Geräusch: Eine Tasse fällt auf den Boden fällt und zerbricht
Oh nein! Das darf doch nicht wahr sein! Beim Abwaschen nach dem Abendessen fiel mir doch tatsächlich eine Kaffeetasse aus der Hand. Ich hatte sie von der Gemeinde, in der ich für ein paar Jahre als Seelsorger gearbeitet hatte, zum Abschied geschenkt bekommen. Jetzt also lag sie in Scherben auf dem Boden. Wie ärgerlich! Aber dann dachte ich mir: Junge, ich trauere um eine Kaffeetasse, die zerbrochen ist. Davon geht nun wahrlich die Welt nicht unter. Viel schmerzhafter sind doch jene großen Brüche zu verkraften, die Menschen vom Leben ungefragt zugemutet werden.
Für den einen ist es der strukturelle Umbruch in der Firma. Mit Mitte Fünfzig ist auf einmal der Arbeitsplatz gefährdet. Jemand anders steht nach dreißig Jahren vor dem Scherbenhaufen seiner gescheiterten Ehe. Ein dritter wiederum muss mit der ärztlichen Diagnose Krebs fertig werden. Für sie alle bricht in diesem Augenblick eine ganze Welt zusammen. Das macht Angst und verunsichert. Der sicher geglaubte Lebensentwurf kommt auf einmal ins Rutschen. Nichts ist mehr so wie es vorher war.
Von solch schmerzhaften Erfahrungen erzählen mir Menschen immer wieder, wenn sie mich um ein seelsorgliches Gespräch bitten. Sie erwarten von mir keinen billigen Trost. Sehr wohl aber ein Wort, das ihnen in diesem Augenblick ein Stück Halt und Orientierung bieten kann.
Tatsächlich ist das menschliche Leben kein Spaziergang. Mit seinen Bedrohungen im Großen und den Brüchen im Kleinen fordert es uns stetig heraus, uns immer wieder neu zu orientieren und zu entscheiden. Wir müssen mit unseren Wunden, die uns das Leben geschlagen hat, umgehen lernen. Steht am Ende der Zusammenbruch? Oder gibt es die Chance eines neuen Aufbruchs, sodass uns die Narben des Lebens keinen Schmerz mehr bereiten? Diesen Fragen möchte in dieser Sendung nachgehen.
Ich komme noch einmal zurück zu meiner in die Brüche gegangenen Kaffeetasse. Etwas verärgert über mich selbst machte ich mich auf die Suche nach Handfeger und Kehrblech. Die Scherben gehörten schnellstens in die Mülltonne, bevor sich noch jemand daran verletzt.
So war mein erster Gedanke. Beim näheren Hinsehen aber bemerkte ich: es lagen kaum Splitter auf dem Boden, nur ein paar Scherben mit klaren Bruchstellen. Ob man die Tasse eventuell doch noch reparieren könnte?
Mir kam eine uralte Kunstrichtung aus Japan in den Sinn, von der ich gelesen hatte, dass sie aus solch einer vermeintlichen Not eine Tugend macht. Diese Kunstrichtung wird Kintsugi genannt, was man ungefähr mit "Goldflicken" übersetzen kann. Kostbares Porzellan, das zu Bruch gegangen ist, wird nicht einfach im Mülleimer entsorgt. Vielmehr werden die Bruchstücke einer Vase oder eines Tellers mit einer Mischung aus Lack und Goldstaub wieder zusammengefügt. Der augenscheinliche Makel des Materials wird dabei also nicht versteckt, ganz im Gegenteil: Er wird ein sichtbarer Teil, der die Geschichte des Objekts sichtbar macht und ab jetzt zu dessen Schönheit beiträgt. Wo ich also nur Scherben sah, würden die japanischen Künstler die Möglichkeit zu etwas ganz Neuem sehen.
Was wäre, so frage ich mich, wenn wir als Menschen mit unseren Brüchen im Leben genauso umgehen würden? Wenn wir an unseren Wunden und Verletzungen also nicht zerbrechen müssten, sondern sie als Chance erkennen könnten; sie als Teil des Lebens annehmen und wertschätzen würden, sodass Heil und Heilung geschehen könnte?
