Newsletter

"Hineinhorchen" – tägliche Lebenskunst. Zum 80. Todestag von Etty Hillesum

Am Sonntagmorgen, 19.11.2023

Pfarrer Gotthard Fuchs, Wiesbaden

Beitrag anhören

"Ich weiß um alles und kann auch alles tragen und werde immer stärker im Tragen und zugleich ist da die Gewissheit: Ich finde das Leben so schön, so lebenswert und so sinnreich, trotz allem." (Tagebuch, 584)

Diese Zeilen stammen von Etty Hillesum. Einer jungen Niederländerin jüdischer Geburt. Sie schreibt diese Zeilen in der Zeit der Verfolgung durch die Nazis. In diesen Tagen vor 80 Jahren, am 30. November 1943, wurde sie im KZ Auschwitz ermordet, im Januar darauf wäre sie 30 Jahre alt geworden. Eines der unzähligen Opfer zynischer Gewalt im 20. Jahrhundert – jedes eines zu viel, allen Andenkens und Erinnerns wert. Was Etty Hillesum so eindrucksvoll macht, ist ihr Tagebuch, das nun endlich ungekürzt auf Deutsch vorliegt: "Ich will die Chronistin dieser Zeit sein", lautet der Titel.

In der Tat: Welch genaue Chronistin ist sie geworden. Von März 1941 bis Oktober 1942 schreibt die junge Juristin in Amsterdam ihre Reflexionen und danach noch so manchen Brief – nach dem nationalsozialistischen Überfall auf die Niederlande also und mitten in der folgenden Judenverfolgung, die ständig brutaler wird.

Ausgelöst durch eine tiefe Lebenskrise, ist es der Rat ihres Therapeuten Julius Spier, der das Schreiben des Tagebuches in Gang bringt.  Sie selbst datiert den 3. Februar 1941 als ihren Geburtstag – die erste Begegnung mit Spier, der ihr Lehrer und Geliebter wird und – wie sie selbst ihn nennt –, "der große Freund, der Geburtshelfer meiner Seele" (673). Lesend darf man nun teilnehmen am höchst intimen Prozess einer kreativen Selbstsuche.

"Mein Kopf ist die Werkstatt, in der alle Dinge dieser Welt so lange durchdacht werden müssen, bis sie klar sind. Und mein Herz ist der glühende Ofen, in dem alles erlebt und erlitten werden muss." (126)

Gotteserfahrung und Selbsterfahrung: Leben, Denken, Beten

Da ist zuerst und vor allem ihr Leben als Frau, ihre Suche nach sich selbst, ihrem Körper und ihrer Sexualität. Da sind die vielen Gespräche und Kontakte dieser kontaktfreudigen, vor Lebenslust und Wissensdurst geradezu sprühenden Person. Da sind die politischen Verhältnisse mit den gespenstisch zuschnürenden Verboten und Schikanen, mit denen die deutsche Besatzungsmacht die jüdische Bevölkerung zunehmend ghettoisiert. Und da ist, dies ist das Erstaunlichste, Etty Hillesums Gottesentdeckung:

"In mir drin ist ein sehr tiefer Brunnen. Und darin ist Gott. Manchmal ist er für mich erreichbar. Aber öfter liegen Steine und Schutt auf diesem Brunnen, dann ist Gott begraben. Dann muss er wieder ausgegraben werden." (132)

Das Tagebuch wird zu einem Gebetbuch, zu einem Lebenszeugnis voll origineller Spiritualität und Alltagsmystik. Als würde Etty es neu erfinden, schwingt da immer der klassische Dreiklang von Welt, Selbst und Gott mit – und das bei einer Frau, die im jüdischen Elternhaus wenig Religiöses mitbekam und nie Theologie studiert hat, umso mehr freilich ihren geliebten Rilke, Tolstoi und Dostojewskij und dann besonders die Bibel.

