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"Wenn der Morgen die Augen aufschlägt." Ins Lob erwachen

Am Sonntagmorgen, 16.06.2024

Angelika Daiker, Stuttgart

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Dass "der Morgen die Augen aufschlägt" und ein neuer Tag beginnt, das haben wir nicht in der Hand. Wie wir selber die Augen aufschlagen, in einen beginnenden Tag gehen und das Tagwerk bewältigen, das liegt an uns. Ob wir die Decke über den Kopf ziehen oder beherzt und neugierig, vielleicht sogar singend, dem Tag entgegengehen, das können wir gestalten. Der Ordensmann und Autor Andreas Knapp beschreibt sein Morgenlob so:

"Laudes wenn nach Schreckstunden des Dunkels  
der Morgen die Augen aufschlägt
geh ihm singend entgegen erwache ins Lob  
und das Lob weckt dir die Welt
dass sie dir singe." [1]

Am Morgen so ins Lob erwachen, damit die Welt mir singe. Das würde ich gerne können! Seitdem mich kein Arbeitsablauf mehr taktet, versuche ich, bewusster in den Tag zu starten. In Stille, mit ein paar Yogaübungen, einer Lektüre, die mich nährt. Der anbrechende Morgen kann voller Verheißungen sein. Er kann aber auch Ambivalenzen der Seele ans Tageslicht bringen: belastende Gefühle, Sorgen, Ängste. In schlimmen Zeiten erwacht am Morgen die Frage, ob es sich überhaupt lohnt aufzustehen. Nicht umsonst trägt das Morgengrauen das Grauen in sich! Deshalb ist es so wichtig, dass der Tag eine Chance bekommt, "ins Lob zu erwachen."

Es gibt viele Gründe, den Tag staunend zu beginnen, ihm singend entgegen zu gehen. Vielleicht nach einer erfüllten Liebesnacht oder nach überstandener schwerer Krankheit oder einfach, an einem warmen Sommermorgen, wenn wir mit nackten Füssen den Tau auf der Wiese spüren, von der Sonne beschienen tief einatmen, und für einen Moment denken: "Wie schön ist diese Welt."

Ich liebe es, im Urlaub das Aufsteigen der Sonne hinter den Bergen oder aus dem Meer oder einfach am Horizont wahrzunehmen. Das Anbrechen eines neuen Tages, durch eine zarte Morgenröte angekündigt, weckt in mir Dankbarkeit und Staunen. Jeder Morgen kann sich wie ein erster Morgen anfühlen, so wie es Cat Stevens besingt in dem alten Song "Morning has broken like the first morning".

Als Cat Stevens dieses Lied 1971 produzierte, war er Anfang 20 und hatte gerade eine schwere Krankheit überstanden. Alle Strophen münden in den Jubel, den Lobpreis für vieles: für den Gesang der Vögel, für den Tau am Morgen und für das Gras, ja für Gottes Schöpfung, "gods recreation".

"Gods recreation of the new day". Die Schöpfung begann laut dem Schöpfungsbericht mit der Erschaffung des Lichts. So das "Narrativ" der gläubigen Israeliten. Menschen fanden und finden darin über Jahrtausende eine sinnvolle Erklärung für den Beginn des Lebens. Durch das Licht wurde das anfängliche Schöpfungschaos geordnet, indem Licht und Finsternis geschieden wurden. So lesen wir es zu Beginn des ersten Buches der Bibel im Buch Genesis:

"Gott sprach: Es werde Licht. Und es wurde Licht. Gott sah, dass das Licht gut war. Und Gott schied das Licht von der Finsternis. Und Gott nannte das Licht Tag und die Finsternis nannte er Nacht. Es wurde Abend und es wurde Morgen: erster Tag." (Gen 1,3-5)

Der Rhythmus von Tag und Nacht gibt unserem Leben eine Ordnung, die gepflegt werden will. Die Kirche kennt im Tagzeitengebet in den sogenannten Laudes ein wunderbares geistliches Programm für das Morgenlob. Es hilft, die erste Bewegung von Geist und Seele auf Gott hin auszurichten und ihm zu weihen. In einem Gebet der Laudes, dem sogenannten Benedictus, heißt es, dass Gottes Liebe den Menschen das Licht aus der Höhe schenkt: 

"Durch die barmherzige Liebe unseres Gottes / wird uns besuchen das aufstrahlende Licht aus der Höhe, um allen zu leuchten, die in der Finsternis sitzen und im Schatten des Todes…" (Lk 1,78f)

Der gläubige Israelit lebte im Bewusstsein, dass Gott Licht ist und sich in Licht hüllt wie in ein Kleid (Ps. 104). Im biblischen Psalm 63 beschreibt der Verfasser, wie er in der Morgenfrühe auf Gott hin erwacht, mit ihm durch den ganzen Tag geht und in der Nacht voller Sehnsucht ist. Der niederländische Dichter Huub Oosterhuis hat diesen Psalm so übersetzt:

"Zu dir steh ich auf am Morgen,
ruf die Stunden, bitte das Licht,
stolpre nach Wasser.

