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Muss die Geschichte neu geschrieben werden? Die Archivöffnung zu Papst Pius XII.

Am Sonntagmorgen, 12.05.2024

von Ulrich Nersinger, Eschweiler

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"Papst Pius XII. ist gestorben. Der geachtetste und verehrteste Mensch dieses Jahrhunderts und einer der größten Päpste der Kirche, ist heute in die Ewigkeit eingegangen."

Mit diesen Worten vermeldete Radio Vatikan am 9. Oktober 1958 gegen 4.00 Uhr in der Früh den Tod von Pius XII., der seit 1939 das Oberhaupt der Katholischen Kirche war. In der Ewigen Stadt spricht das beim Hl. Stuhl akkreditierte Diplomatische Korps dem Kardinalskollegium seine Anteilnahme aus und bezeichnet Papst Pius XII. als den,

"...den wir als den Größten unserer Zeitgenossen verehren und schätzen."

Die Trauer ist groß. Beileidsbekundungen treffen aus aller Welt ein. Auch aus Israel. Von dort schreibt Außenministerin Golda Meir diese Zeilen an den Vatikan:

"Als während der zehn Jahre des nationalsozialistischen Terrors das furchtbarste Martyrium unser Volk traf, da hat sich die Stimme dieses Papstes zugunsten der Opfer erhoben."

Noch am Todestag Pius’ XII. bekennt der damalige Oberrabbiner von Jerusalem, Isaak Herzog, er beweine den Tod dieses Papstes. Worte, die aus heutiger Sicht verwundern dürften. Pius XII. – war das nicht der Papst, der schwieg angesichts der Gräueltaten der Nationalsozialisten? Der passiv blieb und seine Stimme nicht erhob im Hinblick auf die Judenverfolgung?

Das ist heute, über 60 Jahre nach dem Tod Pius XII., die wohl am häufigsten geäußerte Meinung zum Pontifikat dieses Papstes. Von der durchweg positiven Sicht auf das Leben und Wirken Pius XII., wie sie 1958 bestand, scheint jedenfalls wenig geblieben. Die Wende ereignete sich gut fünf Jahre nach dem Ableben des Pontifex. Im Februar 1963 führt ein Berliner Theater, die „Freie Volksbühne“, ein Stück des Schriftstellers Rolf Hochhuth auf. Das Schauspiel "Der Stellvertreter" thematisiert das Verhalten Pius’ XII. zum Schicksal des jüdischen Volkes im II. Weltkrieg. Es wirft provokant die Frage auf: Warum schwieg der Papst zu den Judendeportationen? Folgte der Stellvertreter Gottes auf Erden etwa einem politischen Kalkül? Gab er diplomatischen Erwägungen den Vorrang?

Durch das Theaterstück wurde der mittlerweile verstorbene Hochhuth weltberühmt. Das Drama löste heftige Kontroversen aus. Manche behaupteten, Kräfte aus dem kommunistischen Ost-Europa hätten am Stück mitgewirkt. Ein ehemaliger Securitate-General, der Rumäne Ion Mihai Pacepa, wird später angeben, östliche Geheimdienste, allen voran der KGB, hätten Hochhuth instrumentalisiert.

Dennoch: Das Theaterstück wurde ein Erfolg, später auch verfilmt. Die Nachwirkungen sind bis heute in die Gegenwart zu spüren. In weiten Teilen der jüdischen Welt hat sich die Bewertung Pius’ XII. gedreht. Und auch in der Katholischen Kirche mehrten und mehren sich kritische Stimmen zum Pontifikat des Pacelli-Papstes. Eine mögliche, seit langem angestrebte Seligsprechung des Pontifex scheint blockiert zu sein.

Papst Franziskus entschloss sich, der immer wieder neu aufflammenden Diskussion um seinen Vorgänger sachgerecht beizutreten. Am 4. März 2019 kündigte er mit diesen Worten einen bemerkenswerten Schritt an:

"Die Kirche fürchtet die Geschichte nicht, sondern liebt sie vielmehr. Und sie möchte sie immer mehr und besser lieben, so wie Gott sie liebt! Daher öffne ich ebenso vertrauensvoll wie meine Vorgänger diesen Dokumentenschatz und vertraue ihn den Forschern an."

Ein Jahr später öffnete der Vatikan seine Archive zum Pontifikat Pius´ XII. für die Wissenschaft. Die Historiker, die sich nun seit gut 4 Jahren dem Pontifikat Pius´ XII. widmen, sind nicht zu beneiden. Ein ungeheurer Berg von Schriftstücken muss unparteiisch und mit Sachverstand gesichtet werden. Die Forscher werden mit vielen Unzulänglichkeiten konfrontiert: Unterlagen präsentieren sich als unvollständig, manches Dokument kann kein Datum vorweisen und das ein oder andere Schreiben dürfte nicht immer die objektive Wahrheit wiedergeben. Und manche schriftliche, aber nicht einzuordnende Anmerkung wird ins "Nichts" fallen.

