Die Reichenau! Diese gesegnete Insel im Bodensee. Weltkulturerbe seit dem Jahr 2000. Ich erinnere mich an meinen ersten Besuch, es war 2011. Ich bin die zwei Kilometer auf dem Damm vom Festland geradelt, unter Pappeln. Rechts und links Schilf und Moor, ein uriges Naturschutzgebiet. Dann gleich die erste romanische Kirche. St. Georg, außen herb, innen ein farbenprächtiges Bilderbuch. Rund zwei Kilometer weiter die nächste Kirche, das heutige Münster, im frühen Mittelalter Kirche des berühmten Klosters, mit ihrem wunderschönen altdeutschen Klostergarten. Und dann noch die dritte romanische Kirche: St. Peter und Paul, ganz am Ende der Insel. Alle drei idyllisch in die Landschaft gebettet, sanfte Hügel, kaum befahrene Straßen, die Uferpromenade, nur wenig Touristen.
Ich war gepackt von dieser Insel, von dieser Reise in die Vergangenheit, von der Stille. Vom schieren Wissen, dass dieser Boden hier unter mir, vom 8. bis 12. Jahrhundert eines der bedeutendsten europäischen Zentren war: Zentrum des christlichen Glaubens, der Wissenschaft, der Bildung und der Kunst. Doch: Auf welchem Weltwunder ich da wirklich herumspazierte, das war 2011, bei meinem ersten Besuch, noch kaum wirklich zu erleben. Die Reichenau ruhte noch, so schien mir, in einem sanften Dornröschenschlaf.
Heute, im Jahr 2024, heißt es: 1300 Jahre Klosterinsel Reichenau! Das Jubiläum wird groß gefeiert mit einer phänomenalen Ausstellung des Landes Baden-Württemberg. Die Insel selbst ist ein gut beschildertes Freiluftmuseum geworden, es gibt Festivals, zahlreiche Führungen, eine Handy-App für Individualentdecker, die Münsterschatzkammer wurde völlig neu gestaltet, mit ihren prachtvollen goldenen Reliquienschreinen, ebenso die Klostergärten und das Reichenau-Museum. Und im nahen Konstanz werden spektakuläre Kunstschätze der Reichenau gezeigt. 250 Original-Objekte! Die Reichenau ist zum Leben erwacht. Und wir werden dabei sein!
1300 Jahre Klosterinsel Reichenau. Am Anfang steht, wie so oft, eine Legende. Im 8. Jahrhundert will der alemannische Fürst Sintlas das Christentum in die Region bringen. So holt er einen missionierenden Wandermönch mit Namen Pirmin ins Land, er soll eine Kirche bauen und die heidnischen Alemannen bekehren. Pirmin wählt die noch wilde "Au", die Insel, für sein Vorhaben.
"Als Pirminius, der Verehrer des Herrn, die Insel betrat, geschah es auf Gottes Befehl, dass jene ganze schreckliche Brut von verschiedenen und ungewöhnlichen Würmern von der anderen Seite aus kriechend und schielend den Weg ins tiefe Wasser suchte. Und drei Tage und Nächte war die ganze Oberfläche des Sees bedeckt von einer erstaunlichen Menge grässlicher Schlangen." (Quelle: Pirmin-Vita)
Schlangen und Würmer, das stand im Mittelalter für das Böse an sich. Es soll die ganze Insel vor der Ankunft Pirmins beherrscht haben. Doch dann:
"Jener Ort hatte von dem Tag an, als Christi Bischof Pirminius ihn betrat, gesunde Luft, angenehmes fließendes Wasser, fruchtbaren Erdboden, schattige Bäume und sehr ergiebige Weinberge." (Quelle: Pirmin-Vita)
Hat die Legende einen wahren Kern? Da streiten sich die Gelehrten. Wahr aber ist wohl, dass um das Jahr 724 besagter Pirmin, vermutlich ein irischer Benediktiner, ein Kloster auf der Insel bauen lässt. Und schon bald darauf beginnt die Blütezeit, das Goldene Zeitalter der Reichenau. Parallel zum Aufstieg der Karolinger mit Karl dem Großen wird die Reichenau zu einer der bedeutendsten Abteien des Reiches.
Ihre Äbte: Sie werden eingesetzt im gesamten Reich als Räte, Beamte, Diplomaten oder Prinzenerzieher.
Die Klosterschule: Sie bringt zahlreiche europäische Gelehrte hervor.
Die Reichenauer Schreibschule: Sie produziert prachtvolle Handschriften und herausragende Buchmalereien.
Die Netzwerke: Sie reichen von Irland und Nordafrika bis nach Byzanz.
