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"Wir sehen jetzt durch einen Spiegel, dann aber…" Gotteserfahrung bei Meister Eckhart und Rumi

Am Sonntagmorgen, 22.10.2023

Harald Schwillus, Halle/Saale

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Bei mir zuhause hängt ein alter Spiegel, den ich vor über zehn Jahren von meinem Onkel geerbt habe. Der Spiegel dürfte so um die 60/70 Jahre alt sein und aus Istanbul stammen. Mein Onkel liebte diese Stadt und die Türkei überhaupt – und hatte gute Kontakte dorthin; immer wieder brachte er Erinnerungsstücke von dort mit. Dazu gehört wohl auch dieser Spiegel: ein prächtiges Exemplar, groß und mit einem fein geschnitzten Rahmen, der sich vor allem oberhalb des Spiegelglases in vielgestaltigen Ornamenten aus Holz verliert. Dieser Spiegel stand lange Jahre im Münsterland im Schlafzimmer meines Onkels – seinem Sterbezimmer. Ich kann mir vorstellen, wie oft er sich darin betrachtet hat. Auch bevor er sonntags zur Kirche ging, um zu sehen, ob alles gut sitzt und in Ordnung ist.

Der Spiegel erinnert mich an den Verstorbenen und macht ihn so in Gedanken für mich immer wieder sichtbar. Spiegel sind schon seit Jahrhunderten symbolische Hinweise auf ein Sehen, das nicht nur die reale Welt sichtbar macht. Ein Spiegel zeigt jedoch immer lediglich ein Spiegelbild und damit nicht das "Original". Die Grenze zwischen dem Spiegelbild und seinem realen Gegenüber bleibt erhalten. Dennoch bildet das Spiegelbild das Original ab.

Der mittelalterliche christliche Mystiker Meister Eckhart hat diese Überlegungen genauso genutzt wie der islamische Mystiker Rumi. Beide versuchen mit dem Bild des Spiegels ihre Gotteserfahrung verständlich zu machen. Meister Eckhart drückt dies in einer seiner Predigten so aus:

"Ich nehme ein Becken mit Wasser und lege einen Spiegel hinein und setze es unter den Sonnenball; dann wirft die Sonne ihren lichten Glanz aus der Scheibe und aus dem Grunde der Sonne aus und vergeht darum doch nicht. Das Rückstrahlen des Spiegels in der Sonne ist in der Sonne (selbst) Sonne, und doch ist der Spiegel das, was er ist. So auch ist es mit Gott. Gott ist in der Seele mit seiner Natur, mit seinem Sein und mit seiner Gottheit, und doch ist er nicht die Seele. Das Rückstrahlen der Seele, das ist in Gott, und doch ist die Seele das, was sie ist." [1]

Auch der islamische Mystiker Rumi nutzt die Metapher des Spiegels, um die Distanz zwischen Gott und seiner Schöpfung, zwischen Gott und dem Menschen, zu bewahren und zugleich eine Brücke zwischen beiden zu schlagen:

"Oh Mensch! Du bist doch das Buch Gottes,

Du bist der Spiegel der Schönheit des Königs.
Alles, was im Universum ist, ist auch in dir enthalten;
Was du dir auch herbeiwünschst, wünsche es von dir, suche es bei dir selbst.

Wonach du auch suchst – du bist es, du selbst.
Du bist wertvoller als beide Welten;
Du bist dir aber dessen nicht bewusst.

Schätze dich nicht als gering ein, denn dein Wert ist sehr hoch." [2]

Die persönlichen Gotteserfahrung verbindet

Meister Eckhart und Rumi konnten sich nie kennenlernen. Und doch ist es erstaunlich, wie nahe sie sich in ihrer Mystik sind: hier der mitteleuropäische Christ – dort der Muslim aus dem Nahen Osten. Beide lebten im 13. Jahrhundert; beide waren erfüllt von einer tiefen persönlichen Gotteserfahrung, die sie nicht für sich behalten konnten. Sie waren Liebende, die ihre liebende Gotteserfahrung allen Menschen mitteilen wollten. So erfüllt waren sie davon! Zugleich machte sie diese Gotteserfahrung weit und befreite sie von einer engen oder angsterfüllten Weise, ihren Glauben an Gott zu leben. Dass das nicht jedem gefiel, mussten beide in ganz unterschiedlicher Weise erfahren.

Meister Eckhart wurde am Ende seines Lebens aufgrund einiger seiner Aussagen wegen Häresie angeklagt. Er verstarb jedoch noch bevor der gegen ihn gerichtete Inquisitionsprozess abgeschlossen wurde. Er war ein gefragter Prediger und Hochschullehrer: u.a. in Paris, Straßburg und Köln. Er rezipierte nicht nur christliche Autoren, sondern insbesondere auch die Schriften des jüdischen Philosophen Maimonides.

Auch islamische Denker kannte er. Für Meister Eckhart war es wichtig, dass der Mensch seine guten Gaben selbständig in Gebrauch nimmt – sie sind ihm ja von Gott gegeben worden. Meister Eckhart mahnt daher zur Aufmerksamkeit.

