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Religion als Kompass? Warum die Demokratie die Kirche braucht

Am Sonntagmorgen, 14.01.2024

Johannes Schröer, Köln

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Unsere Demokratie ist bedroht. Wir befinden uns in einer Gefährdungslage, wie ich sie in dieser Form noch nie erlebt habe. Das sagt jetzt nicht irgendwer, sondern Gerhart Baum sagt das. Der ehemalige Bundesinnenminister hat viele Jahrzehnte politischen Handelns hinter sich und beobachtet die politische Welt auch im Alter von 91 Jahren aufmerksam. Für die Krise der Demokratie gebe es mehrere Ursachen. Immer weniger Menschen seien sich bewusst, welche große Errungenschaft das Grundgesetz sei, das unsere freiheitliche Demokratie prägt. Dafür gelte es einzustehen. Gerhart Baum beobachtet eine Verunsicherung der Menschen, die damit zu tun habe, dass die Bindungskraft traditioneller Institutionen immer mehr nachlasse.

"Das betrifft die Kirchen beispielsweise, die Gewerkschaften. Also, ich stelle fest und habe lange gezögert, das zu sagen, dass die Bindungswirkung oder sogar die Begeisterung, die wir einmal für das Grundgesetz, für die neue Demokratie hatten, nachlässt. Man nimmt das einfach als gegeben hin und denkt, es geht einfach so weiter. Es geht überhaupt nicht so weiter. Auch mit den Menschenrechten nicht. Die werden verletzt und müssen immer wieder verteidigt werden."

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Dafür müssen wir einstehen, sagt Baum. Aktiv und offensiv sollten wir die Werte unserer freiheitlichen Demokratie verteidigen – denn die Demokratie sei nichts Selbstverständliches und gerade jetzt Gefahren von radikalen Parteien ausgesetzt. Doch bei allen aktuellen Krisen Zeit komme es, so Baum, auch darauf an, die Hoffnung nicht zu verlieren. Dabei sieht er die Kirchen als Stützen der Gesellschaft in der Pflicht:

"Die Kirchen sind werteorientiert, geben den Menschen Halt und sind auch Träger von Hoffnung. Und Hoffnung ist notwendig für den Mut, etwas zu verändern. Wir sind in einer Situation, wo sich unheimlich viel ändert und die Menschen spüren, dass das passiert. Die Zukunft muss neu gedacht werden. Da haben die Kirchen eine ganz wichtige Funktion, aus dem Glaubenselement heraus Hoffnung und Mut zu entwickeln, die Probleme zu lösen - sowie das Leben, die eigenen Probleme und die Probleme der Gesellschaft in die Hand zu nehmen und nicht irgendwie in Mutlosigkeit und Passivität zu verfallen."

Welche Bedeutung die Kirchen in einer demokratischen Gesellschaft haben können, hat sich auch der renommierte Soziologe Professor Harmut Rosa gefragt. Über sein Buch mit dem Titel ‚Demokratie braucht Religion‘ aus dem Jahr 2022 wird nicht nur unter Theologinnen und Theologen weiterhin viel diskutiert.

"Ich habe das Buch als Soziologe geschrieben und auch aus soziologischer Perspektive geschrieben, indem ich mich gefragt habe, was eigentlich Religion – übrigens auch weit über die christliche Religion hinaus – was überhaupt Religion für Konsequenzen für das soziale Leben und das Zusammenleben hat."

Seit Jahren forscht Hartmut Rosa über Resonanzverhältnisse in der modernen Gesellschaft. Religionen, so seine These, bieten Resonanzräume oder Resonanzoasen an, die demokratische Gesellschaften stützen können.

