"Stille Nacht, heilige Nacht" – es ist noch eine Woche hin bis zur Heiligen Nacht, aber schon hört man das Lied rauf und runter, besonders auf den Weihnachtsmärkten. Warum eigentlich Weih-Nacht? Warum den Geburtstag Jesu nicht am hellen Tag feiern oder in der schönsten Sommerzeit? Die Tage werden jetzt immer kürzer, die nächtliche Dunkelheit nimmt zu, und vor allem das Warten auf den großen Umschwung, die Wintersonnenwende.
Das war gewiss ein Grund, warum die römischen Christen Anfang des 4. Jahrhunderts den Geburtstag Jesu gerade in diese Jahreszeit gelegt haben: der Umschwung zur neuen Lichtfülle, Sonnen- und Lebenswende. Aber die Geschichte geht viel tiefer. Die Nacht gehört ja zum Leben zwischen Wiege und Bahre. Das Licht der Welt erblicken können wir nur, weil wir schon neun Monate im Dunkel des Mutterschoßes waren. Zugespitzt könnten wir sagen: ohne Nacht kein Tag.
Im Kontrast zum Dunkel begreifen wir umso mehr, welches Glück das Licht ist. Erst recht in Zeiten der Lichtverschmutzung ist aber auch neu zu entdecken, wie heilsam dieses Dunkel sein kann, der Geheimnisraum der Diskretion und Intimität, und sogar das Abenteuer stockfinsterer Nacht. Dunkel ist nicht gleich Finsternis. Auch die Nacht kann eine Zeit voller Glück sein: gesunder Schlaf und gute Träume, Freuden der Liebe oder schöpferische Arbeit! Welche Lust kann eine Nachtwanderung sein mit all ihren Geheimnissen. Aber natürlich steht Nacht auch für unheimliche Dunkelheit und regelrechte Finsternis, endlos z.B. die Nächte ohne Schlaf und Ausweg. Wann wird’s endlich hell?
Beides ist wichtig, um das Wunder der Weihnacht zu verstehen: das erhellende Licht schon und auch die ganze Finsternis noch in der Welt. Deshalb ja auch diese adventliche Sehnsucht wie im Lied Jochen Kleppers: "Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern, die Nacht ist schon im Schwinden, macht euch zum Stalle auf … ."
Keiner hat das Bild von der dunklen Nacht so in den Mittelpunkt der Menschwerdung gestellt wie der Spanier Juan de la Cruz, also Johannes vom Kreuz. Er wählt die Zeit vom Abend bis zum Morgen als Symbol für den spirituellen Lebensweg überhaupt, für den Weg der Christwerdung. Das hat viel mit Weihnachten zu tun, und natürlich mit seiner Biografie. Am 15. Dezember 1591 ist er gestorben, mit 49 Jahren, also heute vor mehr als 400 Jahren, im Jahrhundert der Reformationen. Manche nennen ihn einen katholischen Bruder Martin Luthers, jedenfalls gehört dieser Karmelitermönch zu den größten Glaubenslehrern der Christenheit, Mystiker und Dichter zugleich.
Er war Freund, Schüler und auch Lehrer von Teresa von Avila, jünger als sie und von ihr hochgeschätzt. Beide waren höchst engagiert in der Reform des Ordens und der Kirche, und solch eine Transformation fängt ja immer bei einem selber an. "Wäre Christus tausendmal in Bethlehem und nicht in dir geboren, du wärest ewiglich verloren", dichtet Angelus Silesius 50 Jahre nach dem Tode von Johannes vom Kreuz. Um diese Gottesgeburt im eigenen Leben geht es Johannes vom Kreuz, um dieses Erwachsenwerden mit Gott und in ihm. Was er in seinem Gedicht "In einer dunklen Nacht" beschreibt und in einigen Büchern kommentiert, beruht auf ureigener Erfahrung – eine lehrreiche Biografie.
"Ohne Halt und doch gehalten,
ohne Licht im Dunkeln lebend,
werd' ich gänzlich mich verzehren.
Losgelöst ist meine Seele.
Nichts Geschaff´nes hält sie fest.
Über sich hinausgehoben
schmeckt sie Leben wie noch nie.
Gott alleine gibt ihr Halt."
Teresa von Avila hatte den deutlich jüngeren Johannes, für die Ordensreform gewonnen; zusammen mit den Frauen sollten auch die Männer wieder zum Gründergeist des Ursprungs zurückkehren. Das erregte natürlich auch massiven Widerstand. Reformunwillige Ordensbrüder nahmen Johannes kurzerhand fest; in einer geheimen Nacht- und Nebelaktion brachten sie ihn von Avila nach Toledo und sperrten ihn dort in Einzelhaft ein, unter miesesten Bedingungen und auf engstem Raum, in einer ehemaligen Toilette. Und das ganze neun Monate lang. Kein Mensch wusste, wo er steckt; Teresa schrieb deshalb sogar dem König, völlig verzweifelt auf der Suche nach ihrem Freund und Mitstreiter.