Worum es in diesem Dreiklang von Leben, Denken und Beten geht, das fasst Etty Hillesum selbst in einem Grundwort zusammen, das sie als unübersetzbar empfindet und stets im deutschen Wortlaut zitiert: "hineinhorchen" – hinein also in die innerste Musik des eigenen Lebens und diese genau unterscheiden lernen vom tosenden Lärm aller anderen Stimmen und Stimmungen drinnen und draußen. Gegen Ende des Tagebuchs, Mitte September 42, notiert sie, und es klingt wie eine ganze Lebenssumme:

"Eigentlich ist mein ganzes Leben ein einziges unablässiges 'hineinhorchen' in mich selbst, in andere, in Gott. Und wenn ich sage: Ich 'horche hinein', dann ist es eigentlich Gott in mir, der 'hineinhorcht'. Das Wesentlichste und Tiefste in mir, das auf das Wesentlichste und Tiefste im anderen horcht. Von Gott zu Gott." (658)

Ein gewaltiger Satz, dicht und klar wie ein Diamant. Spüren wir nun diesem Dreiklang nach: zuerst Selbstanschauung, dann das Netzwerk von Alltag und Welt und dann das Geheimnis, das wir Gott nennen – und keine dieser drei Perspektiven ohne die andere.

Pionierin der Emanzipation

Lebenshungrig und wissbegierig will Etty Hillesum mit sich selber klarkommen und "die eigene Form finden". Schonungslos stellt sie sich dem verwirrenden Vielerlei ihrer Stimmungen und Interessen. Das Hineinhorchen gilt gerade im ersten Teil des Tagebuchs dem eigenen Körper. Schmunzelnd ist einmal vom "Tagebuch über meinen Bauch" (542) die Rede. Anfangs kommt sie schreibend oft darauf zu sprechen, was bei ihr "südlich des Zwerchfells" los ist. (491) 

"Es ist schwierig, mit Gott und dem Unterleib in gleicher Weise zurecht zu kommen." (105)

Auch über Kopf- und Magenschmerzen klagt sie öfter, aber im Laufe der Zeit und des Tagebuchs wird ihr immer klarer, wie viel davon nur körperlicher Ausdruck seelischer Not war. Immer stärker wächst ein gesundes Selbst- und Grundvertrauen.

Unbekümmert auf der Suche nach sich selbst, hat Etty Hillesum ein relativ wildes Liebesleben schon hinter sich, als sie das Tagebuch beginnt. Ganz unkonventionell lebt sie in Beziehung zu ihrem älteren Vermieter Hendrik Wegerif und gleichzeitig zu ihrem Seelenfreund, dem Therapeuten Julius Spier. Typisch ist z.B. der Tagebuch-Eintrag vom 4. August 1941: Wie engagiert da eine junge Frau nach ihrer Geschlechterrolle sucht – acht Jahre vor dem Erscheinen von Simone de Beauvoirs Klassiker zum Gender-Thema: "Das andere Geschlecht":

"Vielleicht muß die richtige, die innere Frauenemanzipation erst noch beginnen. Wir sind noch keine richtigen Menschen, wir sind Weibchen." (105)

Kein Hass – auch nicht gegen deutsche Soldaten

Hineinhorchen – es wird zu Etty Hillesums Grundwort in ihrer Sinnsuche. Hineinhorchen in sich, in andere, in Gott – das gehört für sie untrennbar zusammen. Also hineinhorchen auch in andere. Sie ist ein Beziehungsmensch, und notiert das auch ausdrücklich:

"Mein Gott, ich danke dir, dass du so viele Menschen mit ihren inneren Nöten zu mir kommen lässt. (685) (...) Selbst wenn ich allein bin, lebe ich dennoch in der Gemeinschaft und für die Gemeinschaft (559) (...) im ständigen Bewusstsein, dass ich das nicht nur für mich selbst tue." (563)

