Seit unzähligen Jahrzehnten beten Menschen weltweit für den Frieden auf Erden. Trotzdem gibt es immer wieder Krieg. Wie kann die Suche nach etwas mehr Frieden gelingen?
Helmut Schmidt, dem damaligen Bundeskanzler, wird Anfang der 80er-Jahre auf seine nüchtern-norddeutsche Art ein Zitat zugeschrieben, das es in sich hat:
"Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen."
Vielleicht etwas pampig hat er das geantwortet, als er nach politischen Visionen gefragt wurde: Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen! – Oder vielleicht in die Kirche?, möchte ich ergänzen. Was wäre die nämlich, wenn es dort keine Menschen mit Visionen gegeben hätte – bei den Propheten angefangen und dann natürlich Jesus selbst. Spannend wird es, wenn das zusammenkommt: Vision – Politik … und Kirche. So wie heute vor ziemlich genau 60 Jahren, im April 1963.
Die Welt war da in der heißen Phase des Kalten Krieges. Die Atommächte Sowjetunion und USA standen sich in Blöcken feindlich-belauernd gegenüber. Fast wäre im Herbst 62 die atomare Aufrüstung beider Länder in einem Krieg eskaliert. Angesichts der brenzligen politischen Lage schreibt der damalige Papst Johannes XXIII. in einem visionären Rundschreiben:
"Der Friede auf Erden, nach dem alle Menschen zu allen Zeiten sehnlichst verlangten, kann nur dann begründet und gesichert werden, wenn die von Gott gesetzte Ordnung gewissenhaft beobachtet wird." [1]
Der Friede auf Erden, auf Latein "Pacem in terris", so lauten die ersten Worte dieses fünf Kapitel und 90 Kapitelnummern umfassenden Rundschreibens – Enzyklika genannt. Die Sehnsucht nach Frieden ist ja umso deutlicher spürbar, wenn er bedroht ist. Und das war Anfang der Sechziger so: Es war auch die Zeit kurz nach dem Bau der Berliner Mauer: hochexplosiv die Lage – weltweit. Da kam Papst Johannes mit seiner Friedensvision, die die tödliche Logik von Aufrüstung, Krieg und Besiegen durchbrach.
Ob der Papst damit vielleicht sogar einen dritten Weltkrieg verhindert hat? Zumindest äußerte sich damals der oberste Kommunist, Sowjet-Chef Chruschtschow, positiv zum Papstschreiben. Eine ausführliche Zusammenfassung erschien kurz darauf in einer Moskauer Zeitschrift. Und der damalige US-Präsident Kennedy, ein Katholik, soll über die Enzyklika gesagt haben:
"Als Katholik bin ich stolz auf sie, als Amerikaner habe ich von ihr gelernt."
Eine päpstliche Vision für die ganze Welt
Pacem in terris – diese Enzyklika, dieses Rundschreiben, unterscheidet sich in vielem von dem, was man sonst so von der Kirche jener Zeit gewohnt war: Erstmals richtete es sich nicht nur an Bischöfe und den inner-katholischen Zirkel, sondern ausdrücklich an "alle Menschen guten Willens". Aus damaliger Sicht war sie geradezu revolutionär offen für die Welt und ihre Probleme.
Was heute vielleicht selbstverständlich klingen mag, zumal in westlich geprägten Ohren, war damals eine Sensation: Der Papst erkennt die Menschenrechte an. Erst wenige Jahre zuvor hatte die UN-Charta, der Gründungsvertrag der Vereinten Nationen, sie verbindlich formuliert. Der Papst schrieb damals in Pacem in terris:
"Jedem menschlichen Zusammenleben, das gut geordnet und fruchtbar sein soll, muss das Prinzip zugrunde liegen, dass jeder Mensch seinem Wesen nach Person ist. Er hat eine Natur, die mit Vernunft und Willensfreiheit ausgestattet ist; er hat daher aus sich Rechte und Pflichten, die unmittelbar und gleichzeitig aus seiner Natur hervorgehen. Weil sie allgemein gültig und unverletzlich sind, können sie auch in keiner Weise veräußert werden." [2]
Es gibt keinen gerechten Krieg
Pacem in terris ist eine Vision im Angesicht des drohenden Krieges. Der Papst blickt darauf, was den Menschen ausmacht; er blickt auf das menschliche Zusammenleben, die Staaten und deren Miteinander in der Völkergemeinschaft – und was das alles für Christen als Auftrag bedeuten könnte. Manches klingt auch heute, 60 Jahre danach, noch hochaktuell – bei aller sprachlichen Zeitbedingtheit und Veränderung seitdem.