Vor allem aber wird auf der Reichenau natürlich gebetet, in rund 20 Kirchen und Kapellen, gebaut nicht nur für Mönche, sondern auch für die einfachen Gläubigen. Im Kloster selbst leben bis zu 100 Mönche. Unter ihnen eine der berühmtesten Persönlichkeiten des frühen Mittelalters: Walahfried Strabo.
"So nenne ich mich selbst, Walahfried Strabo. Ums Bewundern meines Äußeren habe ich nie jemanden gebeten. Nur um das meiner poetischen Bemühungen. Und meines Gartens." (Quelle: Ausschnitt Hörspiel Tanja Kinkel, "Linon Medien KG")
Walahfried Strabo, wörtlich Walahfried, der Schielende - hier in einem Hörspiel der Bestseller-Autorin Tanja Kinkel, ebenfalls Teil der Landesausstellung. Walahfried gehört zu den bekanntesten Dichtern seiner Zeit, schreibt Meisterwerke des frühen Mittelalters. Schon mit 18 Jahren verfasst er die originelle "Visio Wettini", die Vision eines alten Mönches nach einem langen Leben im Kloster. Ebenso bekannt auch sein Lehrgedicht "De cultura hortorum", kurz "Hortulus", Gärtlein. Die erste Anleitung zum Gartenbau, als Gedicht: Heilkräuter, Küchen- und Zierpflanzen werden hier beschrieben, die meisten haben wir noch heute in unseren Gärten. Besichtigen lässt sich so ein Hortulus bis heute: Der neu angelegte Klostergarten am Reichenauer Münster ist genau nach den Beschreibungen im Gedicht angelegt!
Nach der frühen Blüte kommt es im 10. Jahrhundert zu einer zweiten – das Silberne Zeitalter der Reichenau. Nun regieren die vielen Ottos, die Ottonen. Wie vermutlich schon Karl der Große ist auch Otto II. mit seiner aus Byzanz stammenden Frau Theophanu auf der Insel zu Gast. Um das Jahr 1000 entsteht dann auch das, was die Kirche St. Georg zur abendländischen Kunststätte der Premiumklasse macht: die flächendeckenden Wandmalereien im Mittelschiff. Auch die Reichenauer Buchmalereien erreichen ihren Höhepunkt. Rund 70 sind weltweit erhalten, 10 davon sind für die Ausstellung zurückgekehrt, zu sehen im Archäologischen Landesmuseum in Konstanz. Phantastische Goldschmiedearbeiten entstehen auf der Reichenau. Ein Haupt-Protagonist des Silbernen Zeitalters ist der Mönch Hermann Contractus. Schon seinen Zeitgenossen gilt der Universalgelehrte geradezu als Wunder.
"Das Wesen der Zeit zu ergründen, das habe ich nun schon so lange versucht. Gelungen ist mir nur, endlich all die verschiedenen Zeitrechnungen miteinander in Einklang zu bringen. […] Ich war nicht der Erste, der nach dem Jahr der Geburt unseres Herrn Jesus Christus zählt, bei weitem nicht. Doch ich darf sagen, dass meine Berechnungen stimmen! Dem Wesen der Zeit jedoch bin ich nicht näher gekommen dadurch." (Quelle: Ausschnitt Hörspiel Tanja Kinkel, "Linon Medien KG")
Herrmann Contractus über sein "Chronicon", eine Weltgeschichte von Christi Geburt bis zum Jahr 1054, in unserer heutigen Zeitrechnung! Noch viele andere bahnbrechende Leistungen gehen auf Hermann zurück. Astronomische Instrumente, mithilfe arabischer Überlieferungen konstruiert. Uhren, sogar eine Taschensonnenuhr für Hirten, mit der sich auch Minuten messen lassen. Die Unterteilung der Stunde. Dies alles ist umso erstaunlicher, als Herrmann wohl schon von Kindheit an fast komplett gelähmt ist.
"Er war derart durch die Grausamkeit der Natur an den Gliedmaßen verrenkt, dass er sich von der Stelle, auf die man ihn niedersetzte, nicht ohne Hilfe wieder wegbewegen, noch sich auf die eine oder die andere Seite wenden konnte." (Zitat aus: Hansjakob Heinrich, Hermann der Lahme, von der Reichenau)
So schreibt der Mönch Bertold, rechte Hand und Biograph Herrmanns. Hermann Contractus oder auch Hermann der Lahme ist ein mittelalterlicher Stephen Hawking. Auch er kann sich mündlich kaum artikulieren, nur mit Hilfe von Schrifttafeln kommunizieren. Und doch prägt er wissenschaftlich tief seine Zeit.
