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Der Mathematiker, der die Liebe suchte. Zum 400. Geburtstag von Blaise Pascal

Am Sonntagmorgen, 18.06.2023

von Christian Feldmann, Regensburg

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Eine Uhr im Ärmel – das war selbst für einen jungen Wissenschaftler im 17. Jahrhundert ein höchst ungewöhnlicher Gebrauchsgegenstand. Doch Blaise Pascal trug so eine Uhr ständig bei sich. Er war ein hektischer Feuerkopf, immer auf dem Sprung. Hastig, zerfahren, mit fliegender Ungeduld warf er seine Notizen auf das Papier, dabei aber ungeheuer treffsicher formulierend, stürzte sich hier auf ein Thema, schleuderte dort einem literarischen Gegner einen Schwall von Argumenten entgegen, türmte Berge von beschriebenen Zetteln auf.

Blaise Pascal war rettungslos verliebt in alles Lebendige. Das kühle Talent des Mathematikers und den klaren Scharfsinn des Philosophen verband er mit der Zärtlichkeit, die ein Dichter allen Dingen entgegenbringt. Von allem habe er die Ursache wissen wollen, hieß es in der Familie, in die Pascal am 19. Juni 1623 in Clermont in der französischen Auvergne geboren wurde.

In der alten Provinzhauptstadt wimmelte es von Gelehrten, Juristen und Bankiers. Da begründet das zwölfjährige Wunderkind mit ein paar einfachen Stäben und Ringen die geometrischen Lehrsätze des Euklid neu. Als Sechzehnjähriger schreibt er die wichtigste Abhandlung über die Kegelschnitte seit der Antike. Mit Achtzehn erfindet er eine Rechenmaschine, die seinem Vater die Steuerberechnungen erleichtern soll und den Sohn in ganz Europa berühmt macht.

Voller Bewunderung steht der junge Blaise vor den Wundern des Kosmos. Später wird er an den Menschen appellieren, alles Kleinliche und Niedere aus seinen Gedanken zu verbannen:

"Die ganze sichtbare Welt ist nur eine unmerkliche Falte in dem weiten Gewand des Alls. Keinerlei Begreifen kommt ihm nah. Wir können unsere Gedanken aufblähen über die letzten noch denkbaren Räume hinaus; was wir produzieren, sind Winzigkeiten, verglichen mit der Wirklichkeit der Dinge. (...) Was ist ein Mensch in der Unendlichkeit?"

Um grandeur und misère geht es, um Größe und Elend des Menschen, um seinen Platz in der Schöpfung. Was ist er denn schon, dieser vergängliche Erdenwurm, verloren in der Weite des Alls, ein aufgeblasenes Nichts, vergeblich nach dem Sinn des eigenen Daseins fragend. Allenthalben sieht Pascal Lüge und Heuchelei. Eine Welt des falschen Scheins, voller Intrige und Ungerechtigkeit.

Blaise feiert Erfolge in dieser Welt der Täuschungen und Lügen, und doch empfindet er oft genug Ekel vor der ganzen Maskerade. Nein, die hilflose Sehnsucht des Menschen nach Anerkennung und Liebe braucht ein anderes Objekt, größer als seinesgleichen! Und längst schon ist ein anderer auf der Suche nach ihm, einer, dessen Zuneigung keine Heuchelei ist und dessen Treue keine Illusion.

In der Nacht des 23. November 1654 bricht diese das Menschenherz sprengende Erfahrung so bezwingend über ihn herein, dass sich sein ganzes Leben verändert. Pascal notiert die Erkenntnis jener Nacht seiner Gewohnheit gemäß auf einem Zettel, den er fortan – im Rockfutter eingenäht – ständig bei sich trägt wie eine Reliquie:

"Von ungefähr abends zehneinhalb bis ungefähr eine halbe Stunde nach Mitternacht: FEUER. Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs, nicht der Philosophen und der Gelehrten. Gewissheit, Gewissheit, Empfinden. Friede. Gott Jesu Christi. (...) Freude, Freude, Tränen der Freude. Möge ich nie von ihm geschieden sein!"

Das ist keine akademische These, sondern eine Liebeserklärung. Kein wissenschaftlicher Diskurs über Gott wie bisher, sondern das Bekenntnis, dass ihn, Pascal, jemand angeredet, herausgefordert hat. Kein Gedankenspiel mehr, sondern Realität, atemberaubend, überwältigend.

Blaise Pascal ist 31 Jahre alt, als er sich für immer vom staubtrockenen Gott der Philosophie verabschiedet und den lebendigen Gott des Glaubens entdeckt. Ein höchstes Prinzip, einen "ersten unbewegten Beweger" und wie die philosophischen Begriffe alle heißen, kann man bewundern, aber nicht lieben.

