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Macht Geben wirklich selig? Vom Geben, Nehmen und Empfangen

Am Sonntagmorgen, 13.08.2023

Angelika Daiker, Stuttgart

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Es waren die großen Geschenkpakete unterm Christbaum, über die ich mich als Kind nicht freute. Ich wusste, dass sie Tischdecken, Bettbezüge oder sonstige für den Alltag nützliche Dinge enthielten. Als Teil meiner Aussteuer sollten sie Grundlage für einen eigenen Hausstand sein. Dafür gaben meine Eltern in den 60-iger Jahren hart erarbeitetes Geld aus. Aus ihrer Sicht eine große Gabe. Als Kind und Jugendliche wollte ich keine nützlichen Geschenke. Ich wünschte mir etwas zum Spielen, zum Lesen, etwas Hübsches zum Anziehen. So erfuhr ich schon als Kind, dass das mit dem Geben und Empfangen im Leben gar nicht so einfach ist und nicht jede Gabe Menschen glücklich macht.

"Macht geben wirklich selig und gar seliger als nehmen"? Ich weiß nicht, ob meine Eltern glücklich waren, mir diese Geschenke zu machen, zumal, ja sie meine Enttäuschung sahen.

Eine andere Erfahrung mit dem Geben: Bei meinen Besuchen in der Kirchengemeinde waren es häufig die Ärmsten, die mir auf jeden Fall noch etwas mit-geben wollten, eine Schachtel Pralinen, nicht die teuersten, die konnten sie sich nicht leisten. Aber sie wollten etwas geben, ihren Möglichkeiten entsprechend – manchmal auch über ihre Möglichkeiten hinaus. Dafür haben sie an anderer Stelle gespart. Es nicht anzunehmen, hätte sie verletzt. Etwas geben zu können und nicht nur Empfangende zu sein, hat etwas mit Würde zu tun.

"Es gibt jene, die wenig haben und alles geben. Das sind die, die an das Leben und die Fülle des Lebens glauben, und ihr Beutel ist nie leer. Es gibt jene, die mit Freude geben und die Freude ist ihr Lohn."

So ein Zitat des arabischen Schriftstellers Khalil Gibran.

"Geben ist seliger als nehmen" (Apg 20,35). Dieses sprichwörtlich gewordene biblische Wort kennen auch Menschen, die nicht bibelkundig sind. Es geht leicht von den Lippen, zumal, wenn man etwas gegeben hat und sich zufrieden mit der eigenen Großzügigkeit fühlt. Dreht jemand den Satz um und sagt provokativ "Nehmen ist seliger als geben" – so ein Buchtitel – dann stutzen wir kurz, aber auch diese Umkehrung leuchtet ein.

Möglicherweise entspricht es sogar der heute gängigen Praxis und Einstellung, lieber zu nehmen als zu geben. Aber auch das stimmt pauschal nicht, es ist komplizierter. Im Nachdenken reibe ich mich an dem Vergleich: Ist nun geben besser oder nehmen? Lässt sich das überhaupt bewerten und gegeneinander ausspielen?

„Geben ist seliger als nehmen“… Dieses Wort ist Teil der Abschiedsrede, die Paulus vor den Ältesten aus Ephesus in Milet hält. Seine Rede beginnt mit einem Rückblick auf die Zeit seines Wirkens in Asien und gibt einen Ausblick auf seine Jerusalemreise. Er weiß, dass es ein Abschied für immer ist. Und befürchtet, dass die Gemeinde nach seinem Weggang Irrlehrern aufsitzt, die eigensüchtig nach Gewinn streben. Deshalb betont er, dass er selbst für seinen Einsatz nichts verlangt hat und verbindet dies mit dem Appell, es ihm gleichzutun.

"Silber oder Gold oder Kleider habe ich von keinem verlangt; ihr wisst selbst, dass für meinen Unterhalt und den meiner Begleiter diese Hände hier gearbeitet haben. In allem habe ich euch gezeigt, dass man sich auf diese Weise abmühen und sich der Schwachen annehmen soll, in Erinnerung an die Worte Jesu, des Herrn, der selbst gesagt hat: Geben ist seliger als nehmen.“ (Apg 20,35)"

Diese Rede aus der Apostelgeschichte hat der Evangelist Lukas aufgeschrieben. Er hat die sozial Schwachen im Blick, wenn er sich in der Paulus-Rede auf ein angebliches Wort Jesu bezieht, das in Wirklichkeit ein griechisches Sprichwort war. Für ihn ist es eine Zusammenfassung der sozialen Predigt Jesu wie sie auch in einem anderen Wort im Lukasevangelium zu finden ist:

"Gib jedem, der dich bittet; und wenn dir jemand das Deine wegnimmt verlang es nicht zurück! Und wie ihr wollt, dass euch die Menschen tun sollen, das tut auch ihr ihnen."

