Vor einiger Zeit wurde der kleine Matteo von seinem Vater gefragt, wer im Kindergarten sein Freund sei. Darauf Matteo: "Emil, Ferdinand. Und ich." Darauf der Vater erstaunt: "Du?"– "Ja", antwortete Matteo, "ich habe mich sehr gern." Viele Erwachsene können das nicht von sich sagen. Sich selbst anzunehmen, ist für viele Menschen ein Problem. Und das hat Folgen auch für die Annahme des Nächsten. Von dem sagt die Bibel nämlich: Liebe ihn "wie dich selbst" (Mt 22,39).
Nächstenliebe ist eine schöne Sache für den geliebten Nächsten. Sollte man denken. Aber wenn einer, der sich selbst nicht gut ist, seinem Nächsten in gleicher Weise gut sein soll, "wie sich selbst" – wer möchte dann gerne sein Nächster sein? "Liebe deinen Übernächsten", könnte sein Nächster ihm sagen, während er sich wegduckt. Oder: "Liebe deinen Nächsten, aber nur nicht wie dich selbst."
Das Dasein füreinander nimmt in der christlichen Spiritualität einen großen Raum ein. Sie handelt von der Kunst, für andere da zu sein und andere für mich da sein zu lassen. Und sie erzählt von jener fundamentalen dritten Beziehung, der zu Gott. Denn die verändert unser Dasein füreinander: Im Dasein der Menschen füreinander soll das Dasein Gottes erfahrbar und erkennbar werden. Gott nimmt mich an, er sorgt für mich und meinen Nächsten. Aus dieser Perspektive sagt der christliche Glaube: Der Mensch hat sich nicht selbst gemacht. Er ist sich selbst gegeben und anvertraut. Wir sollen uns also "haben". Aber nicht, in dem wir uns ängstlich festhalten, sondern uns auch "geben" – für unsere Nächsten, die Gott nicht ohne uns lieben will.
Während der Pandemie war ich in einer seelsorglichen Einsatzgruppe, deren Mitglieder Covid-19-Patienten besuchten, um ihnen die Sakramente zu spenden oder für ein Gespräch da zu sein. Eine freundliche alte Dame wollte mir am Ende des Besuchs eine alte Geldbörse mit einer Spende mitgeben. Ich sagte ihr, die dürfe ich leider nicht annehmen wegen der Infektionsgefahr. Darauf Sie energisch: "Pater Georg, jetzt haben sie sich mal nicht so! Wenn sie sich vor dem Besuch so gehabt hätten, wären sie gar nicht erst zu mir gekommen."
Das saß. Stellen sie sich nicht so an, hieß das. Nicht beim Geben und nicht beim Empfangen. Wenn sie sich vorher beim Geben so angestellt hätten, wie jetzt beim Empfangen, dann wären sie gar nicht erst zu mir gekommen. Haben sie sich!, sollte das heißen. Aber haben sie sich nicht so! Haben sie sich so, dass sie sich mit Gott den Menschen geben können, und so, dass sie empfangen können, was Gott mit den Menschen ihnen schenken will.
Die Bibel handelt immer wieder von der Sorge um sich selbst. Auch da, wo man es nicht erwartet. Zum Beispiel im berühmten Gleichnis vom Barmherzigen Samariter (Lk 10,25-37). Jesus erzählt das Gleichnis als Antwort auf eine doppelte Frage, die ihm ein Schriftgelehrter stellt: Zuerst: Was ist das Wichtigste im Leben? Die Antwort: Gott mit allen Kräften lieben und den Nächsten wie sich selbst. Und dann fragt der Schriftgelehrte: Wer ist denn mein Nächster?
"Daraufhin antwortete ihm Jesus mit diesem Gleichnis: "Ein Mann ging von Jerusalem nach Jericho hinab und wurde von Räubern überfallen. Sie plünderten ihn aus und schlugen ihn nieder; dann gingen sie weg und ließen ihn halb tot liegen. Zufällig kam ein Priester denselben Weg herab; er sah ihn und ging weiter. Auch ein Levit kam zu der Stelle; er sah ihn und ging weiter. Dann kam ein Mann aus Samarien, der auf der Reise war. Als er ihn sah, hatte er Mitleid, ging zu ihm hin, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie. Dann hob er ihn auf sein Reittier, brachte ihn zu einer Herberge und sorgte für ihn. Am andern Morgen holte er zwei Denare hervor, gab sie dem Wirt und sagte: 'Sorge für ihn, und wenn du mehr für ihn brauchst, werde ich es dir bezahlen, wenn ich wiederkomme.'" – "Was meinst du: Wer von diesen dreien hat sich als der Nächste dessen erwiesen, der von den Räubern überfallen wurde?" Der Gesetzeslehrer antwortete: "Der, der barmherzig an ihm gehandelt hat." Da sagte Jesus zu ihm: "Dann geh und handle genauso!" (Lk 10,30-37)
Zwei Dinge beschäftigen mich jedes Mal, wenn ich diese Stelle lese: Der Samariter macht nicht alles. Sondern nur das, was unvertretbar nur er machen kann. Dann delegiert er das, was seine Möglichkeiten übersteigt.