In dieser dunklen Nacht ganz realer Kerkerhaft entstehen bewegende Glaubenslieder, förmliche Liebeslieder, auch das Gedicht von der dunklen Nacht. Offenkundig ist dem gequälten Mönch da eine derartige Gottinnigkeit zugewachsen, dass fortan sein ganzes Verhalten und Wirken davon geprägt ist. Bis zuletzt hat er den Widerstand vieler seiner Mitbrüder böse zu spüren bekommen, aber in seinem ganzen Werk findet sich kein einziges Wort der Bitterkeit. Als eine Mitschwester sich bei ihm bitter über ihre reformunwilligen Kolleginnen beschwerte, schrieb er ihr:
"Ja, es ist schrecklich in die Hände von Menschen zu fallen; Ja, es ist schrecklich in die Hände von Menschen zu fallen. Aber wenn Sie keine Liebe finden, bringen Sie Liebe und Sie werden Liebe finden."
So rät einer, der sich von Gott finden ließ und ihn gefunden hat. Nicht zufällig nennt er sich Johannes vom Kreuz. Im Durchkreuzen aller egoistischen Haltungen ist er frei geworden für Gott und den Nächsten. Solcher Glaube ist wirklich ein wunderbares Licht in allen Lebenslagen: sich derart mit Gott verbunden wissen zu dürfen – welch eine Kraftquelle! Aber es ist ein dunkles Licht: Zu viel Widrigkeiten bestimmen das Leben noch, zu viel muss noch bestanden sein. Und das ist ein lebenslanger Weg aufrichtiger Sehnsuchtsarbeit und wirklichen Suchens und Betens, das führt zu wirklichem Frieden und innerer Widerstandskraft.
"Glaube macht sichtbar, was noch nicht zu sehen ist."
So heißt es einmal im Neuen Testament (vgl Hebr 11,1). Man könnte salopp auch sagen: Mit dem Gottesglauben sieht man besser, und der hat mit Hoffnung und Advent zu tun. Wir schauen auf bessere Zeiten, und doch fehlen sie noch. Als Christ möchte man Jesus nachfolgen und Gott erfahren, aber welch ein Weg bis dahin. Glauben heißt, sich von weither gesehen wissen, von Gott selbst gewollt und geliebt – und das, obwohl man nichts davon sieht und spürt. Als wär‘s ein Blindflug aufeinander zu, ein wechselseitiges Suchen nach einander, bis man sich ganz und für immer findet.
Deshalb stellt Johannes vom Kreuz das biblische Bild von der dunklen Nacht in den Mittelpunkt. Ziel ist natürlich der frühe Morgen, wenn der Morgenstern aufgeht, der niemals mehr untergeht. Dazu aber braucht es den Mut zur Nachtwanderung. Drei Phasen oder besser Dimensionen unterscheidet Johannes vom Kreuz dabei: die Nacht der Sinne, die Nacht des Geistes und die Nacht der endgültigen Gottinnigkeit, also des wirklichen Sonnenaufgangs im eigenen Herzen.
Zuerst die Nacht der Sinne oder der Läuterung, wie Johannes sagt. Diese Startsituation kennen alle, die sich ernsthaft auf einen spirituellen Weg locken lassen und z.B. das innere Beten entdecken. Wie viele Widerstände und Ausreden tauchen da auf, wenn man wirklich innehalten will! Wie viel Gedanken und Ablenkungen kommen störend dazwischen, wenn man die Augen schließt. Johannes vom Kreuz vergleicht es mit dem Beginn einer Entziehungskur. Denn seiner Meinung nach sind wir alle suchtkrank: abhängig von Dingen, die uns beherrschen und nicht guttun.
Das können eigene Verhaltensmuster sein, materielle Dinge, aber auch Mitmenschen, und immer ich selbst oder meine schlechtere Hälfte. Je mehr ein Mensch innehält und sich seiner Wirklichkeit ganz aussetzt, desto mehr begegnet er seinen dunklen Seiten und manch finsteren Gestalten. Ehrliches Anschauen und Aussprechen tut dann gut, auch der Mut, sich Rat zu holen und sich begleiten zu lassen.
Für Johannes ist nichts heilender als Gottvertrauen und treues Beten, und dann der Mut zum Aufräumen und Loslassen. Kontemplation heißt ja hinschauen – auf Gott und mich selbst, nach innen und dann auch nach außen. Für solch eine Entziehungskur braucht es alle Kraft und Konsequenz, nein festes Gottvertrauen. Diese Nachtwanderung ist nichts für Feiglinge, und gute Begleitung ist hilfreich. Aber gehen, sprich glauben und unterscheiden muss ich schon selbst. Was gilt es loszulassen, weil es mich abhängig hält und vom großen Lebensziel abtreibt?