Offensichtlich ist das Geben in biblischer Zeit ein großes Thema. Wenn ich darüber nachdenke, wie das heute mit dem Geben ist, entdecke ich staunend, wie präsent es in der deutschen Sprache ist und in wie vielen Wortverbindungen es vorkommt. So sagen wir z.B.: Ich habe alles gegeben, wenn wir uns besonders engagiert haben. Oder: Wer viel besitzt, kann damit an-geben. Und wenn uns die Puste im Wettkampf ausgeht, ist es klug zum richtigen Zeitpunkt auf-zugeben.

Schlecht wäre es, würden wir jemanden oder gar uns selbst auf-geben. Wer bedrängt wird und keine Chance hat sich zu widersetzen, wird sich er-geben. Und können wir uns gegen die Wünsche eines anderen nicht wehren, werden wir schließlich nach-geben. Unrecht ist es, wenn wir einen Menschen oder ein Geheimnis preis-geben. Kommt uns eine besonders geniale Idee, sprechen wir von Ein-gebung; von Be-gabung, wenn jemand mit besonderen Gaben gesegnet ist.  Wunderbar ist es, wenn wir von guten Menschen oder gar von „guten Mächten treu und still um-geben“ sind. Unter-geben sein dagegen – nur eine kleine Präfixänderung – das lieben wir gar nicht. Wer sich hin-geben kann, sei es in einer Beziehung oder für eine Sache, lebt intensiver, Hingabe macht jedoch auch verletzlich.

Spannend ist, dass auch unser Umgang mit Schuld etwas mit dem Geben zu tun hat. Ver-geben zu können, das gehört vielleicht zu den größten Gaben, die wir einander machen können. Auch die französische und die englische Sprache kennen den Zusammenhang von Geben und vergeben. So wird donner zu par-donner und give zu for-give.

Unser Leben ist wahrlich reich an Gaben, wobei die Ambivalenz des Gebens immer mitschwingt: Etwas zu geben kann auf Augenhöhe geschehen, es kann aber auch soziale Rangordnungen sichtbar machen oder gar verstärken. Wer mehr geben kann, hat auch mehr Macht und sogenannte „milde Gaben verletzen den, der sie empfängt“. (Marcel Mauss)

Viele aktuelle Publikationen über die Gabe beziehen sich auf den französischen Soziologen Marcel Mauss, der schon 1925 einen Essay veröffentlichte mit dem Titel „Die Gabe – Form und Funktion des Austausches von Gaben in archaischen Gesellschaften“. Mauss beschreibt in vielen Beispielen, wie die Gabe so etwas wie der Prüfstein im sozialen Umgang dieser Gesellschaften war. Sie war vor allem Ausdruck der Anerkennung. Alle sozialen Beziehungen wurden durch den Tausch von Gaben etabliert und gefestigt – im Dreischritt von Geben, Annehmen und Erwidern. Das Gegenüber wurde so in seiner Vertrauenswürdigkeit erfahren, wobei nicht der materielle Wert des Gegebenen, sondern die Qualität der Beziehung und die innere Haltung entscheidend war.

Es gab eine Art Wettstreit, wer wohl die meisten und wertvollsten Geschenke machen konnte und alle versuchten, sich an Großzügigkeit zu überbieten. Marcel Mauss glaubt, in dieser Moral der Gabe geradezu „einen Felsen gefunden zu haben, auf dem unsere Gesellschaften ruhen“. Er schreibt:

"Ich glaube, dass wir, sofern wir unseren Wohlstand weiterentwickeln wollen, mehr werden müssen als bessere Finanzmänner, Buchführer und Verwalter. Die bloße Verfolgung individueller Zwecke schadet den Zwecken und dem Frieden des Ganzen, dem Rhythmus unserer Arbeit und unserer Freuden und damit letztlich dem Einzelnen selbst. 
(Mauss 174) In allen Gesellschaften, die uns unmittelbar vorausgegangen sind und die uns heute noch umgeben […] gibt es keinen Mittelweg: entweder volles Vertrauen oder volles Misstrauen […]. (Mauss, S.180)"

Natürlich trägt jede Gabe ein Risiko in sich. Wir haben keine Garantie, dass unsere Großzügigkeit nicht ausgenützt wird. Das macht das Geben schwer. Gerade heute, weil die Angst vor dem Mangel und die Erfahrung von Mangel in unseren Tagen so groß ist.