Und: Die Ursprungsfrage lautete ja: Wer ist der Nächste des Schriftgelehrten, den er lieben soll? Jesus antwortet darauf: Der Nächste des unter die Räuber Gefallenen ist der Samariter! Der Schriftgelehrte soll sich gar nicht zuerst am Samariter ein Beispiel nehmen, sondern an dem ausgeraubten Verletzten. Dessen Allernächster ist der Samariter, dessen Hilfe und Sorge er annehmen soll. Erst danach heißt es: "Dann geh, und handle genauso!" Die Antwort Jesu scheint mir eine dreifache zu sein: Erstens: Du bist dem unter die Räuber Gefallenen nicht unähnlich. Zweitens: Dein Allernächster ist auch der, der an deiner Not nicht achtlos vorüberging. Und drittens: Dass einer an deiner Not nicht achtlos vorüberging, befähigt dich, genauso zu handeln und zum helfenden Nächsten deiner Nächsten zu werden.
Aber jemanden für mich da sein zu lassen, fällt oftmals schwerer, als für jemanden da zu sein. So schwer, dass sogar der Apostel Petrus, dem Jesus am meisten anvertraut hat, sich buchstäblich mit Händen und Füßen dagegen wehrt. Das Johannesevangelium berichtet, wie Jesus vor dem Abendmahl den Jüngern die Füße waschen will. Ein Dienst, den sonst Sklaven taten, und zugleich ein Zeichen großer Intimität. "Niemals sollst du mir die Füße waschen!", bricht es aus dem Ersten der Apostel heraus. "Wenn ich dich nicht wasche", antwortet ihm Jesus, "hast du keinen Anteil an mir." (Joh 13,8)
Wie das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter ist auch die Fußwaschung eine der Stellen, wo die meisten Hörer sofort in die Moralisierungsfalle tappen: Tun, was der Samariter tut. Tun, was Jesus tut. Bei der Fußwaschung legt sich das besonders nahe: "Ich habe euch ein Beispiel gegeben, damit auch ihr so handelt, wie ich an euch gehandelt habe", sagt Jesus, nachdem er die Füße der Jünger gewaschen hat (Joh 13,15). Also: aufstehen, Ärmel hochkrempeln und Füße waschen? Nein. Denn vor dem "auch ihr" kommt das "an euch". Die Jünger sollen nicht einfach nachmachen, was Jesus vormacht. Das können sie gar nicht. Sondern sie sollen sich zuerst gefallen und an sich geschehen lassen, was Jesus ihnen tun will. Sie sollen, wie Jesus sagt "Anteil bekommen" an ihm und seinem Leben und seiner Beziehung zu Gott dem Vater. Kurz, sie sollen sich lieben lassen. Und als Geliebte lieben.
Zur Selbstliebe gehört, sich lieben zu lassen – von Gott und von den Menschen. Wer das annehmen kann, bei dem verändert sich das Bild vom Nächsten und die Verantwortung für ihn. Denn auch mein Nächster ist der geliebte Mensch Gottes. Er ist nicht länger bloß "ein Mensch in meiner Nähe". Er ist die Schwester oder der Bruder, für die oder den einer sein Leben gab, mit der oder dem einer sich verbunden hat – mit allen Konsequenzen, vom ersten Augenblick des Daseins und noch durch den Tod hindurch. Das war mein Nächster bereits, bevor ich hinzukam. Das wird er noch sein, wenn ich nicht mehr mit ihm gehen und für ihn da sein kann. Denn Gott will den Menschen nicht ohne seinen Nächsten lieben – wohl aber über ihn hinaus.
Und so gehört zur Selbstsorge auch das Vertrauen in die Sorge Gottes über unsere Sorge hinaus. Jenseits der Grenzen meiner Macht ist nicht einfach der Dschungel. Dort ist geheimnisvoll eine Macht der Liebe am Werk, die meine übersteigt.
