchten Christentum, das Gott vor allem im tiefsten Herzensgrund zu erfahren suchte und von Dogmen und konfessionellen Grenzen nicht allzu viel hielt. Im Jahr 1652 kam es zum Eklat: Der Hofmedicus Johann Scheffler trat aus Protest gegen die starre Haltung des in Oels praktizierten Luthertums zum Katholizismus über. Vor allem der herzogliche Hofprediger Christoph Freytag hatte ihm mit seinen kleinlichen Zensurmaßnahmen die Freude am Glauben verleidet. Alles, was nach Herzensreligion klang, war für den Prediger gefährlicher "Enthusiasmus". Unerleuchtete Begeisterung war damit gemeint, eine allzu gefühlsselige Frömmigkeit, die den Glaubenswächtern außer Kontrolle geraten konnte.

Scheffler wollte sich jedoch von keinem vertrockneten Stubengelehrten vorschreiben lassen, wie er mit Gott zu reden habe. Er wurde katholisch, später sogar Priester. Doch dann entwickelte er sich rasch selbst zum Fanatiker, militant, unversöhnlich, bewusst verletzend. Seine Feder benutzte er wie eine Keule. Seine rüden Streitschriften mündeten in die Aufforderung an die Staatsmacht, die lutherischen "Ketzer", die "lästernden Höllenhunde" wie er sie nannte, mit Feuer und Schwert zum rechten Glauben zurück zu zwingen: Was habe ihnen denn dieser Luther gebracht?

Angelus Silesius:

"Nichts als höllische Finsternis! (…) Schaut doch, er hat euch Gott aus dem Herzen reißen wollen, er hat euch Gott wollen unwert und verächtlich machen."

Vielleicht liegen die Wurzeln solch aggressiver Tendenzen in Schefflers Biografie: Mit zwölf Jahren verlor er den Vater, zwei Jahre darauf die Mutter, sein jüngerer Bruder verfiel in geistige Umnachtung. Er wurde von Kaufleuten aufgezogen, Freunden seines Vaters. Das könnte die mystische Sehnsucht seiner späteren Jahre erklären und die Suche nach dem bergenden Hafen, der Kirche, für die er wie ein Löwe kämpfte, als er hier endlich seine Heimat gefunden hatte.

Seine, man kann es kaum anders nennen, Hetzschriften mit ihrer lärmenden, bösartigen, rauflustigen Polemik haben zum Glück nie ganz das zweite Gesicht des Glaubenskämpfers verdunkeln können, und das hat die Zeiten überdauert: das des liebenswürdigen, hintersinnigen Poeten. Von seinen sprachgewaltigen, bildersatten Liedern stehen etliche heute noch in den Gesangbüchern unter seinem Künstlernamen Angelus Silesius, und zwar – späte Geste der Versöhnung – im katholischen "Gotteslob" und im Evangelischen Gesangbuch: "Ich will dich lieben, meine Stärke", "Mir nach, spricht Christus, unser Held", "Ich danke dir für deinen Tod" oder "Auf, auf, o Seel, auf, auf zum Streit!"

Hundert und aberhundert geistreich-fromme Aphorismen hat er geschrieben, treffsicher, prägnant, nachdenklich – unaufdringliche Einladungen zum Meditieren und Beten. Unter dem poetischen Titel "Cherubinischer Wandersmann" sind sie in die Literaturgeschichte des Barocks eingegangen, und sie prangen heute noch auf Wandkalendern und Spruchkarten. Vor allen jene Texte, die mit der Weihnachtsfreude zu tun haben:

Angelus Silesius:

"Lasset uns munter sein, warten und wachen,

Keiner schlafe in Trägheit ein.

Lasset uns alles aufs Herrlichste machen,

Gewiss, ER kann nun nicht ferne mehr sein."

Als Pilgerbuch ist dieses Feuerwerk von Bildern und Einfällen gedacht, als geistige Wegzehrung, die den Menschen auf seiner Lebensreise begleiten soll wie ein Schutzengel. Wer die Sinnsprüche liest und die Lieder singt, soll vor Liebe brennen wie die Cherubim, die biblischen Engelswesen, in der Seligkeit des Himmels.

Silesius übernimmt die Mode der zeitgenössischen Schäferdichtung, der ländlichen, oft frivolen Idylle, aber er gibt ihr natürlich einen neuen, frommen Inhalt: Es geht jetzt um die Liebe zwischen Christus und der Seele. Die Seele als Schäfchen, das der gute Hirte vor den Wölfen rettet.

Ähnlich wie Andreas Gryphius, Paul Gerhardt, Friedrich Spee und wie seine barocken Dichterkollegen alle heißen, verfügt Angelus Silesius über frische Sprachkraft und einen satten Bilderreichtum. Manches übernimmt er von den klassischen Mystikern und von den geistlichen Autoren seiner Epoche. Doch was bei den literarischen Vorbildern oft genug hölzern, lehrbuchhaft klingt, gewinnt bei ihm eine unerhört frische Strahlkraft, hört sich plötzlich witzig, verblüffend, provokant an.

Angelus Silesius:

"O hohe Würdigung!"

heißt es im "Wandersmann":

"Gott springt von seinem Thron

Und setzet mich darauf in seinem lieben Sohn."