"Die Menschen können nicht ihrer Natur nach anderen überlegen sein, da alle mit der gleichen Würde der Natur ausgezeichnet sind. Folglich unterscheiden sich auch die staatlichen Gemeinschaften nicht voneinander hinsichtlich der ihnen von Natur aus innewohnenden Würde; die einzelnen Staaten gleichen nämlich einem Körper, dessen Glieder die Menschen sind." [3]
Es gibt keinen gerechten Krieg. Diese Aussage des Papstes ist damals revolutionär neu; war doch die Lehre vom gerechten Krieg bis dahin tief verwurzelt – auch in der kirchlichen Sicht: die Meinung, dass man mit Krieg Gerechtigkeit herstellen könnte, wenn nur der Aggressor besiegt wird.
Aber Papst Johannes sieht das anders. Krieg bedeutet Zerstörung. Vielleicht kann mit Gewalt der Aggressor beseitigt werden, aber angesichts der atomaren Bedrohung vielleicht eben auch nur um den Preis der eigenen Vernichtung. Krieg richtet immer Leid an, ist immer ein Versagen der Menschlichkeit. Das Leid setzt sich fort über viele Generationen; auch dann noch, wenn die Waffen schweigen.
Der neue Ansatz: Die Suche nach einem gerechten Frieden. Das ist der Rahmen, bei dem nicht das Recht des Stärkeren gilt, mit Siegern und Besiegten, sondern die wechselseitige Anerkennung der Freiheit und gleichen Würde des anderen. Das ist eine Zukunftsinvestition für den Frieden.
Was es für Frieden braucht
Frieden auf Erden. Nie wieder Krieg! Klingt gut. Aber – mal ehrlich – ist das nicht naiv? Damals angesichts der atomaren Bedrohung – und heute 60 Jahre danach? Im Jahr zwei des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine. Im Jahr X vieler anderer Kriege weltweit – die gerade nicht so in den Nachrichten sind und doch täglich Menschenleben auslöschen, Existenzen vernichten und Zukunft gefährden.
Die Vision vom Frieden, wie sie schon in der Bibel vorkommt, und wie Papst Johannes sie in seiner Friedensenzyklika formuliert hat, ist die bleibende Motivation dazu. Es braucht die nüchterne Analyse für das, was gerade jetzt im wahrsten Sinn des Wortes not-wendig ist, was die Not wenden kann.
Ich möchte Ihnen dazu eine Übung vorschlagen: Das Wort "Frieden" hat sieben Buchstaben. Das ist also für jeden Tag der Woche einer. Die Übung: Sich jeden Tag einen neuen Buchstaben aus dem Wort Frieden vornehmen. Und damit das Wort "Frieden" persönlich durchbuchstabieren und mit Leben füllen. Ich mach es hier mal im Schnelldurchlauf: F-R-I-E-D-E-N. – Frieden: das könnte – auch im Licht der Friedensvision von Papst Johannes – heute heißen:
F – wie Freiheit
Freiheit ist Menschenrecht: Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Freiheit, sich zu bewegen und aufzuhalten wo und wohin ich will, einen Beruf nach Wunsch zu ergreifen, Recht auf Leben, Wohnung, Nahrung. Das alles meint Freiheit... und zwar für alle Seiten. Freiheit hat man ja nicht für sich allein. Sie ist immer dort an der Grenze, wo sie die Freiheit des anderen einschränkt, wo sie seine Würde verletzt. Sonst wird sie zum Recht des Stärkeren und schafft Unfriede. Freiheit: Das mal einen Tag lang wirken zu lassen, was es für mich bedeutet und wie sich meine Freiheit auf andere auswirkt: Das kann schon etwas verändern.
Und dann am zweiten Tag beim Frieden-Durchbuchstabieren das R:
R – wie Rücksicht
Oder wie Respekt. Für alle Menschen. Auch für Minderheiten. Rücksicht blickt dabei nicht nur zurück, sondern genauso zur Seite, zum anderen, dem ich und der mir mit Respekt begegnet. Und Rücksicht blickt so auch nach vorn. Einen Tag lang rücksichtsvoll-achtsam leben. Das ist schon ein sehr konkreter Schritt voraus – und hin zum Frieden.
I – wie Innerer Friede
Mit sich selbst im Reinen sein. Inneren Frieden finden. Was brauche ich dazu? Wie kann ich das unterscheiden, was mir im Durcheinander des Alltags schadet und was mir Halt und Zuversicht gibt? Was versetzt mich da in Unruhe – und wo finde ich durch die Unruhe hindurch dann doch zur Ruhe und zum inneren Frieden? Vielleicht ist gerade das die Stimme Gottes, mit der er da zu mir spricht?
E – wie Einsatz oder Engagement
Ich denke an die vielen, die selbstlos geholfen haben, als die Nachrichten vom Krieg in der Ukraine ganz konkret wurden und Menschen nicht nur sprichwörtlich vor der Tür standen. Wie großartig waren und sind da einsatzbereite, engagierte – oft Ehrenamtliche. Frieden kommt näher durchs solidarische Tun. Und ich bin sicher: Bei E wie Einsatz und Engagement fällt Ihnen schon selbst jede Menge ein.
