Astrid Lindgren hat es getan, Max Frisch, Virginia Woolf und Franz Kafka ebenso. Sie alle haben ein Tagebuch geführt. Wenn es allerdings nach Kafkas Willen gegangen wäre, hätte man seine Tagebuchaufzeichnungen nach seinem Tod vernichtet. Heute ist die Literaturwissenschaft dankbar darüber, dass es dazu nicht gekommen ist. Kafkas Tagebücher gelten heute als beeindruckendes Stück Weltliteratur.
Durch ihr Tagebuch weltbekannt geworden ist auch Anne Frank. Ihre sehr persönlich gehaltenen Aufzeichnungen geben uns einen guten Einblick in das Leben und die Gedankenwelt jenes 13-jährigen Mädchens, das sich für zwei Jahre zusammen mit ihrer Familie vor den Nationalsozialisten in den Niederlanden versteckt hielt, bevor sie zuerst verraten und dann im KZ Bergen Belsen von ihren Schergen ermordet wurde. Die ganze Bandbreite ihrer Stimmungen und Gefühle, der nagenden Fragen und nie enden wollenden Zweifel ihrer Persönlichkeit hat Anne Frank festgehalten in ihrem Tagebuch, das sie liebevoll Kitty nannte. So schreibt sie:
"Ach, mir kommt so viel hoch, wenn ich abends allein bin, auch tagsüber, wenn ich die Leute aushalten muss, die mir zum Hals heraushängen oder meine Absichten immer verkehrt auffassen. Letztendlich komme ich deshalb immer wieder auf mein Tagebuch zurück, das ist mein Anfang und mein Ende, denn Kitty ist immer geduldig." [1]
"Ich reise niemals ohne mein Tagebuch", soll Oskar Wilde einmal behauptet haben, denn, so der irische Schriftsteller weiter: "Man sollte immer etwas Aufregendes zu lesen haben." Damit mag Oskar Wilde recht haben. Aber auch er dachte wohl kaum daran, seine Aufzeichnungen einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Ein Tagebuch ist schließlich etwas Persönliches und Intimes. Niemand außer einem selbst sollte es lesen, was da geschrieben steht.
Der wahre Grund, warum Oskar Wilde und viele Menschen nach ihm Tagebuch geführt haben, ist daher wohl eher darin zu suchen, dass es für sie hilfreich war, die eigenen Gedanken zu sortieren und den roten Faden im Chaos der Sorgen, Ängste und Zweifel überhaupt erst einmal zu finden. Genau das wird für das seelische Gleichgewicht des Tagebuch-Schreibers oder der -Schreiberin in den meisten Fällen auch heute noch als heilsam empfunden. Zu diesem Ergebnis kommt zumindest Jana Sophie Fischer. Die Studentin aus Graz hat eine Masterarbeit zu diesem Thema geschrieben. Sehr persönlich bekennt sie darin:
"Das Tagebuchschreiben begleitet mich selbst bereits seit zehn Jahren mehr oder weniger regelmäßig und ich kann für mich selbst feststellen, dass ich einen großen Mehrwert aus dieser Praxis ziehe. Das Tagebuch stellt für mich einen Rückzugs- und Besinnungsort dar, es schafft Klarheit und bringt mich immer wieder zurück zu mir, wenn ich das Gefühl habe, in der Fülle an Eindrücken unterzugehen oder die Verbindung zu meinem innersten Wesen zu verlieren." [2]
Da ein Tagebuch in der Regel nicht für jemand anderen zur Einsichtnahme gedacht ist, ist die Möglichkeit zur ehrlichen Auseinandersetzung mit sich selbst und seinem Leben durchaus gegeben. Daher gibt es wohl kaum ein Medium, das sich besser als Instrument zur Selbstreflexion eignet. Auf diesen Gedanken verweist auch der Schriftsteller Ulrich Schaffer, der für mich wie kaum ein anderer in seinen Büchern die inneren Regungen des Menschen beschreibt und positive Deutungen dazu anbietet:
"Gerade das Aufschreiben von Ahnungen, Bildern, Gefühlen und Vermutungen schafft uns die Begegnung mit dem Unbewussten. Was wir zuinnerst tragen, bringen wir so aus uns heraus und zu Papier, wo wir es ansehen und untersuchen können. Es bleibt dann nicht nur ein flüchtiger Gedanke, eine 'Anwandlung', der wir nicht viel Bedeutung beimessen. Die schriftliche Fixierung macht sie wichtig. Wenn wir dann feststellen, dass 'nichts dahinter' war, können wir sie loslassen. Aber zumindest haben wir versucht, der tieferen Dimension in uns nachzugehen." [3]
