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Das umstrittene Pontifikat. 10 Jahre Papst Franziskus

Am Sonntagmorgen, 12.03.2023

Benjamin Leven, Würzburg

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In diesen Tagen jährt sich die Wahl des Argentiniers Jorge Bergoglio zum Papst zum 10. Mal. Am Abend des 13. März 2013 trat er als Franziskus zum ersten Mal vor die begeisterte Menge.

"Buona sera."

Schon nach seinen ersten öffentlichen Auftritten stand für die meisten Beobachter fest: Dieser Papst ist ein Reformer, er will die katholische Kirche modernisieren. Der als Kirchenrebell geltende Theologe Hans Küng, dem 1979 die kirchliche Lehrerlaubnis entzogen worden war, schrieb 2015:

"Papst Franziskus steuert immer offenkundiger, anders als seine beiden Vorgänger, keinen Restaurations-, sondern einen Innovationskurs. (…) Sicher ist: Wenn dieser Papst eine umgehende Reform der Kirche bewirken will, so gewiss nicht im Alleingang. Er braucht auf seinem Reformkurs unbedingt die Unterstützung vieler."

Franziskus hat dieses Image bewusst gepflegt und immer wieder entsprechende Erwartungen befeuert. In seinen Predigten und Ansprachen bemüht er regelmäßig eine Rhetorik des Aufbruchs und der Erneuerung.

"Die Evangelien stellen uns Jesus oft ‚auf dem Weg‘ vor, wie er den Weg des Menschen begleitet und den Fragen zuhört, die dessen Herz beschäftigen und bewegen. Sind wir bereit, uns auf das Abenteuer des Weges einzulassen, oder flüchten wir uns aus Angst vor dem Unbekannten lieber in die Ausreden ‚das ist nicht nötig‘ oder ‚das hat man schon immer so gemacht‘? (…) Mögen wir Pilger sein, die das Evangelium lieben und offen sind für die Überraschungen des Geistes."

Die Worte stammen aus einer Predigt im Oktober 2021 zum Start des Synodalen Prozesses der Katholischen Kirche. Über vier Jahre sollen Gläubige aus der ganzen Welt gemeinsam mit den Bischöfen darüber beraten, wie die katholische Kirche partizipativer und integrativer werden kann.

Das ist dem Papst wichtig: Beratung und Austausch auf allen Ebenen der Kirche. Immer wieder spricht er von Synodalität. Dabei ist für ihn klar: Nach der gemeinsamen Beratung kommt die Entscheidung. Und die steht am Ende allein ihm zu.

Debatte ja, Veränderung nein?

Viele haben inzwischen den Eindruck: Unter Franziskus darf zwar über alles gesprochen werden. Wenn dann aber Entscheidungen anstehen, schreckt der Papst vor einschneidenden Veränderungen zurück. Kaum eine Episode des Pontifikats zeigt das besser als die so genannte Amazonas-Synode.

Im Oktober 2019 trafen sich Bischöfe im Vatikan, um über die Lage der katholischen Kirche im Amazonas-Gebiet zu beraten. Die Region ist dünn besiedelt, Katholiken leben zum Teil verstreut in weit auseinanderliegenden Gemeinden. Es herrscht Priestermangel. Bei der Versammlung diskutierte man Lösungen: Könnte man nicht Ausnahmen vom Zölibat machen, also die Priesterweihe verheirateter Männer unter gewissen Umständen erlauben? Und wäre es nicht möglich, Frauen wenigstens die Weihe zum Diakon zu ermöglichen?

Tatsächlich sprach sich eine Mehrheit der Teilnehmer für eine Priesterweihe von Verheirateten aus. Im Vorfeld war von vielen erwartet worden, dass Franziskus auf diese Gelegenheit nur gewartet hatte, um Änderungen in der Kirchendisziplin durchzusetzen.

Doch als im Februar 2020 das von Franziskus verfasste Abschlussschreiben zur Amazonas-Synode erschien, fand sich darin kein Wort zum Zölibat. Und was die Zulassung von Frauen zu den Weiheämtern betrifft, formulierte Franziskus sogar eine ausdrückliche Absage. Der Papst wiederholte die katholische Lehre, der zufolge der Priester ein Mann sein muss, weil er Christus repräsentiert, der gemäß biblischer Symbolik als Bräutigam des Gottesvolkes gilt.

Im Reformflügel hat sich Ernüchterung breitgemacht. Denn die Amazonas-Synode blieb nicht der einzige Fall, in dem Franziskus in deren Wahrnehmung erst links geblinkt hat und dann rechts abgebogen ist.