Der Gott der Juden und Christen jedoch ist ganz leidenschaftliche Liebe zu den Menschen, ein Gott, der berührbar geworden ist in Jesus Christus. Ein Gott, der das Glück der Menschen will und die Welt nicht gleichgültig ihre Bahn ziehen lässt. Ein Gott, mit dem man hadern und kämpfen kann, der aber immer zuhört und sich nicht in die Unangreifbarkeit eines fernen Olymps zurückzieht.

Pascal hat erfahren, dass dieser Gott in seinem Leben da ist, und er ist sofort bereit, Konsequenzen zu ziehen. Mit Feuereifer stürzt er sich in die Arbeit für seinen endlich gefundenen Lebensinhalt, als ob er wüsste, dass ihm nicht viel Zeit bleiben wird.

Seine Schriftstellerei gilt von da an der Frage nach dem Sinn menschlichen Lebens und nach der Liebe, die diese Welt trägt. Er ist keineswegs von einem Tag auf den andern ein Heiliger geworden. Bis an sein Lebensende steht er in einem harten Kampf mit sich selber, niedergedrückt von einer abgründigen Angst und zum kalten Übermut verführt von einer streitsüchtigen Arroganz.

Pascal bleibt der scharfsichtige Betrachter menschlichen Elends, mitleidlos in seiner Analyse ewiger Selbsttäuschung. Halt- und heimatlos treiben die Menschen im Ungewissen, jede vordergründige Sicherheit beginnt bald zu bröckeln.

"Bedenke ich die kurze Dauer meines Lebens, aufgezehrt von der Ewigkeit vorher und nachher (…), erschaudere ich und staune. (…) Wer hat mich hierhergesetzt? Durch wessen Anordnung und Verfügung ist mir dieser Ort und diese Stunde bestimmt worden? Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume macht mich schaudern."

Gott allein erfüllt die Sehnsucht nach Glück. Nur ein Gott, der Fleisch wird und sich kompromisslos in diese kaputte Welt hineingibt, nur ein gekreuzigter, leidender Gott kann die ans Kreuz geschlagenen, leidenden, zerrissenen Menschen erlösen. Durch die Liebe, die Gott gibt und zu der er befreit, findet der Mensch wieder einen Ort in der Welt.

Blaise Pascal ist ein überaus moderner Christ, weil er zum Glauben nicht über ein beeindruckendes Dogma kommt, sondern über seine skeptische Welterfahrung. Und weil er das Problem auszuhalten versucht, dass so vieles nicht erklärbar ist und Gott scheinbar schweigt.

In messerscharfen Gedankengängen versucht nun der geschulte Mathematiker seinen zweifelnden Zeitgenossen nachzuweisen, dass der Glaube vernünftig, sinnvoll, ja sogar notwendig ist. Nur ein unendliches Ziel kann die Antwort auf die unendlichen Fragen des Menschen sein. Nur eine Liebe, die nicht vergeht, kann die Sehnsucht stillen. Mit seinem Hauptwerk Pensées – Gedanken und seinen übrigen Schriften gehört Pascal zu den frühen Pionieren einer Versöhnung zwischen Denken und Glauben. Er freut sich über die Fähigkeit des Menschen, sich durch Lernen zu entwickeln, und nennt eine Religion "lächerlich", die gegen die Grundforderungen der Vernunft verstoßen wollte.

Aber es bleiben Geheimnisse in der Welt, und Pascal fordert nicht nur Respekt vor der Vernunft, die den Menschen vom Tier unterscheidet, sondern auch –

"vor den Gründen des Herzens, die der Verstand nicht kennt."

Das Herz ist bei Pascal keineswegs der Vernunft entgegengesetzt, im Gegenteil, es beseelt den Verstand durch die Liebe, gibt ihm Tiefe, hebt ihn über sich hinaus: Die Vernunft des Menschen könnte auf sich allein gestellt vielleicht Gott begreifen – wäre sie nicht befleckt und geschwächt. Gott aber, anwesend im Herzen des Menschen, rettet diese schwache Vernunft durch die Liebe.

Pascal, dieses gefeierte intellektuelle Genie mit dem technisch-mathematischen Sachverstand! Je älter er wird, desto mehr lernt er die Demut vor der ganz anderen Begabung des Herzens:

"Wundern Sie sich nicht, wenn Sie einfache Leute ohne lange Beweise glauben sehen. Gott (...) macht ihr Herz zum Glauben geneigt."
Es überrascht nicht, dass dieser in Gott verliebte Verstandesmensch das Problem des Glaubens im Bild einer Wette abhandelt: Sich nicht zwischen Glauben und Unglauben zu entscheiden, hieße bereits wählen. Irgendeine Entscheidung muss man also fällen. Und diese Entscheidung hinauszuschieben, wäre töricht.