Steht am Anfang eine förmlich narzisstische Bemühung um Selbsterforschung von Leib und Seele, um Seelenfrieden und Selbstversöhnung, so wird Etty immer bewusster, was sie anderen verdankt und welche Bedeutung sie für andere hat. Da ist ihr väterlicher Freund Julius Spier, da sind viele Freundschaften im eher linken Studenten- und Intellektuellen-Milieu. Da sind dann vor allem ihre jüdischen Landsleute, denen sie nach Kräften beisteht – zuerst als eine Art Sozialarbeiterin im Durchgangslager Westerbork, dann selbst als Insassin dort. Ihre sprühende Mitmenschlichkeit und ansteckende Liebeskraft gewinnen durch Therapie und Bibel eine beeindruckende Dynamik:

"Wir müssen durchdrungen sein von der Überzeugung, dass jedes Fünkchen Hass, das wir dieser Welt zufügen, sie noch ungastlicher macht, als sie ohnehin schon ist." (670)

An einer anderen Stelle schreibt sie: Alles komme darauf an, den "Liebesvorrat (zu) erhöhen" in der Welt (598). Deshalb geht sie nicht in den bewaffneten Untergrund und Widerstand. Deshalb weigert sie sich entschieden, deutsche Soldaten zu verachten und zu hassen.

"Zum Erniedrigen braucht es immer zwei. Einer, der erniedrigt und einer, den man erniedrigen will, und vor allem: der sich erniedrigen lässt. Wenn letzterer fehlt... dann lösen sich die Erniedrigungen in Luft auf." (551)

Der Blick in den Himmel wird Trost im Lager

Das erlebt und bezeugt sie selbst durch ihre alltägliche Widerstandshaltung und dann im Lager als persönlich Schikanierte und bitter Betroffene. Erstaunlich, wie sie bis zuletzt voller Zuversicht bleibt und anderen helfend zugewandt. Verschwistert mit ihrer sozialen Sensibilität und ihrer politischen Wachheit ist ihre Naturverbundenheit: wie zärtlich ihre "Freundschaft mit dem Baum" vor dem Fenster ihrer kleinen Wohnung, wie bewundert der Jasmin dort, der sie sprachlos macht und staunen lässt (582). Und natürlich der offene Himmel: wichtigster Trost- und Hoffnungsort bis zuletzt. Noch aus dem Elend des Lagerlebens schreibt sie, wie sehr sie der Blick in den Himmel tröstet und sie nie am Stacheldraht des Hiesigen verzweifeln lässt.

"Wie oft habe ich gebetet: 'O Herr, mach mich doch ein bisschen einfacher.'"

So schreibt Etty Hillesum am 1. Juli 1943 – ein Jahr nach ihrer Gottesentdeckung in der Brunnentiefe ihrer selbst, ein Jahr nachdem sie für sich das Knien als Gebetsform entdeckte. Gegen Ende ihres Tagebuches und ihrer inneren Lehrjahre notiert sie, was viele große Mystikerinnen auch bezeugen:

"'Ruhen in sich.' Damit ist mein Lebensgefühl wohl am vollkommensten ausgedrückt. Ich ruhe in mir selbst. Und dieses Selbst, das Allertiefste und Allerreichste in mir, in dem ich ruhe, das nenne ich Gott." (657)

Jetzt kann sie den unglaublichen Satz schreiben:

"Ich bin den ganzen Tag mit Gott beschäftigt, als wäre das ganz selbstverständlich, aber dann muss man auch entsprechend leben." (675)

Und das tut sie auch – absolut zuversichtlich, dankbar und ermutigend. Fast scheint es, als nähme diese Gottesvertrautheit zu, je schrecklicher die Judenquälerei der Nazis wird. Alles wird ihr, wie sie nun schreiben kann, "ein einziges großes Gebet" (603) und "Knien die einzig menschenwürdige Gebärde" (634).  Dabei kennt sie die bitteren Warum-Fragen angesichts der Nazi-Gräuel durchaus:

"Ist es nicht fast gottlos, in einer Zeit wie dieser noch so sehr an Gott zu glauben? Ist es leichtsinnig, das Leben immer noch schön zu finden?" (582)

In Gott hineinhorchen und ihn finden

Aber sie ist hineingewachsen in die feste Zuversicht, "dass einem das Letzte im Innern nicht genommen werden kann" (636). Mehr noch, sie entdeckt den bedürftigen, den ohnmächtigen Gott, der unserer bedürfen will.

