"Komm, Heil’ger Geist, der Leben schafft, erfülle uns mit deiner Kraft."
Mit diesen Worten beginnt ein alter Hymnus aus dem neunten Jahrhundert. Er wird regelmäßig am Pfingstfest gesungen und gehört zu meinen Lieblingsliedern. Dieses Jahr habe ich für mich die erste Strophe um eine weitere Zeile ergänzt. Ich bitte: "Komm Heil´ger Geist, der Leben schafft, der Aufbruch und Verstehen schafft". Aufbruch und Verstehen haben wir nötig, dringend nötig, in der Kirche ebenso wie in der Gesellschaft und Politik. Und beides habe ich nötig in meinem Leben, immer wieder von Neuem. Aufbruch und Verstehen – beides gehört zusammen, nicht nur nach meinem Verständnis, sondern auch nach dem der Pfingsterzählung. Sie finden wir im Neuen Testament in der Apostelgeschichte.
Eine Menge Menschen waren damals in Jerusalem versammelt, um das Pfingstfest zu feiern. Nicht das christliche Pfingsten, wie es heute begangen wird, denn bis sich das zu einem wirklichen Fest entwickelte, dauerte es einige Jahre. Vielmehr war es das jüdische Pfingstfest, das da gefeiert wurde, schawuot – Wochenfest genannt. Sein Ursprung war ein Erntedankfest. In der jüdischen Tradition wurde dieses Naturfest mit neuem religiösem Gehalt gefüllt, nämlich mit der Erinnerung an den Bund Gottes mit seinem Volk Israel.
Nach den Erzählungen aus dem Buch Exodus offenbarte sich neunundvierzig Tage nach dem Auszug aus Ägypten, also am fünfzigsten Tag, Gott Jahwe am Berg Sinai und schloss den Bund mit seinem auserwählten Volk und gab Mose die Tora – das Gesetz, wie der hebräische Begriff oft übersetzt wird. Doch die Tora ist für das jüdische Volk viel mehr als Gesetz, nämlich Weisung zu einem gelingenden Leben mit den Mitmenschen und mit Gott.
Wie andere christliche Feste auch, wurde das Pfingstfest im Christentum neu gedeutet und mit anderen Inhalten gefüllt. Der Tag, an dem es gefeiert wird, ist freilich nach wie vor der gleiche wie das jüdische Fest: 50 Tage nach Ostern. Eben das bringt der Name zum Ausdruck: Griechisch pentekoste ist der "fünfzigste". Was aber sind nun die zentralen Inhalte des christlichen Pfingstereignisses?
Neuafang, neues Handeln – heute
Den Pfingsttag, so berichtet es die Bibel, sollen die engsten Jünger Jesu 50 Tage nach den Geschehnissen von Tod und Auferstehung ihres Meister zusammen verbracht haben. Die Apostelgeschichte erzählt im zweiten Kapitel so von dem besonderen Ereignis:
"Da kam plötzlich vom Himmel her ein Brausen, wie wenn ein heftiger Sturm daherfährt, und erfüllte das ganze Haus, in dem die Jünger versammelt waren. Und es erschienen ihnen Zungen wie von Feuer, die sich verteilten; auf jeden von ihnen ließ sich eine nieder. Alle wurden mit dem Heiligen Geist erfüllt und begannen, in fremden Sprachen zu reden, wie es der Geist ihnen eingab.“ (Apg 2,2-4)"
Das ist nicht einfach nur ein Bericht über die damaligen Ereignisse, sondern der Versuch, in Bildern zu umschreiben, was es heißt, dass die Jünger und Jüngerinnen Jesu damals vom heiligen Geist erfüllt wurden. Es ist kein anderer als der Geist Gottes selbst, die göttliche Wirkkraft Gottes, seine schöpferische Lebenskraft. "Dich sendet Gottes Allmacht aus, im Feuer und in Sturmes Braus", so dichtet der Pfingsthymnus.