Im berühmt gewordenen Bild der "Wette" gelingt es Blaise Pascal, die unterschiedlichen Größen Vernunft und Herz, Verstand und Hingabe, Wille und Vertrauen aufs engste miteinander zu verschmelzen:

"Man muss wetten, darin ist man nicht frei (...) Was also werden Sie wählen? Da man sich entscheiden muss, wollen wir zusehen, wo Sie am wenigsten riskieren. Zwei Dinge haben Sie zu verlieren: die Wahrheit und das höchste Gut. Und zwei Dinge haben Sie zu bringen: Ihre Vernunft und Ihren Willen, Ihre Kenntnisse und Ihre Seligkeit. Wägen wir Gewinn gegen Verlust für den Fall, dass wir auf die Existenz Gottes setzten. Gewinnen Sie, so gewinnen Sie alles. Verlieren Sie, so verlieren Sie nichts. Setzen Sie also, ohne zu zögern, darauf, dass er ist. Ich sage Ihnen, Sie werden dabei in diesem Leben gewinnen und mit jedem Schritt, den Sie auf diesem Weg gehen, werden Sie immer mehr die Gewissheit des Gewinns erkennen und dass Sie nichts dafür gewagt haben."

Reichlich salopp klingt dieser Disput über Gott und das ewige Heil. Doch den flotten Text schrieb nach Pascals eigenem Bekunden –

"ein Mensch, der vorher und nachher auf den Knien lag."

So ernst ist es ihm mit seiner Botschaft vom wahren Glück. Und so intensiv lebt er mittlerweile in der Liebe Gottes, die allein zu retten vermag. Es ist ein barmherziger Gott, der seine Menschen nicht überfordert. Ein Gott, der vielmehr in ihrem Suchen nach dem wirklichen Glück schon den Glauben erkennt, der noch mit so vielen Zweifeln kämpft und das endgültige Bekenntnis scheut. Zu so einem Zögernden lässt Blaise Pascal den sterbenden Christus sprechen:

"Du würdest mich nicht suchen - wenn du mich nicht gefunden hättest. Du würdest dich nicht nach mir sehnen, wenn du mich nicht besäßest (...).  Beunruhige dich also nicht (...). Meine Sache ist es, dich zu bekehren."

Immer konsequenter nähert Blaise Pascal seine Lebensweise dem armseligen Alltag eines Mönchs an. Obwohl er in seinen letzten Jahren dahinsiecht und immer schwächer wird, verzichtet er auf jede Bedienung, und nimmt einen bettelarmen Kranken zu sich, den er liebevoll pflegt. Noch im Jahr seines Todes gründet er, ganz der alte Feuerkopf mit brennendem Interesse an technischen Neuerungen, die erste Pariser Omnibuslinie. Bis wenige Monate vor seinem Tod schreibt er, mathematisch-physikalische Abhandlungen, dann immer mehr tiefsinnige religiöse Betrachtungen und theologische Auseinandersetzungen.

Seinen letzten Wunsch, unter den ganz Armen und unheilbar Kranken sterben zu dürfen, erfüllt ihm die schockierte Umgebung nicht. Am 19. August 1662 ist der Neununddreißigjährige tot. Sein letztes Wort erinnert an seine Notizen aus jener geheimnisvollen Nacht, als er dem begegnete, den er nun wohl endgültig gefunden hat:

"Möge Gott mich nie verlassen!"

Die redaktionelle Verantwortung für die Sendung hat Martin Korden.

Musik:

Johann Paul von Westhoff – Imitazione delle Campane

Arvo Pärt – Fratres

Philip Glass - Echorus

Philip Glass – Echorus

Arvo Pärt – Fratres

Alex Baranowski – Musica universalis

Über den Autor Christian Feldmann

Christian Feldmann, Theologe, Buch- und Rundfunkautor, wurde 1950 in Regensburg geboren, wo er Theologie (u. a. bei Joseph Ratzinger) und Soziologie studierte. Zunächst arbeitete er als freier Journalist und Korrespondent,  u. a. für die Süddeutsche Zeitung. Er produzierte zahlreiche Features für Rundfunkanstalten in Deutschland und der Schweiz und arbeitete am „Credo“-Projekt des Bayerischen Fernsehens mit. In letzter Zeit befasste er sich mit religionswissenschaftlichen und zeitgeschichtlichen Themen in der Sparte „radioWissen“ beim Bayerischen Rundfunk. Zudem hat er über 50 Bücher publiziert. Dabei portraitiert er besonders gern klassische Heilige und fromme Querköpfe aus Christentum und Judentum. Feldmann lebt und arbeitet in Regensburg.