An dieser Stelle braucht es einen Blick über uns hinaus. Es braucht den Blick auf einen Gott, der uns mit seiner Schöpfung bereits reich beschenkt hat. In ihm gründet das Vertrauen, dass das Gegebene reicht. Denn die wesentlichsten und kostbarsten Dinge „sind uns ja gleichsam gegeben: die Welt, die Natur, das Leben, die Inspiration, die Anmut, die Schönheit und vieles, vieles mehr …“ (Zitat nach Alain Caillé) Und es ist uns zugesagt, dass Gott weiterhin in Hülle und Fülle geben wird.

Die Frage, wann wir die Rechnung dafür bezahlen müssen, beantwortet der Schriftsteller und Ordensmann Andreas Knapp so: 

"Am Ende die Rechnung

Einmal wird uns gewiss
die Rechnung präsentiert
für den Sonnenschein
und das Rauschen der Blätter,
die sanften Maiglöckchen
und die dunklen Tannen,
für den Schnee und den Wind,
den Vogelflug und das Gras
und die Schmetterlinge,
für die Luft, die wir geatmet haben,
und den Blick auf die Sterne
und für all die Tage,
die Abende und die Nä chte.

Einmal wird es Zeit,
dass wir aufbrechen und bezahlen;
bitte die Rechnung.
Doch wir haben sie
ohne den Wirt gemacht:
Ich habe euch eingeladen,
sagt der und lacht,
so weit die Erde reicht:
Es war mir ein Vergnügen!"

Alles Wesentliche ist uns gratis gegeben. Die Geschichten der Bibel erzählen davon, dass der Mensch sich trotz Gottes großzügiger Gabe immer wieder von ihm abwendet, sich nimmt, was ihm nicht zusteht, Empfangenes ängstlich für sich behält und es seiner eigenen Macht und Leistung zuschreibt. Im liebenden Werben Gottes um den Menschen geht Gott immer neu das Risiko ein, dass wir seine Gaben nicht erwidern.

Schließlich, so glauben es Christen, gibt Gott sich selbst in Jesus Christus, den sie als Sohn Gottes verehren. Mehr an Risiko ist nicht denkbar. Gottes Selbst-Gabe an den Menschen, will uns befähigen, von unserer Seite aus in das Gabegeschehen von Geben, Annehmen und Erwidern einzusteigen, in dem uns möglichen Maß und mit vollem Risiko.

Jesus selbst wird mit seinem ganzen Leben zum Anwalt für die Gabe. Vor allem bei seinem letzten Abendmahl – wenn er im Brot, das er unter seinen Freunden verteilt, zeichenhaft seine Hingabe am Kreuz vorwegnimmt: „Nehmt und esst – das ist mein Leib.“  (Mt 26,26) Diese Gabe ist letztlich nicht zu begreifen. Wir können sie nur annehmen und den Wunsch spüren, auf unsere Weise seine Gabe zu erwidern.

Mit der Botschaft und Zusage, dass vertrauensvolles und großzügiges Geben erwidert wird, schickt Jesus seine Jünger in die Welt. Mit dieser Zusicherung, wie der Evangelist Lukas sie in einem wunderbaren Wort Jesu aufgeschrieben hat, möchte auch ich mich in die Welt schicken lassen!

"Gebt, dann wird auch euch gegeben werden! Ein gutes, volles, gehäuftes, überfließendes Maß wird man euch in den Schoß legen; denn nach dem Maß, mit dem ihr messt, wird auch euch zugemessen werden.“ (Lk 6,38)"

Die redaktionelle Verantwortung für die Sendung hat Martin Korden.

Musik:

Eleni Karaindrou, Kim Kashkashian – Variation V

Eleni Karaindrou, Kim Kashkashian – Litany. Variation I

Bazar Bla – Lunken

Yann Tiersen – Comptine d’un autre été

Über die Autorin Angelika Daiker

Dr. Angelika Daiker, geb. 14.03 1955, studierte in Tübingen, München und Wien. Sie promovierte in Wien bei Prof. Dr. Michael Zulehner. Die gekürzte und überarbeitete Fassung ihrer Dissertation erschien 1999 unter dem Titel "Über Grenzen geführt – Leben und Spiritualität der Kleinen Schwester Magdeleine" im Schwabenverlag. Daiker ist Pastoralreferentin und leitete von 2007 bis 2017 das Hospiz St. Martin in Stuttgart, das sie konzeptionell aufgebaut hat. Als Autorin, als Trauerbegleiterin und als Dozentin für Sacred Dance wird sie zu Vorträgen und Seminaren im Bereich Trauer- und Sterbebegleitung, zu Themen der Spiritualität und zu Tanzseminaren eingeladen.

Neueste Veröffentlichung: Hülle und Fülle – Palliative Spritualität in der Hospizarbeit, Angelika Daiker / Barbara Hummler – Antoni, Patmosverlag September 2018