Der Papst zeigt sich als Anhänger der Ökumene – und lässt im Jahr 2020 Ideen aus Deutschland eine Absage erteilen, die wechselseitige Teilnahme von Protestanten und Katholiken am Abendmahl bzw. der Eucharistie zu ermöglichen. Der Papst warnt vor Klerikalismus – und lässt im gleichen Jahr verbieten, dass Laien Pfarreien leiten. Der Papst fordert dazu auf, Homosexuelle zu akzeptieren und seelsorgerlich zu begleiten – und erklärt im Jahr 2021 die Segnung homosexueller Paare für unzulässig. Links blinken, rechts abbiegen?

Zwischen Trennungsangst und Reformdruck

Doch es stimmt auch: Bei bestimmten Aspekten hat Papst Franziskus für mehr Flexibilität gesorgt. Er hat mehr Möglichkeiten für seelsorgerische Einzelfallentscheidungen eröffnet. Etwa bei der Frage des Kommunionempfangs von wiederverheirateten Geschiedenen, der Franziskus 2016 eine inzwischen berühmt gewordene Fußnote in seinem Familienschreiben „Amoris Laetitia“ widmete. Aber an den katholischen Grundsätzen will Papst Franziskus scheinbar doch nicht rütteln.

Anders als die Mehrheit seiner Glaubensgenossen in Deutschland. Beim Synodalen Weg, einem seit 2019 laufenden Gesprächsformat von Deutscher Bischofskonferenz und dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken, werden grundstürzende Reformen diskutiert. Gefordert wird eine neue Sexualmoral, neue Macht- und Ämterstrukturen, der Abschied vom Zölibat sowie ein Zugang von Frauen zu kirchlichen Ämtern.

Nichts davon dürfte unter diesem Papst Aussicht auf Erfolg haben. Und auch in anderen Teilen der katholischen Welt gibt es wenig Verständnis dafür: In Polen oder in den USA sprechen manche Bischöfe schon von einem Schisma, einer Kirchenspaltung, die von Deutschland auszugehen drohe.

Die deutschen Reformer verstehen ihre Anliegen als einzig mögliche Antwort auf den Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche. Sie meinen: Die strenge katholische Sexualmoral, der Priesterzölibat und traditionelle Hierarchien hätten den sexuellen Missbrauch durch Kleriker mindestens begünstigt. Konservative Kirchenleute und auch maßgebliche Stimmen im Vatikan halten das für vorgeschoben, sprechen gar von einem "Missbrauch des Missbrauchs". So sagte der kanadische Kurienkardinal Marc Ouellet bei einem Besuch der deutschen Bischöfe in Rom im vergangenen November:

"Es ist (…) auffällig, dass die Agenda einer begrenzten Gruppe von Theologen von vor einigen Jahrzehnten plötzlich zum Mehrheitsvorschlag des deutschen Episkopats geworden ist. (…) Es fällt schwer, sich des Eindrucks zu erwehren, dass die äußerst gravierende Angelegenheit der Missbrauchsfälle ausgenutzt wurde, um andere Ideen durchzusetzen, die nicht unmittelbar damit zusammenhängen."

Man könnte nun meinen, dass Franziskus inzwischen der Liebling der Konservativen sein müsste, die zwar in Deutschland in der Minderheit sind, im Weltkatholizismus aber wohl die Mehrheit bilden. Doch die fremdeln mit dem Papst. Sie vermissen die Eindeutigkeit in seinen Aussagen. Sie ärgern sich, dass er konservative Kurienkardinäle wie den Deutschen Gerhard Ludwig Müller oder den US-Amerikaner Raymond Burke kaltgestellt hat.

Und der Papst fremdelt mit ihnen. In unzähligen Predigten hat Franziskus diejenigen Katholiken kritisiert, die in seinen Augen zu sehr der Vergangenheit verhaftet sind. Er nannte sie: rigide, frömmlerisch, dogmatistisch oder formalistisch.

Der Tradition folgen oder Traditionalist sein

Ein besonderer Dorn im Auge scheinen dem Papst die Freunde der alten Liturgie zu sein – also die Gläubigen und Priester, die die überlieferten Riten und Zeremonien in lateinischer Sprache bevorzugen. Sie feiern den Gottesdienst so, wie er vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil üblich war, also vor den Reformen der 1960er Jahre.

Papst Benedikt XVI. hatte den Gebrauch dieser traditionellen Gottesdienstformen 2007 weitgehend wieder freigegeben. Deren Anhängerschaft ist nicht überwältigend groß, aber sie besteht aus hochengagierten Katholiken, die in einer Welt, in der der Glaube nicht mehr selbstverständlich ist, an ihren religiösen Überzeugungen festhalten möchten. Vor allen in den USA und Frankreich sind sie ein nicht zu vernachlässigender Faktor im kirchlichen Leben.