"Lausche auf das Wunder!
Wie wunderbar:
Da draußen stehen wie da drinnen.
Begreifen und umgriffen werden.
Schauen und zugleich das Geschaute selbst sein.
Halten und gehalten werden – Das ist das Ziel:

Wo der Geist in Ruhe verharrt,
der lieben Ewigkeit vereint." [3]

Der Sufismus – eine mystische Strömung des Islam

Der islamische Mystiker Rumi wurde gut 50 Jahre vor Meister Eckhart geboren: im Jahre 1207. Sein vollständiger Name lautet Dschalal ad-Din Muhammad Rumi. Den Beinamen Rumi, unter dem er heute bekannt ist, erhielt er nach der osmanischen Bezeichnung Anatoliens: Rum. Dort hatte sich die Familie seiner Eltern nach ihrer Flucht vor den Mongolen niedergelassen. Rumi lehrte dort an der Universität von Konya – damals ein wichtiges Zentrum islamischer Wissenschaft und Kultur. Dort lernte Rumi auch den Sufismus kennen – eine mystische Strömung des Islam, der jenseits von Aberglauben und Dogmatismus eine religiöse Beziehung zu Gott aufbauen möchte.

In Konya traf Rumi den Sufi und Derwisch Schams-i Tabrisi. Dieser sollte sein Leben und Denken nachdrücklich prägen. War Rumi bisher ein geschätzter Gelehrter, der in den akademischen Bahnen seiner Zeit dachte und arbeitete, entwickelte er sich nun zu einem Mystiker, der ganz von der Liebe zu seinem spirituellen Lehrmeister Schams-i Tabrisi – und damit zugleich von der mystischen Liebe zu Gott – erfüllt war.

Ob die etwa dreijährige Beziehung der beiden auch erotische Züge trug, konnte nie bestätigt werden. Doch führte sie zu Eifersüchteleien und Missgunst in Konya. Schließlich verschwand Schams spurlos – vielleicht wurde er ermordet. Rumi war außer sich vor Trauer. Doch diese Trauer machte ihn zu dem Mystiker, als der er heute bekannt ist. Seine Texte über die Liebe zu Gott und damit auch die Liebe zu allem Geschaffenen sind erst nach dieser Erfahrung entstanden.

Sie haben ihm als gläubigem Muslim eine Weite des Denkens und der mystischen Erfahrung eröffnet: Gott liebt alle seine Geschöpfe und will ihnen verbunden sein – Religionsgrenzen zählen dabei nicht. Diese Weite seines Denkens zeigte sich eindrücklich, als er am 17. Dezember 1273 – vor 750 Jahren – verstarb: Gläubige aus Islam und Christentum trauerten in Konya gemeinsam um ihn. Bis heute ist sein Mausoleum ein Pilgerziel. An der Kuppel ist eine Inschrift angebracht, die die Weite von Rumis Spiritualität und Mystik verdeutlicht:

"Komm, komm, wer immer du bist,
Wanderer, Götzenanbeter,
du, der du den Abschied liebst,
es spielt keine Rolle.

Dies ist keine Karawane der Verzweiflung.
Komm, auch wenn du deinen Schwur
tausendfach gebrochen hast.
Komm, komm, noch einmal, komm!" [4]

Mystik, Liebe und Erotik

Die Sprache der Mystik versucht, eine ganz persönliche Gotteserfahrung auszudrücken – und ringt dabei um Worte. Meister Eckhard spricht von innigen Beziehungen, von einer Kraft, die über uns Menschen hereinbricht, ganz unverfügbar – wie die Liebe. Sie kann nicht gemacht, sondern nur erfahren werden. Auch Rumi sucht nach Worten für dieses Geschenk. Und so haben auch erotische Bilder und Metaphern einen Platz in der Mystik gefunden.

In den Religionen hat die erotische Sprachwelt jedoch einen schweren Stand. Willigis Jäger spricht dies in einem Text zur Mystik Mechthilds von Magdeburg und Rumis an:

"Religion und Erotik kommen aus der gleichen Quelle, aus dem Einen. Wir haben die Religion vom Leben getrennt, indem wir Liebe in Agape und Eros aufgespalten haben. Agape als die religiöse Form der Liebe, Eros als die weltliche. Wir haben die Welt aufgeteilt in ‚sakral‘ und ‚profan‘, in Gottesdienst und Alltag, in Gebet und Politik, in Sünde und Heiligkeit. Religion jedoch ist der Alltag. Das Göttliche vollzieht sich in allem, was ist. Solange wir nicht zu dieser Erkenntnis gelangen, sind wir nicht religiös, sondern spalten auf. Religion sollte zur Kommunion mit Gott führen und nicht im Reden über Gott steckenbleiben. In diese Einheit führt die Liebe." [5]

Die Mystiker versuchen diese Einheit auszudrücken – und verwenden dafür Bilder und Metaphern aus der Welt der Erotik. So auch Rumi:

"Als ich zuerst vernahm, was man sagt,
dass die Liebe sei,
hab ich Herz, Seel‘ und Gesicht
in den Staub ihres Weges gewühlt.

