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"Der erloschene Himmel": Marie Noel und die Nacht des Glaubens

Am Sonntagmorgen, 12.02.2023

Monsignore Stephan Wahl, Jerusalem

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Die französische Dichterin Marie Noel wird auch als „Abenteuerin des Glaubens“ beschrieben. In Deutschland ist due Französin etwas unbekannt. Ihre Auseinandersetzungen mit dem Glauben aber zeugen von einer tiefen Suche nach Gott und der Wahrheit.
„Was kann bei erloschenem Himmel ein Körper ohne Seele tun? Nichts außer sich erinnern. Sich erinnern an Christus, den er gesehen hat, und da auf der alten Liebe einschlafen, mit den gefalteten und vertrauenden Händen der alten Gewohnheiten, mit der durch Gebete abgenützten Zunge. Und im Einschlafen wiederholen: Amen.

Ein Zitat aus den Tagebüchern der französischen Dichterin Marie Noel. Diese „Notes intimes“, so der Titel des französischen Originals, sind Aufzeichnungen aus den Jahren 1920 bis1958 und zeugen von Marie Noels innerem Kampf um die Wahrheit und ihr leidenschaftliches Ringen mit Gott.

Einfachen und schnellen Antworten misstraut sie, stellt vieles fest Geglaubte in Frage, sucht nicht Zufriedenheit in vorschnellen Lösungen. Wortgewaltig, poetisch und mit bewegenden Bildern berichtet sie schonungslos ehrlich über ihren Glaubensweg, der die Freude und die Kraft des Glaubens ebenso kennt wie die dunkle Glaubensnacht, „den erloschenen Himmel“.

Marie Noel und Judas Iskariot

In Deutschland fast unbekannt gehört Marie Noel im französischen Sprachraum mit ihrer Lyrik zu den bedeutenden Dichterinnen des 20. Jahrhunderts. Geboren wurde sie am 16. Februar 1883 in der burgundischen Kleinstadt Auxerre. In diesen Tagen vor genau 140 Jahren. Ihr bürgerlicher Name war Marie Rouget.

Das Pseudonym Noel – das übersetzt Weihnachten bedeutet – gab sie sich später in Erinnerung an ihren jüngeren Bruder, der an einem Heiligabend starb, und dem sie sehr verbunden war. Marie Noels Vater war Gymnasiallehrer für Philosophie und Kunstgeschichte.

Durch ihn wurde die junge Marie sehr früh mit den klassischen Dramen der Griechen, den philosophischen Werken Platons und den großen Werken der Weltliteratur vertraut gemacht und: mit dem Alten und dem Neuen Testament, auch wenn die Familie nicht sonderlich religiös war.

Wie intensiv die kleine Marie Erzählungen aus der Schrift erlebte und sich damit befasste, davon zeugt eine Eintragung in den Notes intimes, mit der sie sich an ein Erlebnis in der Kindheit erinnert:

„Mit zehn oder elf Jahren, erinnere ich mich, wurde ich plötzlich durch die entsetzliche Ungerechtigkeit im Schicksal des Judas in Schrecken versetzt. (...) Judas: gezwungen zu verraten, um die Schrift zu erfüllen. Wir waren in der Familie beim Mittagessen, als das Wort des Evangeliums mir wie ein schwarzer Blitz durch den Kopf schoss. “Es ist notwendig, dass das Ärgernis kommt, aber wehe dem…“ Ich schob meinen Teller zurück. Ich sehe noch, was drauf war: Fisch mit Kaperntunke, das war gut. Aber ich habe an dem Tag nicht weiteressen können. Ich bin sofort mit meiner großen Schwierigkeit zur Großmutter gelaufen - meinem Theologen von damals: Judas zum Bösen gezwungen, Judas notwendig, Gott ungerecht. Ich konnte damit nicht leben. Aber Großmutter wurde davon überhaupt nicht berührt: 'Lass das doch, das sind nicht unsere Angelegenheiten. Das sind Gottes Angelegenheiten. Er wird damit fertig.' Ach, was für eine gute und erleuchtete Großmutter ich hatte! Wie nötig hatte ich sie, als ich klein war, um mich jedesmal, wenn ich kopfüber in den Abgrund gefallen war, wieder herausfischen zu lassen.