Nach dir dürste ich durch den Mittag.
Leib bin ich, Seele erfleh ich;
mit den Schatten fall ich.

Nach dir wälz ich mich in der Nacht –
schläfst du?

Rühr mich an,
dass ich Ruhe finde
und zur dir aufstehe am Morgen." [2]

Am Morgen zu Gott aufstehen. Der beginnende Tag kann für eine Gotteserfahrung öffnen. Auch die Erzählungen aus dem Neuen Testament der Bibel wissen das. Schon am frühen Morgen, so erzählt es der Evangelist Lukas, kamen die Menschen, um Jesus zu hören. (Lk 21, 38) Die ganze Geschichte Jesu ist eine Geschichte des Lichts, die mit seiner Geburt beginnt. Deshalb wird zur Wintersonnwende, wenn die Tage wieder länger werden, Jesu Geburt gefeiert als "das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet." (Joh 1,10) Eine erschütternde Erfahrung der Lichtgestalt Jesu haben die Jünger auf dem Berg Tabor gemacht. Ein so tiefes Erlebnis der Nähe Gottes, das sie am liebsten festgehalten hätten.

Auch die ersten Jüngerinnen machten an Ostern eine existentielle Lichterfahrung, als sie am frühen Morgen, "als eben die Sonne aufging", (Mk 16,2) zum Grab Jesu gingen. Maria von Magdala begegnete dem Auferstandenen zur aufgehenden Sonne und ist als Jüngerin in die Welt geschickt worden.

Es ist faszinierend, wie die Naturgegebenheit von Tag und Nacht, von Helligkeit und Finsternis schon immer als Gotteserfahrung gedeutet wurde. Für viele Völker war und ist die aufgehende Sonne die Offenbarung Gottes. Oft wurde die Sonne selbst wie Gott verehrt.

Das Versinken und Aufgehen der Sonne und die Frage, wo sie sich nachts aufhält, beschäftigte die alten Ägypter über Jahrtausende. Ihre Bilder sieht man in den Tempeln und Grabanlagen. Immer wieder ist die Himmelsgöttin Nut, die Mutter des Sonnengottes Re, dargestellt, wie sie am Abend die Sonne verschluckt und am Morgen wieder neu gebiert. Nut berührt dabei mit Armen und Beinen die Erde und stellt mit ihrem Leib das Himmelsgewölbe dar. Diese Vorstellung gehörte zum Kern des ägyptischen Unsterblichkeitsdenkens und machte die Himmelsgöttin Nut auch zur Totengottheit.

Für das Volk am Nil war die Jenseitshoffnung an den täglichen Sonnenlauf gekoppelt. Der verstorbene Pharao hoffte, auch im Jenseits in den Zyklus von Sonnenauf- und untergang hineingenommen zu werden und wie die Sonne täglich erneuert zu werden.

In einem der ägyptischen Unterweltsbücher, auch „Schrift des Verborgenen Raumes“ genannt, wird die Fahrt des Sonnengottes durch die 12 Stunden der Nacht im Detail beschrieben, Stunde für Stunde bis zur Neugeburt der Sonne in der 12. Nachtstunde. Zum Sonnenaufgang steht die Unterwelt für einen Moment offen. Aber sie verschließt sich wieder und die Verstorbenen versinken in den Todesschlaf bis zum nächsten Sonnenuntergang, mit dem die Sonne wieder in die Unterwelt fährt.

Unter allen ägyptischen Göttern war der Sonnengott in vielen Gestalten die wichtigste Gottheit. Für eine kurze Zeit hat der legendäre Pharao Echnaton, der den Sonnengott Aton im Namen trägt, diesen als alleinigen Gott verehrt. Von ihm stammt dieser Sonnenhymnus:

"Schön erscheinst du
im Horizont des Himmels,
du lebendige Sonne,
die das Leben bestimmt!
Du bist aufgegangen im Osthorizont
und hast jedes Land mit deiner Schönheit erfüllt.
Schön bist du, groß und strahlend,
hoch über allem Land.