Ich bin zutiefst überzeugt, dass wir unserem Leben nur dann gerecht werden, wenn wir Licht und Dunkel, Freude und Schmerz gleichermaßen anzunehmen wissen. Nur dann kann letztlich ganzheitliche Heilung geschehen, die aber am Ende anders aussehen mag, als wir uns anfangs vorgestellt haben. Das macht mir auch folgende Geschichte deutlich:
"Es war einmal ein Wasserträger. Der hatte zwei Krüge mit denen er Wasser holte, dann trug er sie, je ein Krug auf jeder Seite. Nun hatte aber einer der beiden Krüge einen Sprung und verlor die Hälfte seines Wassers auf der Strecke. Nach ein paar Jahren, war der Wasserkrug derart beschämt, dass er sich an den Wasserträger wendete: 'Entschuldige, dass ich immer so viel Wasser verliere, ich bin einfach zu nichts nütze.' Der Wasserträger sah den Wasserkrug von der Seite an: 'Ich muss noch mal Wasser holen; erfreu dich derweil an den schönen Blumen, die am Wegesrand stehen', riet er ihm. – 'Ja, schöne Blumen, aber du schleppst und schleppst und ich kann dir nicht helfen.' Da setzte sich der Wasserträger zu seinem Krug und sagte ihm: 'Natürlich weiß ich, dass du Wasser verlierst, aber als ich das sah, habe ich Blumensamen am Straßenrand gestreut und immer, wenn du Wasser verloren hast, hast du die Samen gegossen. Sie sind aufgegangen und seither blühen sie. Jedes Mal, wenn ich die Straße langgehe, freue ich mich darüber."
Es gibt keinen Menschen, der ohne Fehler ist. Heute nicht und auch nicht in früheren Zeiten. Ein kritischer Blick auf die Menschen der Bibel beispielsweise zeigt mir, dass sie allesamt keine makellosen Biografien aufzuweisen hatten. So war Mose, der das Volk aus der Knechtschaft Ägyptens in die Freiheit führen sollte, ursprünglich ein Mörder und stotterte. David, der große König von Israel, beging Ehebruch mit der Frau seines besten Soldaten. Petrus schließlich, einer der engsten Vertrauten Jesu, verleugnete ihn, um von sich selbst abzulenken. Die Reihe solchen menschlichen Unvermögens und Versagens in der Bibel ließe sich noch verlängern. Aber schon diese Beispiele verdeutlichen mir: Der Gott der Bibel beruft nicht die Qualifizierten. Vielmehr qualifiziert er die Berufenen.
Richard Rohr, amerikanischer Theologe und Franziskanerpater sieht sogar eine göttliche Chance darin, wenn der Mensch sich als verwundet erfährt:
"In der menschlichen Sphäre zeigt sich Verwundbarkeit als Verletzung, Trauer oder Sehnsucht. Sie sind die primären Pfade, auf denen wir Raum schaffen für die göttliche Erfüllung, die ständig darauf wartet, in einen offenen und einladenden Raum einzuströmen. Ebenso, wie die Natur ein Vakuum scheut, wartet Gott auf jedes spirituelle Vakuum und eilt herbei, um es zu füllen. Gott kommt allerdings nie ungebeten, unnötig oder unersehnt." [1]
Die Geschichten der biblischen Gestalten lehren mich, darauf zu vertrauen, dass schwach zu sein nicht automatisch eine Einschränkung meines Selbstwertes bedeuten muss, sondern im Grunde zur ganzheitlichen Heilung meiner Person beitragen kann. Ich kann frei werden von dem Gedanken, dass mein Leben immer perfekt und makellos sein soll. Mehr noch: als Christ wage ich zu glauben, dass durch meine menschliche Schwäche und mein Versagen erst recht Gottes Liebe und Barmherzigkeit zur Geltung kommt. Davon ist auch der Apostel Paulus überzeugt, wenn er in einem Brief an die Gemeinde in Korinth schreibt:
2. Korintherbrief 4,6-7
"So wie Gott bei der Erschaffung der Welt einmal befahl: 'Licht soll aus der Dunkelheit hervorbrechen!', so hat sein Licht auch unsere Herzen erhellt. Und durch uns sollen nun alle Menschen Gottes Herrlichkeit erkennen, die uns auf dem Antlitz Christi so hell entgegen strahlt. Diesen kostbaren Schatz tragen wir allerdings in einem zerbrechlichen Gefäß. Und das ist gut so; denn dadurch wird es umso klarer, dass die außerordentliche Kraft, die in uns wirkt, von Gott kommt und nicht von uns selbst."