D wie Du
Das Ich gehört natürlich auch dazu, denn nur "ich" kann etwas verändern. Wenn ich aber nicht beim Ich stehen bleibe und nicht nur um mich selbst kreise, erfahre ich, warum ich etwas tue und mit wem und für wen. So entsteht Beziehung, Solidarität und Gerechtigkeit – drei tragende Säulen für den Frieden.
E wie Eid zur Gewaltfreiheit
Da haben sich vor einigen Jahren Menschen aus der katholischen Friedensbewegung zusammengetan im Geist der Friedensvision von Papst Johannes. Und sie haben einen solchen Eid zur Gewaltfreiheit formuliert. Sie schwören – oder sollte ich besser sagen: beten ihn – zur gegenseitigen Motivation, zur Gewissenserforschung und um dem Frieden im Alltag ein bisschen näher zu kommen. Ob es nun ein Schwur sein muss oder nicht: Mit dem "Geloben" zeige ich jedenfalls den entschiedenen Willen zum Tun, damit Frieden gelingt:
"(...) Ich gelobe, die Liebe und das Beispiel Jesu in meinem Leben zu verwirklichen: (...) indem ich mich weigere, angesichts von Provokation und Gewalt Vergeltung zu üben; indem ich gewissenhaft und einfach lebe, damit ich anderen nicht die Mittel zum Leben vorenthalte; indem ich mich aktiv gegen das Böse wehre und gewaltlos daran arbeite, den Krieg und die Ursachen des Krieges aus meinem eigenen Herzen und vom Angesicht der Erde zu beseitigen.(...)" [4]
Und dann noch der letzte Buchstabe beim Frieden-Durchbuchstabieren: Das N.
N wie Nicole
Ja, Sie haben richtig gehört. Ich denke da an die Schlagersängerin Nicole mit ihrem Lied "Ein bisschen Frieden", mit dem sie 1982 den Grand Prix d'Eurovision gewonnen hat. Das klingt fast naiv angesichts des Leidens, das Kriege verursachen, auch heute. Aber: Musik kann die Herzen bewegen, klingt in Sphären, die Worte allein nicht erreichen. Und so passt das auch zum Abschluss des kleinen Schnelldurchlaufs beim Frieden-Durchbuchstabieren: Sich von Musik anrühren zu lassen, auf diese Weise einen Moment des Friedens finden, wenn ich schon nicht die Welt im Ganzen verändern kann. Wenigstens das gelingt mir dann vielleicht, wenigstens "ein bisschen Frieden".
Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen, hat Helmut Schmidt spöttisch gesagt. – Zum Arzt... – oder in die Kirche, will ich nochmal ergänzen. Denn da ist ein bewährtes "Rezept" das Gebet. Das hilft nicht gegen Visionen, sondern dafür, dass Visionen im Leben erlebbar werden und sich vielleicht sogar verwirklichen. Papst Johannes hat ans Ende seiner Enzyklika "Pacem in terris" vor 60 Jahren ein Gebet gestellt, das damals wie heute passt. Ein Segens-Gebet für eine bleibende Vision vom Frieden:
"Christus möge von den menschlichen Herzen entfernen, was immer den Frieden gefährden kann. Er möge auch den Geist der Regierenden erleuchten, dass sie mit angemessenem Wohlstand ihren Bürgern auch das schöne Geschenk des Friedens sichern. Endlich möge Christus selbst den Willen aller Menschen entzünden, dass sie die Schranken zerbrechen, die die einen von den andern trennen; dass sie die Bande gegen-seitiger Liebe festigen, einander besser verstehen; dass sie schließlich allen verzeihen, die ihnen Unrecht getan haben. So werden unter Gottes Führung und Schutz alle Völker sich brüderlich umarmen, und so wird stets in ihnen der ersehnte Friede herrschen." [5]
Zwei Monate, nachdem Papst Johannes das geschrieben hat, ist er gestorben. Seine Friedensworte sind daher nicht nur seine Vision, sondern auch so etwas wie sein Vermächtnis. Und sie bleiben auch 60 Jahre danach eine visionäre Sehnsuchtskraft der Menschheit – mit dem bleibenden Wunsch für heute und morgen: Frieden auf Erden!
Die redaktionelle Verantwortung für die Sendung hat Martin Korden.
Musik:
Philip Glass – Metamorphosis: Four
Philip Glass – Truman Sleeps
Nicole – Ein bisschen Frieden
Ola Gjeilo – Skyline
[1] Pacem in terris Nr. 1.
[2] Pacem in terris Nr. 5.
[3] Pacem in terris Nr. 50.
[4] Eid zur Gewaltfreiheit der „Catholic Nonviolence Initiative“: https://nonviolencejustpeace.net/wp-content/uploads/2022/07/Multi-language-vow-of-nonviolence.pdf
[5] Pacem in terris Nr. 91.