Gestern ist in Rüdesheim die 30. "Woche für das Leben" eröffnet worden. Seit 1994 veranstalten katholische und evangelische Kirche diese Aktionswoche. Erklärtes Ziel ist dabei, gemeinsam für den Schutz menschlichen Lebens in all seinen Phasen einzutreten. In diesem Jahr steht die Lebenswirklichkeit junger Menschen mit Behinderungen im Mittelpunkt.
In diesem Jahr wird die Themenwoche aber auch zum vorerst letzten Mal stattfinden. Denn die Evangelische Kirche Deutschlands zieht sich aus dem Projekt zurück. Es ist ein offenes Geheimnis, dass die Positionen der beiden Kirchen in Lebensschutzfragen mittlerweile zu unterschiedlich geworden sind. Auch was den Paragrafen 218 Strafgesetzbuch betrifft, in dem es um den Schwangerschaftsabbruch geht.
Während die katholische Deutsche Bischofskonferenz die bestehende Regelung verteidigt, scheint die evangelische Kirche Deutschlands diesen lange einheitlichen Kurs nicht mehr mittragen zu wollen. Sie folgt damit einem gesellschaftlichen Trend. Und auch die Ampelkoalition möchte den Paragrafen 218 möglichst streichen, um damit Abtreibungen zukünftig zu legalisieren.
(K)eine einfache Debatte
Ich bin 38 Jahre alt und dreifache Mutter. Seit meiner Schulzeit beschäftigt mich das Thema Abtreibung. Ich erinnere mich an leidenschaftliche Diskussionen schon damals. Das Thema bewegt, es fordert heraus und wühlt auf – denn es gibt keine einfachen Lösungen wenn Frauen ungewollt schwanger werden und verzweifelt sind.
Wenn ich aber die Debatten von heute mit damals vergleiche, habe ich das Gefühl, dass es eben doch einfacher zu werden scheint. Wer nicht für die Freigabe von Abtreibungen spricht, scheint kein qualifizierter Gesprächspartner mehr zu sein. Gegen-Argumente, die vor einigen Jahren noch offen diskutiert wurden, kommen heute nicht mehr vor oder werden in erstaunlich klarer Weise relativiert.
Ich möchte in dieser Sendung erzählen, warum ich es so wichtig finde, in dieser Debatte keine Argumente außen vorzulassen und ich möchte dabei die Vorzüge der bestehenden Regelung, die über lange Zeit als "guter Kompromiss" gewürdigt wurde, in Erinnerung rufen. Denn beim Paragrafen 218 geht es um die Würde des Menschen. Und zwar die der Mutter UND des Kindes.
"Heute ist ein sehr großer Tag für unsere Republik. Das Siegel der Republik besiegelt einen langen Kampf für die Freiheit. Ein Kampf aus Tränen, Dramen und gebrochenen Schicksalen."
Mit diesen Worten feierte Frankreichs Staatspräsident Emanuel Macron vor wenigen Wochen die Entscheidung, das Recht auf Abtreibung in die Verfassung seines Landes aufzunehmen. Eine überwältigende Mehrheit von 780:72 Parlamentariern [1] stimmte dafür. Es handelt sich um das Ergebnis eines langen Prozesses, in dem sich die öffentliche Meinung stetig wandelte. Heute sind über 80 Prozent der Franzosen für ein Recht auf Abtreibung. Viele sehen in dieser klaren Mehrheit ein Zeichen für den Fortschritt der Gesellschaft. Für andere dagegen, ist die Veränderung in der Haltung auch der kontinuierlichen Entwicklung geschuldet, die den Schwangerschaftsabbruch in unserem Nachbarland immer einfacher hat werden lassen.
1975 wurde in Frankreich die Abtreibung straffrei. Es folgte die vollständige Kostenübernahme durch die Krankenkasse, dann die mehrmalige Fristverlängerung, wie viele Wochen die Schwangerschaft bei einer Abtreibung schon andauern darf, schließlich fiel die auferlegte Bedenkzeit zwischen Beratung und Eingriff weg.