Die normalen katholischen Gottesdienste erscheinen diesen Katholiken oftmals als zu wortlastig, zu zeitgeistig, zu profan. Die alte Liturgie ist für sie so etwas wie die historische Aufführungspraxis des katholischen Gottesdienstes: authentisch und ursprünglich.

Papst Franziskus kann mit diesen Tendenzen nichts anfangen. Bei einer Ansprache vor italienischen Liturgiewissenschaftlern sagte er 2021:

"Es gibt einen Geist, der nicht der der wahren Tradition ist: der weltliche Geist der Rückwärtsgewandtheit, der heute in Mode ist: zu denken, dass zu den Wurzeln zu gehen bedeutet, rückwärts zu gehen. Es gibt viele im Bereich der Liturgie, die sagen, dass sie der Tradition folgen, aber das tun sie nicht: Sie sind höchstens Traditionalisten."

Im gleichen Jahr erließ der Papst strenge Regeln zum alten Ritus, die den Eindruck erwecken, als sollte eine sich ausbreitende Seuche eingedämmt werden. Manche Beobachter vermuten: Dass der Papst so rigoros vorgeht, liege daran, dass seine schrillsten innerkirchlichen Kritiker auf konservativer Seite Anhänger des alten Ritus sind. Sie bezeichnen ihn als Modernisten und Häretiker.

Eine Generationenfrage

Jorge Bergoglio wurde 1936 geboren. Als er Mitte Zwanzig war, begann in Rom das Zweite Vatikanische Konzil. Die große Kirchenversammlung wollte den Katholizismus aus der Wagenburg herausführen, in die er sich über mehr als hundert Jahre zurückgezogen hatte. Das Konzil wollte selbstbewusst den Dialog mit der modernen Welt aufnehmen. Mitte Zwanzig – das ist eine prägende Phase im Leben eines jeden Menschen. So müssen dem Papst die Anhänger der Alten Liturgie wie Konterrevolutionäre vorkommen, die die Errungenschaften von damals in Frage stellen.

Heute ist der Papst 86 Jahre alt. Auf die identitätspolitischen und emanzipatorischen Anliegen der letzten Jahrzehnte reagiert er mit pastoralem Entgegenkommen, geht aber auf die Forderungen nach radikaler Gleichstellung nicht ein: Natürlich sollen Homosexuelle nicht ausgegrenzt und verurteilt werden. Aber die kirchliche Lehre so neu zu interpretieren, dass sie einen kirchlichen Segen für ihre Verbindung erhalten oder gar heiraten können, das kann sich Franziskus wohl nicht vorstellen. Und von Dingen wie Polyamorie oder offenen Beziehungen will das Kirchenoberhaupt wahrscheinlich ohnehin nichts wissen.

Anders die deutschen Bischöfe aus der Generation der Babyboomer. Sie sind in einer Kirche sozialisiert worden, die stets in möglichst enger Abstimmung mit dem Staat und der Gesellschaft gehandelt hat. Sie meinen, dass es mit kosmetischen Änderungen und pastoralen Zugeständnissen nicht getan ist und verspüren stark die Notwendigkeit, gesellschaftliche und kulturelle Veränderungen zu rezipieren. Die Kirche soll nicht ins Abseits geraten. Immerhin ist sie die größte Arbeitgeberin in Deutschland, Trägerin zahlreicher sozialer Dienstleistungen.

Papst Franziskus hat vor allem zu Beginn seines Pontifikats viel von Dezentralisierung gesprochen. Und er will mehr Beteiligung aller Gläubigen an der Entwicklung der Kirche. Aber inzwischen sieht er, dass die Fliehkräfte größer werden. Er versucht darum, das Tempo zu bestimmen, will Vorpreschen, aber auch Rückschritte unterbinden.

Was für einen Kurs die Weltkirche in Zukunft einschlägt, das wird stark davon abhängen, welcher Kardinal irgendwann einmal zu seinem Nachfolger gewählt wird.


Die redaktionelle Verantwortung für die Sendung hat Martin Korden.

Musik:

Philip Glass - Facades

Philip Glass – Morning Passages

David Gomez – Goodbye

Über den Autor Benjamin Leven

Benjamin Leven, Dr. phil. (geb. 1981), Studium der Katholischen Theologie sowie der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft in Berlin, Rom und Utrecht. 2014 Promotion in Würzburg. Von 2013 bis 2015 Chefredakteur der Zeitschriften Gottesdienst und praxis gottesdienst in Trier. Seit Oktober 2015 Redakteur der Herder Korrespondenz in Berlin und Rom.