Fremd in ihrer Welt

Marie Noel lebte bis zu ihrem Tod 1967 in Auxerre. Die kleinbürgerliche Enge stand im Widerspruch zu ihrem Freiheitsdrang; die äußeren Lebensumstände entsprachen nicht ihrer Natur und Persönlichkeit. Trotzdem fügte sie sich ein und führte ein äußerlich unscheinbares Leben. Ihr Alltag bestand in der Verwaltung des Familienerbes, einiger baufälliger Mietshäuser.

Sie betreute alte und pflegebedürftige Verwandte, übernahm Aufgaben in der Pfarrgemeinde, kümmerte sich um die Erneuerung des liturgischen Gesangs und gab Religionsunterricht. Von Zeitgenossen wird sie als heitere und großzügige Person beschrieben. Dazu passt, dass sie Patenschaften für Kinder aus zerrütteten Familien übernahm.

Ihr Leben in der Abgeschiedenheit der Provinz war wenig aufregend, nach außen schien sie angepasst, eingeengt in ihre Familie, von der sie sich zeitlebens nicht verstanden fühlte. Im Schreiben tauchte sie in eine andere Welt, die mit der real Erlebten nur wenig zu tun hatte:

„Die traditionelle Familie der Provinz besteht aus Leuten, die - besonders die Frauen - ohne Unterlass zusammentreffen. Da immer dieselben zu den Feierlichkeiten erscheinen, treffen sie sich stets zuverlässig fröhlich am Neujahrsmorgen und stets zuverlässig traurig zu Allerheiligen. Alle versammeln sich festlich gekleidet im Hause der Braut, und alle eilen zur gleichen Zeit zum 'Trauerhaus', um dem 'Toten die letzte Ehre zu erweisen' und ihr Beileid auszusprechen. In der Zeit dazwischen überwachen sie sich - vor allem die Frauen - sind eifersüchtig aufeinander, bringen sich gegenseitig in Verlegenheit, beurteilen, messen, prüfen sich, ohne das rechte Maß zu finden. So miteinander verwandt, durchwühlen sie beim Betreten des Hauses der anderen den Wandschrank mit gaffenden Blicken, kundschaften den Geruch in der Küche aus, würden gar - wenn sie es könnten - unter deinen Röcken nachsehen und unter deinen Nägeln, um sich über deine Neuigkeiten zu informieren. Diese Verwandten, ob wohlwollend oder nicht, helfen als gute Verbündete bei Anlässen wie öffentlichen Unglücksfällen, Sterbefällen, Geburten, Unfällen, Krankheiten. Da aber keine von ihnen die andere in ihrem Innersten kennt (…), stehen sie im Falle ernsthafter Krisen, in den geheimnisvollen Stunden des wirklichen Unglücks, mit leeren Händen da. Sie sind nur da, wo sie dem Schmerz eine Maske, ein Schweigen, eine gute Haltung aufnötigen können.

Diese bissige, mit spitzer Feder geschriebene Charakterisierung ihrer Umwelt zeigt, wie fremd sich Marie Noel in ihrer heimatlichen Umgebung fühlte. Und doch bleibt sie rätselhafterweise fest mit ihr verbunden. Ihre Sehnsucht, ihr inneres Ringen verbirgt sie vor der Öffentlichkeit.