Heute werden in Frankreich jedes Jahr rund 230.000 Abtreibungen vorgenommen [2]. Damit wird mehr als jede vierte Schwangerschaft abgebrochen. Es scheint, als habe die ehemalige Familienministerin Simone Veil Recht behalten, die 1974 zwar für die Legalisierung der Abtreibung eintrat, aber gleichzeitig eine damit verbundene Entwicklung fürchtete:
"Ich sage mit all meiner Überzeugung: Abtreibung muss die Ausnahme bleiben, der letzte Ausweg für hoffnungslose Situationen. Aber wie können wir Abtreibung tolerieren, ohne dass sie ihren außergewöhnlichen Charakter verliert; ohne dass die Gesellschaft sie zu fördern scheint?" [3]
Abtreibungen bleiben grundsätzlich verboten
Die Bedenken, die Simone Veil in den 1970-ern in Frankreich formulierte, hatte sehr ähnlich auch das Bundesverfassungsgericht in Deutschland Mitte der 1990-er Jahre geäußert, als es zur Neuregelung des Paragrafen 218 gekommen war, die bis heute gilt. Damals betonten die Richter, dass eine Abtreibung grundsätzlich verboten bleiben muss, sie kann lediglich unter bestimmten Bedingungen als straffrei gelten. Nämlich: Wenn nach der Befruchtung nicht mehr als 12 Wochen vergangen sind und wenn sich die Schwangere zuvor einer Beratung unterzogen hat. [4]
Diese Beratung aber, so betonten es die Richter, müsse das Ziel haben, die Frau dazu zu ermutigen, das Kind zu bekommen. Es sollten, so wörtlich "Perspektiven für ein Leben mit dem Kind eröffnet werden"[5]. Diese Klarstellung der Richter dürfte heute kaum noch jemandem bekannt sein. Ja, sie dürfte für viele heute wohl eine Skandalaussage sein, ein ungeheuerlicher Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Frau.
Doch wie kamen die Richter dazu, das Recht so auszulegen? Diese Klarstellung war nötig, wegen der ersten beiden Artikel unseres Grundgesetzes. Darin heißt es:
"Die Würde des Menschen ist unantastbar." [6]
UND:
"Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt."
UND:
"Jeder hat das Recht auf Leben." [7]
Jeder hat das Recht auf Leben. Das, so hat das Bundesverfassungsgericht immer argumentiert, gilt auch für das ungeborene Leben im Mutterleib. Und trotzdem steht diese Regelung heute auf wackeligen Füßen, denn auf diese ersten beiden Artikel des Grundgesetzes stützen sich zunehmend auch diejenigen, die Abtreibungen legalisiert sehen wollen. Gerade aufgrund des hier formulierten Selbstbestimmungsrechtes. Es zeigt: Zwei fundamentale Werte stehen in der Abtreibungs-Debatte scheinbar im Widerspruch zueinander: das Lebensrecht des ungeborenen Kindes und das Selbstbestimmungsrecht der Frau.
Wann gilt neues Leben als Leben?
Befürworter einer Legalisierung von Abtreibungen haben zuletzt unterschiedlich auf diesen Knackpunkt reagiert. Zum einen, in dem sie sagten: Das Selbstbestimmungsrecht der Frau müsse vor dem Recht des Kindes auf Leben stehen. Andere stellen das Lebensrecht infrage, in dem sie sich für eine neue Sprachregelung stark machen: Man solle nicht mehr von einem Leben im Mutterleib sprechen, hieß es da plötzlich, es handele sich vielmehr um "Schwangerschafts-Gewebe". Belegt werden sollte das z.B. durch Fotos von abgetriebenen Embryonen, auf denen kaum etwas menschlich Anmutendes zu erkennen war.