Noch herausfordernder ist die Mitternacht, die Nacht des Geistes. Da geht es um falsche Abhängigkeiten im Denken, Wollen und Fühlen. Wir finden uns auf der inneren Bühne vor, auf der der Tanz um das goldene Ego stattfindet: mehr Ansehen, mehr Macht, mehr Spiritualität, immer mehr Ich und mein Image – noch versteckt womöglich in der besten Absicht und der frömmsten Gebärde. Wer sich da von Gottes Werben berühren lässt, erfährt eine ganz neue Ausrichtung; er wird verwandelt. Aber wie hart kann es sein, diese inneren Abhängigkeiten überhaupt erst zuzulassen und anzuschauen; wie lange kann der Verlernprozess dauern; wie groß können die Zweifel werden, ob sich diese ganze Seelenarbeit überhaupt lohnt, ob es diesen liebenden Gott überhaupt gibt.
Johannes beschreibt diese Dimension illusionslos als harte Zeit des Durchhaltenns. Und zugleich als Zeit des beginnenden Durchbruchs. Der Mensch kann sich immer mehr Gott anvertrauen und überlassen; ganz offen und empfänglich sieht er alles, was voranführt, als Gottes schöpferisches Wirken. Wie im Adventslied von Jochen Klepper aus finsteren Nazi-Zeiten:
"Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern… und wer zu Nacht geweinet, der stimme froh mit ein…. Gott will im Dunkeln wohnen, und hat es doch erhellt."
So kommt die dritte Dimension der dunklen Nacht ans Licht, worauf alles von Anfang schon hinzielte: die Gewissheit, dass Gott immer schon da ist. Johannes spricht unverblümt von Vereinigung von Gott und Seele, ja von Hochzeit, von heiliger Kommunion. Wie Christus weihnachtlich geboren und österlich vollendet da ist, so erfährt der Mensch innigste Gottesgegenwart – und die lässt alles neu sehen: die Welt als wunderschöne Schöpfung trotz allem und das Menschwerden als großartiges Geschenk, daran mitzuwirken, dass Liebe möglich bleibt und allen Hass überwindet.
Die dunkle Nacht des Glaubens hat jedenfalls nichts mit Depression zu tun; sie kann viel mehr als ein ganzmenschlicher Reifungsprozess verstanden werden. Der Mensch kann endlich werden, was er in Wahrheit schon ist: Gottes Ebenbild, Gottes Sohn und Tochter, ja Gottes Partner und Partnerin, mit dem weihnachtlich Erstgeborenen an der Spitze der Bewegung.
Der Glaubensweg gleicht also noch einer Nachtwanderung: noch sind wir adventlich unterwegs; aber je länger im Dunkel, desto besser die Orientierung. Die Augen auch des Herzens passen sich an wie Nachtsichtgeräte. Im Lichte dessen, was uns weihnachtlich-österlich blüht, können wir illusionsloser schauen, in welch falschen Abhängigkeiten wir stecken. Wir können sie anschauen und verwandeln lassen. Mehr noch: die Wandlung ist ständig schon im Gang und arbeitet in uns als Sehnsucht nach Freiheit. Denn Gott ist längst immer schon am Wirken und am Werden. Ihm glauben, heißt ihm Raum geben. Aber Sehen können wir noch nicht. Realistisch betont das Johannes: Gott bleibt "für den Menschen in diesem Leben nicht mehr und nicht weniger als dunkle Nacht". Zwar gibt es jetzt schon wirkliche Sternstunden und selbst in der finstersten Kerkerhaft kann es Erleuchtung und Trost geben, wie bei Johannes. Aber es sind halt noch genug schwierige Weg-Etappen und finstere Gefahren zu bestehen, besonders in Gestalt von Resignation und Abschottung.
Ja, um nochmal Jochen Kleppers Lied zu zitieren: "noch manche Nacht wird fallen/ auf Menschenleid- und -schuld./ Doch wandert mit uns allen/ der Stern der Gotteshuld." Konkret heißt das schon jetzt: "Wo Sie keine Liebe finden, bringen Sie Liebe, und Sie werden Liebe finden."
Die redaktionelle Verantwortung für die Sendung hat Martin Korden.
Musik:
Kerstin Haag & Thomas Wahl – Die Nacht ist vorgedrungen
Kerstin Haag & Thomas Wahl – In meine einsam stille Nacht
Kerstin Haag & Thomas Wahl – Die Nacht ist vorgedrungen