Auf der Suche nach dem Willen Gottes

In ihren Notizen, ihren Notes intimes, hält sie aber alles fest, was sie bewegt. Auch den Blick auf sich, ihre Lebenssituation und dem Durst nach Freiheit. Das alles auch mit einer Mischung von Ernst und Augenzwinkern:

„Wenn ich ein Tier wäre, möchte ich kein Tier im Hause oder auf dem Bauernhof sein, weder eine Ziege, die man an den Pfahl bindet, noch eins von diesen Hühnern im Wirtschaftshof. Nein, nein, da wäre ich lieber Hase oder Fuchs oder Hirschkuh oder Nachtigall, die dem Menschen nur an dem Tage begegnen, da er sie tötet. Und doch werde ich mein ganzes Leben lang eines der zahmsten Haustiere sein, ein Lasttier, ein Kettenhund, ein Kanarienvogel im Käfig. Oder Suppengemüse. Das wird der Wille Gottes gewesen sein.

Der Wille Gottes. Ihn zu vermuten, ihn zu erkennen, sich mit ihm auseinanderzusetzen, dies wurde für Marie Noel zum Lebensthema. Auch und gerade da, wo ihr Leben Wendungen nahm, die sie sich nicht gewünscht hatte. Die härteste: Der Mann, der ihre große Liebe war, und mit dem sie hoffte, ihr Leben zu teilen, heiratete ihre eigene Schwester. Marie Noel blieb zeitlebens allein und unverheiratet. Kaum jemand in Auxerre wird bemerkt haben, welchen inneren Kämpfen die freundlich und heiter wirkende Mademoiselle Noel ausgeliefert war.

Abenteurerin des Glaubens

Der Pariser Künstlerseelsorger Abbé Mugnier ermunterte sie, diese Erfahrungen schriftlich festzuhalten. So entstanden die Notes Intimes, meist kurze Gedankensplitter, nicht immer mit einem Datum versehen. Manche in faszinierender Prägnanz. So zum Beispiel ihre Definition der Göttlichen Dreifaltigkeit:

„Der Dreifaltige: der Einzige – ohne Einsamkeit.

In sehr vielen Texten spürt man den Einfluss mystischer Tradition. Nicht immer hatte Marie Noel das Gefühl, von Gott gehalten zu sein. Wie manche Mystiker vor ihr erlebte und durchlebte sie Zeiten der erfahrenen Gottesferne. Und hielt sie aus. Der prägnanteste Text dazu wurde teilweise schon zu Beginn rezitiert. Hier noch einmal der Text mit dem dazugehörigen Vorspann: in einer nuancenhaft - aber nicht verfälschenden – anderen Übersetzung:

„Es gibt Tage, an denen ich bedrückt, träge, gewöhnlich, irdisch bin, unfähig das Unsichtbare zu berühren. (…) Dann kann ich eine Katze oder einen Hund lieben, aber nicht Gott, die Heilige Jungfrau, die Heiligen und die Engel. Ich kann sie mir nicht vorstellen. Denn es ist sehr mühsam und anstrengend, Gott zu denken und alles, was für die Sinne nicht existiert, und treu das zu betrachten, was man nicht sieht, auf das zu hören, was man nicht vernimmt, das zu lieben, was nur in der Seele existiert, die jetzt leer ist. Hat sie sich beruhigt, entzündet sich allmählich wieder ein schwacher Schimmer und belebt den Geist neu. Aber wird er sich immer wieder neu entzünden? Wird nicht am Ende die schwarze Müdigkeit bleiben, von der er sich nicht mehr erholt? Was vermag ein Körper ohne Seele, wenn der ganze Himmel erloschen ist. Er kann sich nur noch erinnern. Nur noch an Christus erinnern, den er einst gesehen hat und auf seiner alten Liebe einschlafen, mit gefalteten Händen, und auf die alten Gewohnheiten vertrauend, mit einem Mund, der von all den Gebeten schon ganz abgenutzt ist. Und beim Einschlafen wiederholen. Amen. So sei es.

Die Aufzeichnungen von Marie Noel geben Zeugnis von einer leidenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Glauben, mit Gott selbst. Franziska Knapp schreibt dazu im Vorwort zur deutschen Ausgabe der Notes intimes:

„Sie war überzeugt, dass der Mensch erfüllt ist von einem Hunger und einem Durst, den nur Gott stillen kann. Eine Seele zu haben heißt, dem Wehen Gottes in sich immer mehr Raum zu geben - einem Wehen, welches nicht immer inneren Frieden verheißt. Marie Noel ist dieses Abenteuer des Glaubens eingegangen.