Eine geradezu groteske Argumentation in einer Zeit, in der die Wissenschaft immer genauer die verschiedenen Entwicklungsstadien beschreiben kann. Dazu gehört eben auch die Erkenntnis, dass bereits mit der Verschmelzung von Ei und Samenzelle alle erblichen Informationen festgelegt sind.
Mir klingt noch heute die Beschreibung eines Arztes im Ohr, der diesen Fakt in meiner Schulzeit einmal so zusammenfasste: Die befruchtete Eizelle entwickelt sich nicht zum Menschen sondern als Mensch. In meinen Schwangerschaften konnte ich dieses Wunder miterleben. Wenn schon ein paar Wochen nach der Befruchtung das Herz zu schlagen beginnt. Noch ein paar Wochen später sind die Organe ausgebildet und man erkennt auf dem Ultraschall etwa die kleinen Hände und Finger. Es gibt keinen Zeitpunkt in dieser Entwicklung, zu dem man sagen könnte: jetzt ist etwas dazugekommen. Vielmehr ist alles bereits angelegt und entwickelt sich kontinuierlich aus sich heraus. Ein Prozess, der übrigens auch mit der Geburt noch nicht abgeschlossen ist.
Das ist der Grund für das in der Medizinethik diskutierte "Kontinuitätsargument", wonach die Festlegung auf irgendein anderes Datum als die Empfängnis für die Frage, wann menschliches Leben beginne, willkürlich sei. Dieses Argument gehört zu den sogenannten Skip-Argumenten [8], die zur Debatte vor einigen Jahren noch selbstverständlich dazugehörten. Wer kennt sie heute noch?
Dazu gehört auch das "Identitätsargument": Es betont die Identität zwischen dem Menschen und dem Embryo, der er einst war. Konkret gesagt: Aus dem Embryo im Mutterleib meiner Mutter konnte nichts anderes hervorgehen als ich selbst, als der Mensch, der ich heute bin. Das Staunen darüber erkenne ich heute in den Augen meines Sohnes, wenn ich ihm das allererste Ultraschallbild aus meiner Schwangerschaft zeige und er dann ganz selbstverständlich mit dem Finger auf den Kreis zeigt und sagt: "Das bin ich in Mamas Bauch!" Was auch sonst?
Mit diesen Argumenten im Hintergrund diskutierten wir in meinem Studium über die philosophische Frage nach dem Person-Sein. Was macht den Menschen zur Person? Kann man ihm das Person-Sein unter gewissen Umständen absprechen?
Mehr Beistand für Frauen in Not
Ich frage mich beim Blick auf die Debatte heute: Wo sind diese Fragen geblieben? Es scheint, als würde die Frage nach dem Selbstbestimmungsrecht der Frau, die auch eminent wichtig ist, alle weiteren Fragen überdecken. Dabei müssen alle Dimensionen angeschaut werden, sie müssen kontrovers diskutiert werden. Denn eines ist doch völlig klar: Beim Thema Abtreibung sind immer zwei Leben existentiell betroffen. Ich finde: Bemühungen, diesen Fakt auszublenden, sind des Themas unwürdig. Sie stehen nicht für die Aufrichtigkeit, die es für diese Debatte braucht.
Es gibt keine einfache Lösung, wenn eine Frau ungewollt schwanger geworden ist. Das Selbstbestimmungsrecht der Frau gegen den Lebensschutz auszuspielen, führt nicht weiter. Es wird weder der Frau in ihrer Not gerecht noch dem ungeborenen Leben.