Deine Strahlen umfassen die Länder
bis ans Ende von allem, was du geschaffen hast.
Du bist Re, wenn du ihre Grenzen erreichst,
wenn du sie niederbeugst für deinen geliebten Sohn.
Fern bist du, doch deine Strahlen sind auf Erden;
du scheinst auf die Gesichter, doch unerforschlich ist dein Lauf." [3]

Für die Ägypter hatte der Sonnengott viele Namen und Erscheinungsformen, als Re, als Atum oder als Re-Harachte. Aber der Lauf der Sonne blieb ihnen ein unbegreifliches Geheimnis, nur fassbar in den Strahlen die auf die Erde fielen – immer wieder dargestellt in Tempeln und Grabanlagen.

Für die Christen hat sich das göttliche Licht in einem Menschen, in Jesus, gezeigt. In ihm, so haben es die ersten Gemeinden erfahren und beschrieben, kam "das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, in die Welt." (Joh 1,9) In ihm hat das Licht eine bleibende Gegenwart in der Welt bekommen. Und die Menschen haben Anteil an diesem göttlichen Licht, wenn Jesus ihnen zusagt: "Ihr seid das Licht der Welt." (Mt 5,14a)

Der Mensch wird also im christlichen Sinne zum Lichtträger, zur Lichtträgerin, er wird nicht zu einem Gott wie der ägyptische Pharao. Aber er kann mit seinem ganzen Dasein das Licht in die Welt tragen – oder es verweigern. Die ersten Christen sprechen sich diesen Licht-Auftrag zu: "… wandelt als Kinder des Lichts; denn die Frucht des Lichts besteht in lauter Güte und Gerechtigkeit und Wahrheit." (Eph 5,8) Und weil dieses göttliche Licht in einem Menschen auf die Erde gekommen ist, mache auch du, Mensch, dich auf und werde Licht – denn dein Licht kommt und es kommt zu dir.

Das göttliche Licht ist erfahrbar: Weil jeder Mensch es in sich trägt und in die Welt bringen kann, indem er gütig, gerecht und wahrhaftig lebt. Licht und Finsternis sind nicht mehr nur Naturgegebenheiten wie im Buch Genesis, sondern stehen für diese menschliche Haltungen. So wird das göttliche Licht erfahrbar: In menschlichen Beziehungen, in der Beziehung zwischen Gott und Mensch und an jedem Morgen mit dem ersten Sonnenstrahl, mit dem ersten Amselgesang, mit dem Tau auf der Wiese. Wenn der Morgen die Augen aufschlägt und wir ins Lob erwachen.


Die redaktionelle Verantwortung für die Sendung hat Martin Korden

Musik:

Yanni – In the morning light

Cat Stevens – Morning has broken

Cat Stevens – Morning has broken

Yanni – In the morning light

Christoph Haas – Triambos

Christoph Haas – Triambos

Cat Stevens – Morning has broken


[1] Andreas Knapp, Höher als der Himmel. Göttliche Gedichte. Regensburg 2010, S. 45.

[2] H.Oosterhuis, Übersetzung von Psalm 63, zit.nach A.Stock, Morgen. Theologie einer Tageszeit, St. Ottilien 2016, S. 48.

[3] Hymnus der 18. Dynastie aus der Zeit des Pharaos Echnaton um 1351–1334. Aus: E. Hornung, Altägyptische Dichtung, Stuttgart 1996, S. 129.

Über die Autorin Angelika Daiker

Dr. Angelika Daiker, geb. 14.03 1955, studierte in Tübingen, München und Wien. Sie promovierte in Wien bei Prof. Dr. Michael Zulehner. Die gekürzte und überarbeitete Fassung ihrer Dissertation erschien 1999 unter dem Titel "Über Grenzen geführt – Leben und Spiritualität der Kleinen Schwester Magdeleine" im Schwabenverlag. Daiker ist Pastoralreferentin und leitete von 2007 bis 2017 das Hospiz St. Martin in Stuttgart, das sie konzeptionell aufgebaut hat. Als Autorin, als Trauerbegleiterin und als Dozentin für Sacred Dance wird sie zu Vorträgen und Seminaren im Bereich Trauer- und Sterbebegleitung, zu Themen der Spiritualität und zu Tanzseminaren eingeladen.

Neueste Veröffentlichung: Hülle und Fülle – Palliative Spritualität in der Hospizarbeit, Angelika Daiker / Barbara Hummler – Antoni, Patmosverlag September 2018