Die akademische Welt begrüßte die Entscheidung des Papstes zur Öffnung der Archive – unter den Wissenschaftlern machte sich Enthusiasmus breit. Doch vermag allein, was man "schwarz auf weiß" besitzt, die Dramatik und Wahrheit des Pontifikates von 1939 bis 1958 wiederzugeben, vor allem die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs und die Zeit der deutschen Besatzung der Ewigen Stadt objektiv widerzuspiegeln? Denn vieles ist nicht in den Akten festgehalten, nicht schriftlich dokumentiert worden. So weist der italienische Historiker Andrea Riccardi darauf hin, dass es vor allem zur Zeit der deutschen Besatzung Roms in den Jahren 1943 und 1944 galt, schriftliche Aufzeichnungen zu vermeiden.

Der bekannte Münsteraner Kirchenhistoriker Hubert Wolf gehörte zu den Ersten, die sich unverzüglich mit einem Team der Erforschung der päpstlichen Archive widmete. Schon im Oktober 2023 kündigte Wolf an, dass die Erkenntnisse einen gleich mehrfachen Paradigmenwechsel in der Forschung erzwingen würden. Das gelte insbesondere aufgrund der gut 1.700 Hilfsgesuche von verfolgten Juden an Papst Pius XII., die im Archiv dokumentiert sind.

Bis zur Archivöffnung hatten viele Historiker die Annahme vertreten, dass der Papst zu passiv gewesen sei und kaum oder zu wenig zur Rettung der Rettung verfolgter Juden unternommen habe. Der bisherige Aktenbefund hat dagegen offengelegt, dass Pius XII. etwa zehn Prozent der Gesuche persönlich zur Kenntnis genommen und daraufhin konkrete Hilfe veranlasst hat. Als Beispiel nennt Wolf hierbei die Geschichte einer Gruppe von Juden, die aus Portugal nach Brasilien fliehen konnte. Hier hatte sich der Papst höchstpersönlich für die Visa eingesetzt. Der Apostolische Nuntius begleitete dann die Gruppe, zu der auch Kinder gehörte, zum Hafen von Lissabon, von wo aus sie nach Rio de Janeiro die Flucht antrat.

Nach der bisherigen Archiv-Sichtung kommt Historiker Hubert Wolf aber auch zu der Überzeugung, dass der Papst trotz seiner Machtfülle innerhalb der Kirche in seinem realen Wirken nur begrenzte Möglichkeiten gehabt habe. Bisweilen hätten mangelnde Kompetenz und der Streit über Zuständigkeiten in der Römischen Kurie eine wichtige Rolle gespielt. Statt nur zu fragen, was Pius XII. angesichts des Holocaust getan habe, müsse auch gefragt werden, was der Vatikan als Ganzes getan habe.

Immer wieder kam in der Vergangenheit auch die Frage auf, wieviel Pius XII. und der Vatikan tatsächlich wussten, über das Ausmaß der Judenverfolgung durch die Nazis. Der Vatikanarchivar Giovanni Coco fand dazu einen Brief, der datiert ist auf den 14. Dezember 1942. Laut Coco ist er der einzige verbliebene Beleg eines Schriftwechsels zwischen dem Sekretariat Pius´ des Zwölften und dem deutschen Widerstand. In diesem Brief wird der Heilige Stuhl darüber informiert, dass tagtäglich die Leichen von 6000 Menschen, vor allem Juden und Polen, den Verbrennungsöfen der SS zugeführt wurden.

Die Botschaft an das Sekretariat des Papstes darin war eindeutig: Die Nazis würden tatsächlich ernst machen mit der Ausrottung der Juden und Polen. Verfasser des Briefes war der deutsche Jesuitenpater Lothar König, ein enger Bekannter des Privatsekretärs von Pius XII., Pater Robert Leiber. König hatte für den bürgerlichen Widerstandszirkel „Kreisauer Kreis“ die Aufgaben eines Kuriers und Verbindungsmanns zum Vatikan übernommen. Sein Brief sollte nach dem Tod des Papstes noch jahrzehntelang verschollen bleiben. Doch nun konnte der Archivar feststellen:

"Papst Pius XII. war gut, sehr gut darüber informiert, dass die Nazis systematisch und massenhaft Juden ermordeten."

Giovanni Coco weist jedoch auch auf einen weiteren Vermerk im Brief hin. Darin habe Lothar König ausdrücklich um Stillschweigen und Vorsicht gebeten. Womöglich fürchtete König, dass ein öffentliches Eintreten des Papstes die damaligen Machthaber noch zu größeren und brutaleren Maßnahmen reizen würde.