Ihr Leben als ein zerbrechliches Gefäß der Liebe Gottes wahrzunehmen, das haben auch jene Frauen und Männer getan, derer die katholische Kirche alljährlich am Fest "Allerheiligen" gedenkt. Es wird in wenigen Tagen, am 1. November, gefeiert. Diese heute als Heilige verehrten Menschen eint, dass sie sich ihrer menschlichen Schwächen und Begrenzungen bewusst waren. An ihren biografischen Brüchen hätten sie verzweifeln können. Sie hielten Gott aber ihre Schwächen hin, weil sie die Verheißung ernst nahmen, die in Psalm 51 so wunderschön zum Ausdruck kommt, da heißt es: "Ein zerbrochenes und zerschlagenes Herz wirst du, Gott, nicht verschmähen." Franz Kamphaus, der emeritierte Bischof von Limburg, fragt in einem seiner Bücher die Leser:
"Kennt unser Glaube noch das Staunen, trotz aller Brüchigkeit und Erbärmlichkeit für Gott brauchbar zu sein; die Verwunderung darüber, dass Gott ausgerechnet mit mir täglich neu etwas anfangen will? Wir ahnen gar nicht, was Gott mit den Bruchstücken unseres Lebens machen kann, wenn wir sie ihm ganz überlassen. Dann geschieht es, dass Menschen unseren Weg kreuzen und denken, da ist doch etwas dran, da steckt mehr dahinter, dass sie also nicht nur sagen: ein guter Kerl, sondern dass durch den Kerl der Schatz durchkommt: Jesus Christus! Das wird nur dann gelingen, wenn dieser Schatz unser Schatz ist, der Schatz unseres Lebens." [2]
Auch als gläubiger Mensch werde ich in diesem Leben nie vollkommen heil sein. Daran brauche ich aber nicht zu verzweifeln, denn das Annehmen jenes Mangels an Ganzheit ist doch genau das, was wir als Christen unter Heiligkeit verstehen. Seelsorger Richard Rohr meint:
"Heiligkeit bedeutet nicht, dass Menschen psychisch oder moralisch vollkommen sind (ein verbreitetes Missverständnis), sondern dass sie fähig sind, die Dinge auf eine wesentlich 'ganzheitlichere' und einfühlsame Weise zu sehen und zu genießen, selbst wenn sie dabei persönlich gelegentlich versagen." [3]
Es geht im Grunde also um das Akzeptieren der ganzen Realität meines Menschseins und um das Vertrauen in die Zusage: Du bist mehr als deine Narben. Noch ein letzter, aber nicht unwesentlicher Gedanke, auf den Marianne Williamson hinweist, die Autorin des Buches "Rückkehr zur Liebe". Sie schreibt, dass wir uns vor unserem Unvermögen nicht fürchten müssen. Aber ebenso wenig vor unseren Stärken und unseren Fähigkeiten. Nelson Mandela hat bei seiner Antrittsrede als erster dunkelhäutiger Präsident Südafrikas aus diesem Buch zitiert. Es sind Sätze, die auch in mir die Zusage stärken: Du bist mehr als deine Narben!
"Unsere tiefste Angst ist nicht, ungenügend zu sein. Unsere tiefste Angst ist, dass wir über alle Maßen machtvoll sind. Es ist unser Licht, das wir am meisten fürchten, nicht unsere Dunkelheit. Wir fragen uns: Wer bin ich eigentlich, um von mir zu glauben, dass ich brillant, großartig, begabt und einzigartig bin? Aber genau darum geht es, warum solltest Du es nicht sein?
Du bist ein Kind Gottes. Dich klein zu halten, dient der Welt nicht. Es zeugt nicht von Erleuchtung, sich zurückzunehmen, nur damit sich andere Menschen um Dich herum nicht verunsichert fühlen. Wir alle sind aufgefordert, wie Kinder zu strahlen. Wir wurden geboren, um die Herrlichkeit Gottes, die in uns liegt, zu verwirklichen. Sie ist nicht nur in einigen von uns, sie ist in jedem Menschen. Und indem wir unser eigenes Licht scheinen lassen, geben wir anderen Menschen unbewusst die Erlaubnis, das Gleiche zu tun. Wenn wir von unserer eigenen Angst befreit sind, befreit unser Sein automatisch auch andere." [4]
Die redaktionelle Verantwortung für die Sendung hat Martin Korden.
Musik:
Hans Jürgen Hufeisen – Air à l‘Italien
Hans Jürgen Hufeisen – Quellwasser
Hans Jürgen Hufeisen – Windsongs from the North
Hans Jürgen Hufeisen – Little David
[1] Richard Rohr: Ganz da."Einfach und Kontemplativ leben", Claudius Verlag 2018, S. 61; 8 Zeilen
[2] Franz Kamphaus: "Der Unbekannte aus Nazaret", Patmos 2023, S. 169; 12 Zeilen
[3] Richard Rohr: Ganz da. "Einfach und Kontemplativ leben", Claudius Verlag 2018, S. 53; 6 Zeilen
[4] https://www.stimmvolk.ch/customer/files/161/Marianne-Williamson---Unsere-tiefste-Angst.pdf, abgerufen am 16. Juli 2024