Hermann Contractus ist auch Komponist. Er entwickelt eine der frühesten Notenschriften, vertont eigene Dichtungen mit wunderschönen Melodien, insbesondere innige Marienhymnen wie das berühmte "Salve Regina". Noch heute – 1000 Jahre später – wird es in der ganzen katholischen Welt gesungen. Und doch ist es nur ein einziges Stück aus dem riesigen Choralschatz der Reichenau. Ich sehe mich schon Platz nehmen, bald, im nachgebauten Chorgestühl im Museum Konstanz mit Kopfhörern, lauschend den unzähligen Hymnen, Antiphonen, Offizien…
"Ein Kloster ohne Bücher ist wie eine Festung ohne Waffen." (Zitat: Johann von Salisbury)
Richtig, die unglaublichen Handschriften der Reichenau! Viele wurden für den eigenen Bedarf angefertigt, Messbücher oder Lehrbücher über Grammatik, Rhetorik oder Geometrie. Über 400 Bücher soll die Klosterbibliothek auf der Reichenau gehabt haben, damals weltweit einmalig. Heute noch weit bekannter sind die Prachthandschriften. Etwa der berühmte Gero-Kodex aus dem 10. Jahrhundert: 176 Pergamentblätter mit Evangelientexten für den Gottesdienst, reich verziert mit farbigen Miniaturen – Prachtseiten aus Purpur und Gold, kunstvolle Initialen in Gold und Silber. Und auch diese Glocke ist zu sehen – und zu hören. Stimmt, der Ton könnte beeindruckender sein. Das Alter allerdings kaum: rund 1000 Jahre alt. Die so genannte Bürgli-Glocke wurde erst 1998 wiederentdeckt. Sie ist groß wie ein Eierkochtopf und aus Bronze, hergestellt auf der Reichenau.
Und nach der Silbernen Zeit der Reichenau? Da kam der Niedergang, langsam, schleichend. Neue Klöster gründen sich in der Region, die Reichenau verliert an Bedeutung. Die ersten bürgerlichen Universitäten werden gegründet, drängen die Klöster als Wissensstandorte zurück. Mitte des 18. Jahrhunderts verlassen die letzten Mönche die Insel. 1803 wird die Reichenau dann wie fast alle Klöster des Reiches säkularisiert und enteignet. Kirchen werden abgerissen, Gebäude verfallen. Große Teile von Klosterarchiv und Bibliothek wandern immerhin nach Karlsruhe, in die Badische Landesbibliothek.
Die Geschichte des Klosters Reichenau ist jedoch nicht zu Ende. Im Jahr 2004 gründet sich die Cella Sankt Benedikt. Heute leben auf der Reichenau wieder drei Mönche und zwei Nonnen. Sie widmen sich der Seelsorge von Einheimischen und Touristen. Und jeden Tag drei Mal kann man mit ihnen zusammen beten, in der Kirche St. Peter und Paul: das uralte Stundengebet der Klöster mit seinen Wurzeln bis in die Spätantike.
Auch sonst ist das Mittelalter eigentlich nie verschwunden auf der Reichenau. Noch immer stehen drei Kirchen, die tiefe Romanik atmen. Und dann natürlich die drei Inselfeiertage. Im April das Markusfest, im Frühsommer das Heilig-Blut-Fest, am 15. August dann Mariä-Himmelfahrt. Die Arbeit auf den Feldern ruht, Behörden, Geschäfte, Schulen sind geschlossen. Und wie im Mittelalter werden in einer langen Prozession die Reliquienschreine der Insel-Heiligen durch die Straßen getragen. Die Traditionslinien auf der Reichenau reichen von heute direkt ins frühe Mittelalter und in die Spätantike!
Ich jedenfalls freue mich schon wahnsinnig, wenn ich sie jetzt im Sommer wieder besuche: die "Augia felix", auch "augia dives" genannt, die glückliche Aue, die reiche Insel – die heutige "Reichenau". Wir werden lange in den Kirchen verweilen, die Wurzeln unserer abendländischen Kultur aufsaugen. Wir werden staunen in den Museen und der Schatzkammer. Wir werden das Stundengebet beten mit den Nonnen und Mönchen. Und natürlich werden wir auch baden, gut essen, wandern, genießen. Tu felix augia!
Die redaktionelle Verantwortung für die Sendung hat Martin Korden.
Musik:
Roland Kroell – Elphin
Roland Kroell – Glastonbury II
Nova Schola Gregoriana – Adorate Deum
Maîtrise des Pays de Loire – Salve Regina
Gregorian Lounge – Holy Days of Glory
sowie Atmo Bürgli-Glocke: Kurt Kramer/Landesamt für Denkmalpflege/Konradsblatt