Die Frage, ob sich Papst Pius XII. mit öffentlichen Protesten gegen die Nationalsozialisten zurückgehalten habe, um heimlich tausenden Juden helfen zu können, sei im Licht dieser Dokumente zu bewerten, so Historiker Hubert Wolf.

Dabei spielt wohl auch der Hirtenbrief der niederländischen Bischöfe im Sommer 1942 eine Rolle. Als die Deportation niederländischer Juden anstand, protestierten die katholischen Oberhirten damals von der Kanzel herab öffentlich gegen dieses Verbrechen. Die Reaktion der Nazis folgte unmittelbar und war grausam. Kurz nach dem kirchlichen Protest verhafteten sie 245 katholisch getaufte Juden und weitere Protestanten, die eine jüdisch-christliche Ehe führten. Mehr als die Hälfte von ihnen wurde ins Durchgangslager Westerbork gebracht, von wo aus die Gefangenen in andere Vernichtungslager deportiert wurden – darunter auch die Karmeliterin Edith Stein. Schon vor der Archiv-Öffnung vermuteten viele Historiker, dass dieses Ereignis für Pius XII. prägend war, und er womöglich deshalb fortan auf öffentlichen Protest eher verzichtete, weil er eine Verschlimmerung der Lage fürchtete. 

Eines kann man auch ohne die Öffnung der Archive festhalten: Gänzlich geschwiegen, wie es oft behauptet wird, hatte der Papst keinesfalls zum Rassenwahn der Nazis. In einer Radiobotschaft an Weihnachten 1942 beklagte er die Situation…

"...Hunderttausender von Menschen, die ohne eigene Schuld, nur wegen ihrer Nationalität oder Abstammung dem Tode oder Siechtum preisgegeben sind."

Auch wenn hier der klare Bezug zu Deportation und Vernichtung der Juden erkennbar ist – beim Namen nannte er sie nicht.

Blieb Pius XII. in seinem öffentlichen Auftreten möglicherweise deshalb verhältnismäßig zurückhaltend, weil er nicht an den Erfolg von publikumswirksamen Verurteilungen gegen Nazideutschland glaubte? Viele Historiker vermuten genau das und verweisen dabei auf die kircheninterne Karriere Eugenio Pacellis, wie Pius XII. mit bürgerlichem Namen hieß. Schon kurz nach seiner Priesterweihe schlug er die Laufbahn des Kirchendiplomaten ein, unterrichtete selbst an der Päpstlichen Diplomatenakademie und war 12 Jahre lang als Nuntius der Botschafter des Heiligen Stuhls in Deutschland. Pacelli war darum mit den Verhältnissen in Deutschland bestens vertraut und galt als ein exzellenter Diplomat.

Die Aufarbeitung der Rolle des Pacelli-Papstes in finsterer, menschenverachtender Zeit wird auch nach der Archivöffnung zum schwierigen Zusammensetzen eines komplexen Puzzles. Es gilt die Forschungsergebnisse kirchlicher wie auch staatlicher und privater Archive auf der ganzen Welt mit denen des Vatikans zu synchronisieren. Nicht verschließen darf man sich den gesicherten Zeitzeugnissen anderer Provenienz: Tonaufnahmen, Fotografien und Filmdokumenten, die Aufschluss über die Facetten des Geschehens in der Vergangenheit geben können.

Muss die Geschichte neu geschrieben werden?

Angesichts der gewaltigen Menge an Archiv-Material ist klar, dass die Auswertung und Bewertung der Dokumente noch immer am Anfang steht. Im Hinblick auf die Rolle Pius XII. wird jedoch bereits ein Paradigmenwechsel erkennbar. Der Historiker Hubert Wolf meint, auch das direkte Umfeld des Papstes müsse in den Blick geraten. Wolfs Zwischenfazit lautet:

"Weg von der Konzentration auf Pius. Hin zur Konzentration auf die Kurie. Dann wird es ein viel, viel bunteres Bild."

Die redaktionelle Verantwortung für die Sendung hat Martin Korden.

Musik:

Daniel Hope – Fratres for violin, string orchestra and percussion

Daniel Hope – Spheres

Daniel Hope – Sonata for Violin And Continuo III

Musik: Daniel Hope – Spheres

Daniel Hope - Spheres

Daniel Hope – Echorus

Über den Autor Ulrich Nersinger

Ulrich Nersinger, geb. 1957, studierte Theologie, Philosophie und Christliche Archäologie in Deutschland, Österreich und Rom. Er gilt als Kenner der Päpste und ihrer Welt / des Vatikans,  schreibt u.a. für den "Osservatore Romano", den "Schweizergardisten" sowie das "Vatican-Magazin" und war auf EWTN und Bibel.TV in zahlreichen Sendungen zu römischen Themen zu sehen.

Kontakt: u.nersinger@gmail.com