Gerade deshalb meine ich, ist es richtig und wichtig, die bestehende Regelung mit dem Paragrafen 218 zu erhalten. Befürworter einer völligen Legalisierung von Abtreibungen verweisen in der Debatte oft auf die Fälle, in denen das Leben der Frau durch die Schwangerschaft konkret bedroht ist. Oder auf Schwangerschaften, zu denen es durch eine Vergewaltigung gekommen ist. Dass Abtreibungen in diesen Ausnahmesituationen möglich sind, ist mit dem Paragrafen 218 klar geregelt. Darum geht es also gar nicht in der aktuellen Diskussion. Zudem machen diese Fälle im Schnitt weniger als fünf Prozent der Schwangerschaftsabbrüche im Jahr aus. [9]
Ich denke aber: Angesichts von über 100.000 Abtreibungen, die es derzeit in Deutschland jährlich sind [10], Tendenz steigend, muss es Aufgabe des Staates, aber auch der ganzen Gesellschaft und in besonderer Weise der Kirche sein, ungewollt schwangeren Frauen beizustehen. Ihnen zu zeigen, dass der empfundene Widerspruch zwischen Selbstbestimmungsrecht der Frau und Lebensrecht des Kindes möglicherweise aufgelöst oder zumindest abgeschwächt werden kann – und zwar zugunsten beider. Dafür braucht es eine kompetente Beratung, die aufklärt über den Status des Embryos im Mutterleib.
Auch über die gesundheitlichen Folgen für die Frau bei einer Abtreibung muss gesprochen werden. Eine erst kürzlich erschienene zusammenfassende Studie vom Wiener Institut für Bioethik stellt dabei fest, dass ein Schwangerschaftsabbruch mit einem erhöhten Risiko für psychische Gesundheitsprobleme verknüpft ist oder bereits bestehende psychische Probleme verstärkt. Uneinig ist man sich allein in der Frage, warum das so ist.
Zu einer kompetenten Beratung kann auch gehören, die Möglichkeit, das Kind nach der Geburt zur Adoption freizugeben, anzuschauen – wenn die Situation der Frau ein dauerhaftes Leben mit dem Kind einfach nicht möglich macht.
Zu einem würdigen Umgang mit diesem Thema gehört nicht zuletzt auch das gemeinsame Überlegen im Umfeld der schwangeren Frau, wie die kommenden Herausforderungen gemeinsam angegangen werden können.
Eine funktionierende Gesellschaft muss bereit sein, Verantwortung zu übernehmen für jeden Mitmenschen. Ich meine: Eine Gesellschaft, die dagegen den Weg zur Abtreibung immer mehr erleichtert, geht dieser Verantwortung auch aus dem Weg.
Darum ist es auch Aufgabe der Kirchen, für den unbedingten Schutz des Lebens einzutreten. Die "Woche für das Leben" wäre dafür geeignet, dies mit einer gemeinsamen starken Stimme zu tun. Denn die christliche Botschaft ist immer dem Leben verpflichtet.
Die redaktionelle Verantwortung für die Sendung hat Martin Korden.
Musik:
Steve Reich – Three Movements for Orchestra. 2
Dustin O’Halloran – Mother
[1] https://www.horeb.org/programm/news-beitraege/details/news/freiheit-zu-abtreibung-kommt-in-die-franzoesische-verfassung/
[2] https://www.dw.com/de/freiheit-zur-abtreibung-soll-in-frankreichs-verfassung/a-68404039
[3] Ebd.
[4] https://www.gesetze-im-internet.de/stgb/__218.html#:~:text=Strafgesetzbuch%20(StGB),Jahren%20oder%20mit%20Geldstrafe%20bestraft.
[5] https://www.bmfsfj.de/resource/blob/95282/ed384270cbdec0132e2ccfb335561982/schwangerschaftsberatung---218-data.pdf
[6] https://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_1.html
[7] https://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_2.html
[8] https://www.claudius.de/schueler/lexikon/skip-argumente
[9] "Eine medizinische oder kriminologische Indikation war in 4,1 bzw. 0,1 Prozent der Fälle die Begründung für den Schwangerschaftsabbruch." Aus: https://www.bpb.de/kurz-knapp/zahlen-und-fakten/soziale-situation-in-deutschland/61829/schwangerschaftsabbrueche/
[10] https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Schwangerschaftsabbrueche/_inhalt.html