Während Schefflers antiprotestantische Bosheiten längst vergessen sind, erfreuen sich Christen aller Bekenntnisse immer noch an seinen Liedern und Geistesblitzen. Denn die Träume der Barockzeit – die Suche nach der Mitte, das Interesse für die Empfindungen der Seele, die mächtige Sehnsucht nach ihrer Einswerdung mit Gott – scheinen zeitlos. Die Gedanken und Lieder des Angelus Silesius führen weg von den oberflächlichen Reizen und Genüssen – nach innen, ins Schweigen, in die Ewigkeit, die schon mitten in der irdischen Zeit berührbar und erlebbar ist. Freilich nur für den, der sich ganz Gott ausliefert in einer unbändigen Sehnsucht und Leidenschaft. Wie die Menschenseele in seinem wohl berühmtesten Lied:

"Ich will dich lieben, meine Stärke,

Ich will dich lieben, meine Zier,

Ich will dich lieben mit dem Werke

Und immerwährender Begier.

Ich will dich lieben, schönstes Licht,

Bis mir das Herze bricht."

Aber sie ist auch eine Welt des schönen Scheins gewesen, die Kultur des Barock, hektisch, pompös, ein wenig großsprecherisch, voll krasser Gegensätze: Todessehnsucht und wilde Lebenslust, Hexenjagd und Aufklärung, frivole Tändelei und himmelstürmende Mystik, Diesseits und Jenseits. Auch Silesius ist ein Zerrissener geblieben.

"Die Welt ist ein wunderschönes Nichts"

schrieb er einem Freund ins Poesiealbum. Luther nennt er einen "Luzifer". Und seine heute noch bekannte Ermunterung zur Christusnachfolge "Mir nach, spricht Christus, unser Held" war damals als Schlachtruf gedacht, die wahre Kirche zum Sieg zu führen und die Glaubensabweichler zur Räson zu bringen.

Angelus Silesius:

"Mir nach, spricht Christus, unser Held,

Mir nach, ihr Christen alle,

Verleugnet euch, verlasst die Welt,

Folgt meinem Ruf und Schalle.

Nehmt euer Kreuz und Ungemach

Auf euch, folgt meinem Wandel nach.

(…) Fällts euch zu schwer? Ich geh voran,

Ich steh euch an der Seite.

Ich kämpfe selbst, ich brech die Bahn,

Bin alles in dem Streite.

Ein böser Knecht, der still darf stehn,

Sieht er voran den Feldherrn gehn."

Angelus Silesius hat wohl an den anderen und an sich selbst gelitten. Derselbe geifernde Hasspoet, der sich an der vermuteten ewigen Höllenpein der Lutherischen ergötzt, verschenkt sein ganzes Vermögen nach und nach an die Armen, sorgt für die Ausbildung von Waisenkindern, rettet in Not geratene Familienväter vor dem Schuldturm, kuriert als Medicus mittellose Patienten ohne Honorar, führt als Priester sensible seelsorgliche Gespräche auch mit Protestanten und Freigeistern. Man wird nicht völlig schlau aus dieser vielschichtigen Künstlerseele.

Mystiker lieben das Paradoxe, und Barockmenschen tun das ganz besonders. Gott und Mensch sind unlösbar aufeinander verwiesen. Wie Angelus Silesius das ausdrückt, ist theologisch nicht gerade korrekt:

"Ich weiß, dass ohne mich Gott nicht ein Nu kann leben;

Werd ich zunicht, er muss von Not den Geist aufgeben.

Dass Gott so selig ist und lebet ohn Verlangen,

hat er sowohl von mir, als ich von ihm empfangen."

Eine maßlose Übertreibung. Und doch vermögen die knappen Zeilen zu erschüttern. Vielleicht haben sie manchen Leser auf die Knie gezwungen: Liebt Gott die Menschen so sehr, dass er mich armseligen Erdenwurm zu seinem Glück braucht? Wenn ihm mein Leben so unerhört wichtig ist, darf ich es dann vergeuden?

Als Angelus Silesius 1677 starb, im Alter von 52 Jahren, gab es genug Menschen, die ehrlich um ihn trauerten.


Die redaktionelle Verantwortung für die Sendung hat Martin Korden.

Musik:

Georg Joseph – Morgenstern der Finstern Nacht

Vogler/Canino – 12 Variations in G Major

Orgelmusik zu "Ich will dich lieben"

Tom Howe – Fireflies

Über den Autor Christian Feldmann

Christian Feldmann, Theologe, Buch- und Rundfunkautor, wurde 1950 in Regensburg geboren, wo er Theologie (u. a. bei Joseph Ratzinger) und Soziologie studierte. Zunächst arbeitete er als freier Journalist und Korrespondent,  u. a. für die Süddeutsche Zeitung. Er produzierte zahlreiche Features für Rundfunkanstalten in Deutschland und der Schweiz und arbeitete am "Credo"-Projekt des Bayerischen Fernsehens mit. In letzter Zeit befasste er sich mit religionswissenschaftlichen und zeitgeschichtlichen Themen in der Sparte "radioWissen" beim Bayerischen Rundfunk. Zudem hat er über 50 Bücher publiziert. Dabei portraitiert er besonders gern klassische Heilige und fromme Querköpfe aus Christentum und Judentum. Feldmann lebt und arbeitet in Regensburg.