"Unter einem Resonanzraum verstehe ich einen Kontext. Also es kann ein baulicher Raum, sein, eine Kirche zum Beispiel, aber natürlich auch ein sozialer Raum zum Beispiel, in dem eine bestimmte Beziehung möglich wird, nämlich eine Resonanzbeziehung und Resonanzbeziehung ist das in Verbindung-Treten zwischen zwei Seiten. Das können zwei Menschen sein, zum Beispiel. Aber es kann auch ein Mensch und ein Ding sein, ein Mensch und ein Tier oder ein Mensch und eine umgreifende Realität wie der Kosmos, die Natur oder Gott, wenn man gläubig ist – und diese Beziehung wird beherrscht von der Erfahrung, dass da draußen etwas oder jemand ist, der mir etwas zu sagen hat."

Ein praktisches Beispiel für einen möglichen Resonanzraum ist ein Gottesdienst. Hier steht ein Kirchenraum, der sich vom Alltagsbetrieb abhebt, der etwas anderes anbietet als die leistungsorientierte Wachstumsgesellschaft von den Menschen verlangt. Hier geht es nicht um Selbstdarstellung, Selbstverwirklichung und Selbstoptimierung.

"Wenn Sie eine Kirche betreten – der Dom zu Köln ist ein gutes Beispiel –, dann tun wir das in einer sehr anderen Haltung, als wenn wir einen Supermarkt betreten oder unser Büro zum Beispiel. Man merkt schon leiblich, wir kommen aus dem Aggressionsmodus, der unseren Alltag prägt, weil wir immerzu Dinge erledigen, abarbeiten, in den Griff kriegen müssen, in eine andere Haltung und in eine Haltung dessen, was ich Haltung des Aufhörens nenne. Geradezu physisch ändern wir uns. Wir versuchen aufzuhören. Und diese Haltung verstärkt sich dann zum Beispiel beim Beten, auch beim gemeinsamen Singen oder beim Lobpreisen."

Voraussetzung für diese Form der Resonanz ist die Möglichkeit, sich anrufen zu lassen, sagt Rosa. Dabei muss sich der Mensch öffnen. Er muss bereit sein, aus dem Self-Made-Modus auszusteigen und ein hörender Mensch zu werden. Hartmut Rosa spricht hier von einem ‚hörenden Herzen‘, das der Mensch entdecken kann. Das heißt, der Mensch macht und tut nicht alles selbst, sondern ist bereit und willens, sich vom Anderen berühren und anrufen zu lassen. Das ist immer auch ein Wagnis, denn ich begebe mich dabei in eine Beziehung, bei der ich nicht weiß, was dabei herauskommt, die dann aber eine verwandelnde Wirkung haben kann.

"Ich bin danach nicht mehr derselbe, wie ich vorher war. Und dass wir uns auf solche Beziehungen einlassen, ist, glaube ich, ein Grundgedanke der Religion. Dass uns da jemand bei unserem Namen gerufen hat, zum Beispiel, wie es in der christlichen Religion heißt. Da, wo Resonanz, eine Resonanzbeziehung oder ich nenne es manchmal auch Resonanzoase entsteht, werden andere dazukommen. Die werden geradezu angelockt werden. Das ist mir als Kind selber so gegangen. Ich bin durchaus nicht christlich aufgewachsen und war von der Orgel so fasziniert. Ich konnte da kaum an der Kirche vorbeigehen, wenn die Orgel brauste. Und da würde ich sagen: Auch das war so. Das war halt auch ein sehr guter Organist, und der hat für sich gespielt und das hat diese Wirkung erzielt, die dann auch andere dahin gelockt hat."

Hartmut Rosa ist Professor der Soziologie. Er ist nicht Theologe und – obwohl christlich sozialisiert – in keiner der beiden Kirchen aktiv. Deshalb war er selbst überrascht, dass bei seiner Forschung ein Ergebnis herausgekommen ist, dass zur Überschrift seines Buches ‚Demokratie braucht Religion‘ geführt hat. Rosas These: Religion schafft Beziehungen und Resonanzräume, die in unserer Demokratie ein Gegengewicht zur Leistungs- und Wachstumsgesellschaft bieten und damit unsere Gesellschaft stabilisieren können.