Dieses Lassen der Sorge um die Anderen und die Rückkehr zu mir selbst fällt mitunter schwer. Ich erinnere mich an Phasen meines Lebens, in denen es zu den schwersten Aufgaben des Tages gehörte, rechtzeitig schlafen zu gehen. Ich kenne das schon von Kindern, denen es schwerfällt, zuzugeben, dass sie müde sind. Sie werden erst überdreht, dann knatschig und schließlich gibt’s Tränen. Mir sagte jemand, das Nicht-schlafen-gehen-Wollen komme daher, dass Kinder meinen, sie würden zur Strafe für schlechtes Benehmen ins Bett geschickt. Schlafengehen-Müssen erscheint ihnen dann als Ausschluss vom Leben. Wachbleiben wird zur Überlebensfrage. Das ist nicht nur bei Kindern so. Vielen Menschen fällt es ein Leben lang schwer, zuzugeben, dass sie müde und erschöpft sind. Vor allem dort, wo sie sich über das definieren, was sie tun, wem sie nützen und was sie bewirken. Dann ist phasenweise Erschöpfung nicht einfach ein normaler und gesunder Vorgang, sondern ein Zeichen der Schwäche, des Versagens und des drohenden Entzugs der Teilnahme am Leben. Wenn Arbeit das Leben ist, dann ist Schlafen der Tod.
Im Evangelium gibt es eine Stelle, an der Jesus daran erinnert, dass das Entscheidende geschieht, während der Mensch schläft:
Jesus sagte: "Mit dem Reich Gottes ist es so, wie wenn ein Mann Samen auf seinen Acker sät; dann schläft er und steht wieder auf, es wird Nacht und wird Tag, der Samen keimt und wächst und der Mann weiß nicht, wie. Die Erde bringt von selbst ihre Frucht, zuerst den Halm, dann die Ähre, dann das volle Korn in der Ähre. Sobald aber die Frucht reif ist, legt er die Sichel an; denn die Zeit der Ernte ist da." (Mk 4,26-29)
In der Zeit, in der "der Samen keimt und wächst", ohne dass etwas zu tun bliebe, ist Schlafen mehr als bloß eine effektive Maßnahme zum Leistungserhalt. Wer schläft oder erst wieder schlafen lernt, der macht Ernst mit dem Vertrauen, dass für ihn und die Welt um ihn gesorgt ist – über seine eigene Sorge hinaus. Er übt sich ein in das Vertrauen, dass wir das Entscheidende nicht selbst vollbringen können. Es geschieht, während wir schlafen.
Ich nehme diese Sendung in anspruchsvoller Zeit auf. Und manchmal muss ich schmunzeln, wenn ich sehe, was mir zu diesem Thema alles einfällt und was davon mir selbst gelingt. Die rechte Sorge um mich selbst – zwischen ängstlicher Selbstbewahrung und erschöpfender Selbstvergeudung – ist ein lebenslanger Lernprozess. Aber insgesamt gelingt sie mir besser als früher: Ich bin dankbarer für erfahrene Güte und das, was mir gegeben und geschenkt ist. Ich kenne meine Grenzen besser und lerne mit ihnen Frieden zu machen (und sie nicht allzu oft zu überschreiten). Ich sage, was geht, und werde verlässlicher. Schwachheit ist weniger beschämend. Ich erlaube Gott und den Meinen leichter, mir gut zu sein. Und jeden Tag werde ich zu bestimmten Zeiten still und höre, worum es mir gehen soll. Dann tue ich, was ich gehört habe. Ich glaube, dass mein Nächster um alles in der Welt geliebt ist – schon bevor ich kam und noch immer, wenn ich gegangen bin. Ich lerne, mit Gott mitzulieben, Ferien zu machen und Freundschaften zu pflegen. Und da ich meist zuhause arbeite: mittags eine Viertelstunde zu schlafen.
"Liebe Deinen Nächsten wie dich selbst" ist nur dann kein bedrohliches Gebot, wenn einer sich gut ist. Und sich gut zu sein, lernen wir von denen, die uns gut sind. Die Christen glauben: Einer ist uns ganz gut. Unbedingt und um jeden Preis. Und dieser Eine sagt auch: "Liebt einander wie ich euch geliebt habe." (vgl. Joh 13,34) Nicht nur "wie dich selbst", sondern auch "wie ich dich". Du bist nicht allein mit deiner Liebe zu dir. Und du bist dir anvertraut. Wo ein Mensch das Gott und seinen Nächsten glaubt, da kann er mit dem kleinen Matteo sagen: "Ich habe mich sehr gern." Und wir, seine Nächsten, werden uns freuen, wenn er uns liebt wie sich selbst.
Die redaktionelle Verantwortung für die Sendung hat Martin Korden.
Musik:
Dustin O’Halloran – Lonely Hearts
Angela Hewitt – Bist du bei mir
Poppy Ackroyd – Seedling
Angela Hewitt – Bist du bei mir
Dustin O’Halloran – Lonely Hearts