Lassen wir sie noch einmal selbst zu Wort kommen:

„Wege. Wer will zu Gott aufsteigen? Alle Wege sind gut. Einige haben den Glauben der Schritte und der Augen, die einfältige und hübsche Frömmigkeit der Sinne. Sie wallfahren zu den großen heiligen Stätten und bringen von dort Souvenirs mit. Andere stimmen voll Inbrunst in die lang gedehnten Töne des Harmoniums ein, sie genießen die zarten Lieder mit einer Zweitstimme während der Terz. Die einen wie die anderen fühlen und träumen. Sie nennen Jesus ihren Geliebten. Sie bleiben mit Wonne am Abend mit gefalteten Händen und geschlossenen Augen im Halbschatten der Kirchen zurück. Andere, weniger gefühlsbetont, weniger glücklich, machen sich auf zu Gott durch bloßes Denken. Ihr Gebet fertigt keine Bilder an. Es steigt direkt, steil zu Gott auf, selbst ohne Ihn zu schauen. Manchmal verurteilen die Frommen sie als gottlos. Und manchmal könnten auch sie in Versuchung geraten, die einfachen Leute für Dummköpfe zu halten. Mögen sie sich davor hüten! Gott ist in allen. Er hat Wege für alle gemacht, für die Füße - sogar für die Pfoten - und für die Flügel. Erdverbundene Pfade, gesäumt von Blumen und Dornen, von Brombeeren und Walderdbeeren für die lieben kleinen Seelen, und den freien, Schwindel erregenden Himmel, wohin sich die hoch auffliegenden Seelen wagen, um in der Weite und im Entsetzen der unendlichen Räume zu schweben. Er hat Wege für alle Stunden gemacht. Wenn die großen Vögel erschöpft sind, lässt ein Ast sie zur Ruhe kommen, lindert eine Blume ihren Schmerz, wiegt sie sanft ein Lied. Wenn die Gebete sich ängstigen, sich verloren glauben, beruhigt sie der Schein einer Kerze.

Die Wahrheit dazwischen

„Gottesnähe. Wenn ich auf den höchsten Berg meines Ich hinaufsteige, wenn ich versuche, mich dort zu halten, ohne Erde, ohne Luft, ohne Augen, ohne Ohren, ohne Füße noch Hände, ohne Leben, auf der äußersten Spitze meiner Seele, werde ich mich dann Gott genähert haben? Auf welchen Baum steigen, um den Himmel zu berühren? Für die Begegnung Gottes mit dem Menschen steigt der Mensch vergeblich. Gott steigt herab. Er steigt nicht viel tiefer zum Sünder als zum Gerechten.

Marie Noel, eine wortbegabte Frau, die Tür an Tür mit Gott lebte, der ihr das ganze Spektrum von Licht und Dunkel, Gottnähe und Gottesferne zumutete. Gott ganz zu erkennen ist für den Menschen auf Erden unmöglich, so wie die Augen das volle Sonnenlicht nicht aushalten können. Manchmal liegt die Wahrheit dazwischen. Und so schreibt Marie Noel:

„Gott hat, als er das Licht erschuf, den Schatten erschaffen. Der Schatten ist die Barmherzigkeit des Lichtes, das sich mildert, um das Geschöpf zu schonen.

Die redaktionelle Verantwortung für die Sendung hat Martin Korden.

Über den Autor Monsignore Stephan Wahl

Monsignore Stephan Wahl, geboren in Bonn und aufgewachsen in Kripp (Kreis Ahrweiler) ist Priester des Bistums Trier und lebt und arbeitet seit 2018 in Jerusalem. Der langjährige "Wort-zum-Sonntag Sprecher" ist Autor zahlreicher Hörfunkbeiträge und Bücher.

Kontakt: stephanwahl@posteo.de