Wie werden Rosas Ideen in Theologenkreisen bewertet? Ursula Nothelle-Wildfeuer ist Professorin für praktische Theologie an der Universität Freiburg. Ihr Forschungsschwerpunkt ist die christliche Gesellschaftslehre.

"Als Sozialethiker war ich ganz begeistert, als ich dieses Buch gelesen habe, weil die sozialethische Perspektive eben immer eher direkt auf die Gestaltung von gesellschaftlichen Verhältnissen, auf sozialstaatliche, sozialethische Fragestellungen geht. Und hier noch mal eine ganz andere Dimension der Weltbeziehung durch etwas auf sich zukommen lassen, dieses Hinhören, dieses hörende Herz, weil diese Dimension hier aufkommt. Und das ist etwas, was in einer nur auf Wachstum ausgerichteten Gesellschaft und Demokratie eben sonst auch zu kurz zu kommen droht."

Kirchen sind von wichtiger gesellschaftlicher Bedeutung, weil sie der soziale Kitt der Gesellschaft sind, heißt es immer wieder. In unserer pluralen Gesellschaft tragen sie dazu bei, dass der Sozialstaat und seine Einrichtungen funktionieren. Caritas und Diakonie unterhalten Krankenhäuser und Pflegeheime. Diese Arbeit ist für die Kirche ganz wesentlich. Ist aber Kirche nicht viel mehr? Professorin Nothelle-Wildfeuer findet die Ideen von Hartmut Rosa gerade deswegen erfrischend, weil sie nicht nur auf die sozial-politischen Funktionen der Kirchen abheben:

"Hartmut Rosa macht einen ganz anderen Punkt. Ihm geht es darum, dass die demokratietragende Gesellschaft die Kirche braucht, weil es die Kirche ist, die Resonanzräume bieten kann, die also der Demokratie eine Dimension verleiht, die sie sonst nicht leicht finden würde, die sie aber sucht in ganz unterschiedlichen Bereichen und Formen."

Religion und Kirchen haben das Potential, die Gesellschaft aus der Krise führen, weil sie dem Immer-mehr, Immer- weiter, Immer-höher etwas entgegensetzen. Damit können Kirchen das Zusammenleben der Menschen beeinflussen, weil sie über ein Reservoir von Riten und Räumen verfügen, in denen der Mensch ein – wie es Harmut Rosa ausdrückt – hörendes Herz einüben kann. Religiöses Handeln kann so eine gesamtgesellschaftliche Bedeutung haben, die weit über das private Handeln hinausgeht und ist damit auch politisches Handeln. Die Professorin für praktische Theologie Nothelle-Wildfeuer sieht in den Ideen des Soziologen Rosa Ansätze, aus denen die Kirche schöpfen kann.

"Ich glaube, das ist der entscheidende Punkt. Die christliche Botschaft kann nie nur beim Einzelnen bleiben, was Innerliches sein und auch sogar nicht nur in irgendwelchen gesetzten Grenzen von Gemeinden oder kleinen Gruppierungen bleiben. Das wäre ein amputierter Glaube, ein amputierter christlicher Glaube. Wenn nicht diese Dimension des Öffentlichen, des Gesellschaftlichen auch dazu käme. Glaube drängt dazu, eine Weltbeziehung aufzubauen und Welt und Gesellschaft zu gestalten."

Religionen bieten viel mehr als eine rein intellektuelle Herangehensweise an die Welt. Mittels der Vernunft die Welt zu erklären, ist eine wichtige Erkenntnis der Aufklärung, aber der Mensch greift mit seinen Emotionen und Sehnsüchten weit darüber hinaus. Rituale, die Religionen anbieten, eröffnen ihm Resonanzräume zu ganz anderen Weltbeziehungen. Hartmut Rosa sieht gerade in Praxis und Tradition katholischer Liturgie und der Rituale ein Angebot, das befreiende Kraft haben kann.   