Der biblische Text gibt keine Definition, wer und wie Gottes Geist ist, sondern umschreibt sein Wirken als gewaltig brausenden Sturm und als Feuer. Da ist Dynamik dahinter: Ein Wind, der alte Ängste und Bedenken hinwegfegt, der im wahren Sinn des Wortes mitreißt, der für frische Luft und einen klaren Kopf sorgt. Dazu kommt ein Feuer, das zündet, das zündende Ideen eingibt, das die Herzen erwärmt und alles hell macht. "Aus dir strömt Leben, Licht und Glut, du gibst uns Schwachen Kraft und Mut", davon ist der Pfingsthymnus überzeugt. Gottes Geist macht Ernst mit der Botschaft von der Auferweckung Jesu, mit der nach Leid und Verzweiflung eine neue Situation angebrochen ist. Gottes Geist bewirkt einen Neuaufbruch und macht ein neues Handeln möglich, nicht nur damals, sondern auch heute, nicht nur einmalig, sondern immer wieder, wenn Menschen für seinen Geist offen sind und ihn einlassen in ihre Herzen.
Neben diesen Motiven des Aufbruchs hält die Pfingsterzählung noch das andere Motiv bereit: das Sich-Verstehen in allen Sprachen und über alle Sprachgrenzen hinweg. Viele Menschen aus verschiedensten Gegenden und entsprechend viele Sprachgruppen waren seinerzeit versammelt. Sie alle werden in der Apostelgeschichte aufgezählt:
"Parther und Meder und Elamiter und die, die Mesopotamien bewohnen, und die ansässigen Römer, Juden wie auch Proselyten, Kreter und Araber". (Apg 2,9-11)
Dieser Text aus der Pfingsterzählung in der Apostelgeschichte ist für die meisten Lektorinnen und Lektoren im Gottesdienst wegen der zungenbrecherischen Völkerbezeichnungen eine gewisse Herausforderung.
Verstehen in Vielfalt
Aber diese Passage hat ihren guten Sinn, denn sie führt anschaulich die Sprachenvielfalt vor Augen, die die Szenerie beherrschte. Beim genauen Lesen wird deutlich, dass da keine logische Beschreibung geboten wird. Denn erst heißt es: "Alle begannen in fremden Sprachen zu reden" – und dann: "Jeder hörte sie in seiner Sprache reden." Jeder in seiner Sprache bei der großen Vielfalt von Völkern und Sprachen, die da versammelt waren. Das ist schwer vorstellbar. Aber es geht diesem Text auch nicht um Logik, sondern er will eine außergewöhnliche Aussage treffen: Alle verstehen sich, unabhängig davon, welche Muttersprache sie sprechen.
Vom so genannten Sprachenwunder ist im Zusammenhang mit Pfingsten oft die Rede. In der Bibel gibt es schon in den ersten Kapiteln eine Gegengeschichte dazu: die Sprachenverwirrung beim Turmbau von Babel. Das elfte Kapitel des Buches Genesis erzählt, wie die Menschen einen gigantischen Turm bauen wollen, der von der Erde bis in den Himmel, bis zu Gott reichen soll. Aber das Vorhaben misslingt, denn Gott ruft eine Sprachverwirrung hervor, so dass sich die Bauenden nicht verstehen. Dadurch zerstreut Gott die Menschen über die ganze Erde. Der Turmbau ist in dieser Erzählung im Alten Testament der Bibel ein Symbol für die menschliche Hybris, den Himmel zu berühren und wie Gott werden zu wollen.
Der alttestamentlichen Sprachverwirrung von Babel stellt im Neuen Testament die Apostelgeschichte das Sprachenwunder von Jerusalem gegenüber. Im Unterschied zum Turmbau verstehen sich an Pfingsten die Menschen. Verstehen heißt nicht, dass alle mit einem Mal ein- und dieselbe Sprache sprechen. Nein, sie sprechen nach wie vor in vielen Sprachen, die so unterschiedlich sind, wie die Völker unterschiedlich sind. Gottes Geist belässt die Vielfalt. Unterschiedlichkeit wird nicht eingeebnet, sondern bleibt bestehen. Doch sie bedeutet im Unterschied zum Turmbau von Babel nicht Zerstörung und Ende, sondern Produktivität und Aufbruch. Und haben wir ihn erneut, den Zusammenhang von Aufbruch und Verstehen.
Was seinerzeit geschah, war wunderbar und doch befremdlich zugleich. Von den Jüngerinnen und Jüngern, die diese Erfahrung machten, heißt es, dass sie "bestürzt" und "ratlos" waren, ja sogar "außer sich gerieten". Andere hielten sie für betrunken. Wenn Gottes Geist wirkt, hat das auch etwas Irritierendes. Aber erst durch ihn wurden seinerzeit die Anhänger Jesu dazu befähigt, "Gottes große Taten" zu verkünden, wie es im Text heißt.