"Eines wird mir immer klarer: dass du uns nicht helfen kannst, sondern dass wir dir helfen müssen, und dadurch helfen wir uns selbst. Und das ist das Einzige, was wir in dieser Zeit bewahren können, und auch das Einzige, worauf es ankommt: ein kleines Stück von dir in uns selbst zu retten, Gott. Und vielleicht können wir auch mithelfen, dich in den geplagten Herzen anderer zu Tage zu fördern. (...) Ich ziehe dich auch nicht zur Rechenschaft, du kannst uns später dafür zur Rechenschaft ziehen." (620)

In solcher Gottesbeziehung macht Etty Hillesum eine ganz entscheidende Entdeckung: Indem sie in Gott hineinhorcht, findet sie nämlich Gott, der seinerseits in sie hineinhorcht und auf sie achtet (620). Ja, das sind Spitzensätze tiefer Religiosität, Ausdruck jener intimen Gottesfreundschaft, die zum Golfstrom biblischer Mystik gehört. Bezeichnend ist, dass niemand zu Lebzeiten von ihrem innigen Gottesverhältnis erfuhr, auch ihre nächsten Freundinnen nicht. Dieses Hineinhorchen in Gott ist so intim, dass es größte Diskretion braucht, ja Ehrfurcht und Anbetung. Es ist ja in der Tat unglaublich, dass der unfassbare Gott mir näher ist als ich mir selbst. Solcher Glaube verändert das Leben.

Vor 80 Jahren, am 3. Juli, schrieb Etty Hillesum in einem Brief:

"Vielleicht bin ich tatsächlich eine ehrgeizige Frau. Ich würde ein ganz kleines Wörtchen mitreden wollen." (787)

Ja, das tut sie mit ihrem Tagebuch, in dem ihr kurzes Leben zu einer faszinierenden Glaubenswerkstatt geworden ist: der Glaube kommt vom Hören, vom Hineinhorchen – und er besteht in der Erkenntnis, dass Gott längst da ist und seinerseits hineinhorcht.


Die redaktionelle Verantwortung für die Sendung hat Martin Korden.

Musik:

Mendelssohn – Piano Trio in D Minor: I. Allegro molto vivace

Mendelssohn – Piano Trio in D Minor: I. Allegro molto vivace

Mendelssohn – Piano Trio in D Minor: I. Allegro molto vivace

Mendelssohn – Piano Trio in D Minor: I. Allegro molto vivace

Mendelssohn – Piano Trio in D Minor: I. Allegro molto vivace

Über den Autor Gotthard Fuchs

Pfarrer Dr. Gotthard Fuchs, wurde 1963 in Paderborn zum Priester geweiht und hat seitdem zahlreiche Tätigkeiten in Seelsorge und theologischer Lehre, in Beratung- und Bildungsarbeit geleistet. Von 1983 bis1997 war Fuchs Direktor der Katholischen Akademie der Diözesen Fulda, Limburg und Mainz; zuletzt war er Ordinariatsrat für Kultur-Kirche-Wissenschaft. Seine Schwerpunkte liegen auf der Geschichte und Gegenwart christlicher Mystik im Religionsgespräch, auf dem Verhältnis von Theologie und Psychologie und von Seelsorge und Therapie. Zu diesen Themen hat er zahlreiche Veröffentlichungen publiziert.

Kontakt: gotthardfuchs@t-online.de