"Diese leibliche Seite ist in der katholischen Tradition viel stärker verankert, zum Beispiel indem man ein Kreuz macht und dann leiblich ein Zeichen - das Zeichen, ich nenne es eine vertikale Resonanzachse, das da also zwischen mir, meinem Körper, meinem Inneren, meiner Erfahrung und dem Umgreifenden Ganzen, dass wir Gott oder das Universum nennen, eine Beziehung entsteht. Oder die Idee, dass geweihten Wassers, das irgendwie meine Seele erreicht und verbindet mit dem Ursprung, wo das Wasser herkommt. Oder das ewige Licht zum Beispiel. Das Feuer als eine unverfügbare Kraft, die so was wie ein Eigensinn offenbart. Das heißt im Katholischen, im Ritus leben sehr viele Momente, die eine leibliche und eine objektbasierte Verbindung stiften."

Die Möglichkeiten und die Verantwortung, die Kirche in unserer demokratischen Gesellschaft haben kann – Hartmut Rosa zeigt sie auf. Kirche ist mehr als Krise und Missbrauchsskandal. Der Professor für Soziologie setzt hier einen Punkt, den die Kirchen aufgreifen können. So werden seine Ideen weit über Deutschland hinaus diskutiert. Rosa erkennt in den jahrtausendealten Kulturtechniken der Religionen Ansätze, die den Ansprüchen der modernen säkularen Welt standhalten, die in Krisenzeiten der demokratischen Gesellschaft Impulse geben für eine gelingende Zukunft – und die Kompass sein können.

"Was wir wirklich brauchen, sind nicht Erklärungen, Theorien, die uns den Sinn des Universums enthüllen, sondern dieses In-Beziehung-Treten mit etwas, was mich anruft, in Anführungszeichen, also berührt und verwandelt. Und deshalb glaube ich, genau diese Art von Kulturtechniken brauchen wir. Ich würde also allen Menschen, die in der Kirche und in kirchlichen Räumen aktiv sind, sehr dringend ans Herz legen: ‚Sehen Sie zu, dass der Gottesdienst oder was immer Sie da tun, der Kirchentag, für Sie selber wieder diese Qualität entwickelt, sich berühren und verwandeln zu lassen in eine Begegnung, in eine Beziehung treten, die mich spüren lässt, dass am Grund meiner Existenz nicht das schweigende Universum, sondern ein antwortendes Universum liegt.‘ Wenn das gelingt, werden andere folgen. Die werden das wahrnehmen, dass da Lebendigkeit und Leben herrschen. Deshalb glaube ich, man sollte nicht fragen, wie mache ich für andere Resonanz, sondern: Was sind die Resonanzmöglichkeiten, für die Leute, die jetzt in der Kirche sind."

Die redaktionelle Verantwortung für die Sendung hat Norbert Wichard.

Musik:

Steve Reich – Three Movements for Orchestra 2 Mvt. 2

Über den Autor Johannes Schröer

Johannes Schröer wurde 1963 in Emstek, im Oldenburger Münsterland geboren. Nach dem Studium der Psychologie, Theologie und Germanistik in Marburg, Tübingen und Bochum (Abschluss Staatsexamen), sowie einem Auslandsjahr als Assistent Teacher in London, absolvierte er ein Volontariat bei Radio Essen, wo er fünf Jahre als Hörfunk-Redakteur arbeitete. 1997 wechselte er in die Redaktion KIP-NRW, 2000 dann zum WDR TV-Programm der Lokalzeit Ruhr. Seit 2002 arbeitet Johannes Schröer beim Kölner Domradio. Neben seinen Aufgaben als stellvertretender Chefredakteur und CvD, ist er für die Literatur im Domradio verantwortlich. Veröffentlichungen: "Als der Dom nach Köln kam, Patron Hennes. Die Geißbocklegende des 1. FC Köln" und Mitherausgeber des Katalogbuches "Trotz Natur und Augenschein. Eucharistie – Wandlung und Weltsicht" im Greven Verlag. Außerdem schreibt Schröer Kinderbücher für den Carlsen Verlag in der Reihe Pixi.

Kontakt: johannes.schroeer@domradio.de