Das Pfingstereignis gilt als Geburtstag der Kirche, weil von da an die Anhänger Jesu loszogen, um die christliche Botschaft in die Welt zu tragen und Gemeinden zu gründen. Die besondere Stärkung, die plötzliche Gewissheit und sprichwörtliche Geisteskraft in der Verkündigung bringt die Urgemeinde mit dem Pfingstereignis in Verbindung.
Es ist dann auch der Apostel Petrus, der die wunderbare und zugleich befremdliche Erfahrung des Sich-Verstehens als Gottes Geistwirken deutet und dazu auf das alttestamentliche Buch Joel zurückgreift, in dem geschrieben steht: "Ich werde von meinem Geist ausgießen über alles Fleisch." Was der Prophet vor langer Zeit ankündigte, wird jetzt erfüllt. Und es ist Petrus, derselbe Petrus, der Jesus unter dem Kreuz dreimal verleugnet hat, der jetzt unerschrocken Jesus Christus als den Auferstandenen verkündet, so wie es im Hymnus heißt: "Du öffnest uns den stummen Mund und machst der Welt die Wahrheit kund." Als die Menschen damals die Pfingstpredigt des Petrus hörten, "ging’s ihnen durchs Herz", wie der biblische Bericht erzählt. Pfingsten sollte auch den Christen heute durchs Herz und ins Herz gehen.
Das neue Miteinander: die Kirche
Aber nicht nur das. Die Menschen, die das damals alles erlebten, fragten zugleich: "Was sollen wir tun?" Die, die die Erfahrung des Sich-verstehens gemacht haben, wunderten und freuten sich nicht nur darüber. Sondern sie fragen nach den Konsequenzen und nach dem, was sie beitragen können. So beginnen sie das neue Miteinander, das sich Kirche nennt, lateinisch ekklesia, wörtlich: die Zusammengerufenen, nämlich die vom Geist Gottes Zusammengerufenen, oder griechisch kyriake, wörtlich: die, die zum Kyrios, zum Herrn gehören, nämlich zu Jesus Christus.
So wie Israel an Schawuot durch die Tora und den Bund als Gottesvolk konstituiert wurde, konstituiert sich an Pfingsten das neue Gottesvolk, die Kirche. Und so kann in dieser neuen Gemeinschaft Kirche, die von Jesus proklamierte Gottesherrschaft Wirklichkeit werden, ansatzweise und oft verhalten.
Pfingsten wirkt sich aus aufs Handeln. Gottes Geist löst all die Konflikte, in die wir verwickelt sind, nicht einfach auf, bereitet ihnen nicht einfach wie von Zauberhand ein Ende. Aber Gottes Geist kann Aufbruch und Verstehen bewirken, kann Einsicht und Mut schenken, verhärtete Positionen und Rechthabereien zu überwinden. Er tut dies nicht automatisch, sondern er kann das tun – dann nämlich, wenn Menschen sich auf ihn einlassen und sich für ihn öffnen, auch sein bisweilen befremdliches und irritierendes Wirken zulassen. In diesem Sinne können Christinnen und Christen nicht nur an Pfingsten, sondern zu aller Zeit mit dem Pfingsthymnus beten und bitten:
"Entflamme Sinne und Gemüt, dass Liebe unser Herz durchglüht, und unser schwaches Fleisch und Blut in deiner Kraft das Gute tut."
"Die Macht des Bösen banne weit, schenk deinen Frieden allezeit. Erhalte uns auf rechter Bahn, dass Unheil uns nicht schaden kann."
Hanns Dieter Hüsch, der große Kabarettist vom Niederrhein, traut dem heiligen Geist einiges zu. Um die Wirkungen des Geistes anschaulich zu machen, findet er andere Worte als der Hymnus aus dem neunten Jahrhundert, aber er bezieht sich auf die gleichen Inhalte, wenn er es so formuliert:
Gott "schickt seit Jahrtausenden Den Heiligen Geist in die Welt.
Dass wir zuversichtlich sind
Dass wir uns freuen
Dass wir aufrecht gehen ohne Hochmut
Dass wir jedem die Hand reichen ohne Hintergedanken
Und im Namen Gottes Kinder sind
In allen Teilen der Welt
Eins und einig sind
Und Phantasten dem Herrn werden
Von zartem Gemüt
Von fassungsloser Großzügigkeit
Und von leichtem Geist."
Die redaktionelle Verantwortung für die Sendung hat Martin Korden.
Musik:
Max Richter – Berlin by Overnight
Aleksey Igudesman – Lento