Liebender und Geliebter,
so glaubte ich damals, sind zwei.
Nein, sie sind beide eins, –
nur mein Blick hat geschielt!" [6]

Die engen Grenzen der Sprache

Die Mystik beschreibt einen Weg der Gotteserfahrung, der anders als ein argumentierendes Nachdenken über Gott einen sehr persönlichen Weg einschlägt. Meister Eckhart hat jedoch darauf aufmerksam gemacht, dass dieser Weg auch der Vernunft bedarf – ist doch auch sie eine gute Gabe Gottes. Eckhart selbst hat auf diese Verbindung immer wieder hingewiesen. Er ist sich jedoch bewusst, dass eine so persönliche, liebende Erfahrung Gottes, wie auch er sie gemacht hat, nicht annährend in eine regulierende Sprache wie die der wissenschaftlichen Theologie übersetzt werden kann. Dennoch unternimmt er immer wieder den Versuch, genau dies zu tun – und weiß um das Scheitern des Experiments.

Meister Eckhart befindet sich damit in guter Gesellschaft. Schon Paulus wusste vor fast 2000 Jahren um die Schwierigkeit, eine mystische Gotteserfahrung in Worte zu fassen. Und er tröstet seine Leser: wer wirklich liebt, kann dies aushalten und kann hoffen.

"Die Liebe hört niemals auf. Prophetisches Reden hat ein Ende, Zungenrede verstummt, Erkenntnis vergeht.

Denn Stückwerk ist unser Erkennen, Stückwerk unser prophetisches Reden; […]

Wir sehen jetzt wie durch einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse, dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht.

Jetzt ist mein Erkennen Stückwerk, dann aber werde ich durch und durch erkennen, so wie ich auch durch und durch erkannt worden bin.

Für jetzt bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; doch am größten unter ihnen ist die Liebe.“ (1 Kor 13,8f.12f.)"

Wenn ich in den Istanbuler Spiegel meines Onkels schaue, erinnere ich mich an seinen tiefen christlichen Glauben und seine Beziehungen in die Türkei. In gewisser Weise war auch er ein Grenzgänger zwischen Orient und Okzident. Und er hatte ein Gespür für eine Einheit von uns Menschen über kulturelle und religiöse Grenzen hinaus.

In Gott sind alle eins

Viel tiefer wissen Mystiker wie Meister Eckhart und Rumi um diese Einheit, die alle Menschen umfasst, weil sie Gottes Geschöpfe sind – von Gott geliebt. Rumi gerät darüber geradezu in einen Taumel der Liebe.

"Komm, lass uns anfangen zu lieben
und die irdische Welt mit Goldstaub bestreuen!
Komm, lass uns zum Frühling der Liebe werden!
Lass uns Moschus und Amber atmen!
Erde, Berge, Steppe, Garten, unser Leben,
lass uns alles umhüllen mit grünem Kleide.
Lass uns aufmachen unsere Seele.
Lass uns das lernen von saftigen Bäumen." [7]

Die redaktionelle Verantwortung für die Sendung hat Martin Korden.

Musik:

Granada: Poema en piedra de la Alhambra

Granada: Romance fronterizo

Granada: Danza morisca


[1] Predigt 26, aus: Meister Eckhart: Deutsche Predigten und Traktate. Hg. u. übers. v. Josef Quint, München 1995 (7. Aufl.), S. 273

[2] Rumi: Fih-i ma fihi, 1362, 76.15, zit. n.: Abdullah Kușlu: Die Korrelation zwischen dem Schöpfer und der Schöpfung in Masnavī von Rūmī. Inaugural-Dissertation, Bonn 2018, S. 148.

[3] Meister Eckhart: Deutsche Predigten und Traktate. Hg. u. übers. v. Josef Quint, München 71995, S. 285.

[4] zit. n. Christoph Quarch: Die Erotik des Betens. Eine mystische Gebetsschule mit Mechthild von Magdeburg und Rumi, München 2007, S. 19.

[5] Willigis Jäger: Nachwort, in: Christoph Quarch: Die Erotik des Betens. Eine mystische Gebetsschule mit Mechthild von Magdeburg und Rumi, München 2007, S. 206–210, hier: S. 207f.

[6] Rumi: Rubai, 1246, zit. n.: Quarch, Erotik, S. 172.

[7] Diwan, 1532; zit. n.: Christoph Quarch: Die Erotik des Betens. Eine mystische Gebetsschule mit Mechthild von Magdeburg und Rumi, München 2007, S. 149.

Über den Autor Harald Schwillus

Harald Schwillus, geboren 1962, ist seit 2005 Professor für katholische Religionspädagogik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

Kontakt: harald.schwillus@kaththeol.uni-halle.de

Institut für Katholische Theologie und ihre Didaktik, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Franckeplatz 1/Haus 31, 06110 Halle (Saale)