Schaffer, selbst ein leidenschaftlicher Tagebuchschreiber, ist davon überzeugt, dass gerade unsere Sprache ein wichtiges Medium zu uns selbst ist. Aber auch er weiß darum, dass es kein einfacher Weg ist, seine tiefsten Gedanken und Emotionen ins Wort zu bringen. Das ist und bleibt eine Herausforderung für alle, die sich auf solch ein Abenteuer einlassen. Dabei geht es selbstverständlich nicht darum, großartige Literatur aufs Papier zu bringen. Vielmehr ist das eigene Tagebuch eine konkrete Gestaltungshilfe auf dem Weg zu unserem wahren Selbst. Schaffer schreibt:
"Der Prozess des Schreibens ist, allem einen Namen zu geben. Die Welt wird handhabbarer. Wir können alles anreden. Eine Kommunikation kann stattfinden. Im Tagebuchschreiben wird dies ganz deutlich. Uns geht es nicht gut, wir leiden an irgendetwas. Beim Notieren dieses Zustandes finden wir Worte, die uns näher an diesen Zustand heranführen. Wir beginnen zu verstehen. Wir können mit uns selbst, und vielleicht dann später auch mit jemand anderem, darüber reden. Unser Leid hat einen Namen und damit hat es auch ein Gesicht bekommen. Vielleicht lässt sich jetzt auch der Ursprung finden, und es mag sogar Möglichkeiten geben, Entscheidungen zu treffen, die diesen Zustand verändern. In diesem Vorgang haben wir uns an etwas herangeschrieben und es dann schreibend begriffen. So erobern wir Leben." [4]
Seit geraumer Zeit schreibe auch ich ein Tagebuch. Anlass, damit zu beginnen, war damals meine tiefe Sehnsucht, meiner persönlichen Spiritualität wieder mehr Raum zu geben. Schon als junger Mensch habe ich die Erfahrung machen können, wie sich Fragen und Regungen, die sich in meinem Alltag zeigten, verdichteten und nach Antworten verlangten und wie ich Stärkung und Orientierung erfuhr, wenn ich Gott mehr Raum in meinem Leben gab. Ich spürte, dass mir das im Laufe der Jahre etwas abhandengekommen war und ich deshalb in meinem derzeitigen Leben einen anderen, einen neuen Akzent setzen müsse.
Das war sozusagen der Beginn für mein Schreiben eines Tagebuchs, das ich seither beibehalten habe. Nach einer Stunde Gebet und Schweigemeditation am Morgen vertraue ich meine unterschiedlichsten Regungen, Emotionen und Bilder, die ich in der Stille wahrgenommen habe, meinem Tagebuch an. Damit gebe ich diesen Glaubenserfahrungen wieder mehr Gewicht und ordne sie. So kann ich mein Leben im Alltag immer wieder neu ausrichten auf meine Werte hin. Ein typischer Tagebucheintrag klingt bei mir dann beispielsweise so:
"Ich bin erschrocken, heute Morgen so viel Dunkel in mir zu finden. So viele destruktive Gedanken, die mich runterziehen und den Fluss der Liebe und des Lichtes in mir blockieren wollen. Da ist der Groll darüber, dass die Kommunikation mit einem Menschen meiner Umgebung gerade nicht richtig läuft und da ist die Unzufriedenheit über eine gewisse Anfrage, die ich lieber abgelehnt hätte, aber um des lieben Friedens willen gestern dann doch zugesagt habe. Wenn ich ehrlich bin, sind das im Grunde doch kleine und unwichtige Themen, die sich aber im Augenblick groß in mir aufblasen und leider kenne ich keinen Schalter, um sie in meinem Kopf abzuschalten."
Ich gebe gerne zu: diese Art der Selbstreflexion macht mein Leben nicht unbedingt leichter. Ganz im Gegenteil, es fordert mich heraus, mich meinem Leben zu stellen. So kommt es nicht selten vor, dass in mir Fragen aufkommen, die mich ans Grübeln bringen: Darf ich die nett gemeinte Einladung von Familie Weber ablehnen? Sie haben es doch so gut gemeint.
An sich und seinem Verhalten zu zweifeln, heißt auch, sich immer wieder zu hinterfragen. Das ist nicht unbedingt angenehm und trotzdem ist solch eine Reflexion wichtig. Die alten Weisheitslehrer haben recht, wenn sie behaupten: Was im Leben nicht angeschaut wird, kann auch nicht heilen.
Beim Schreiben meines Tagebuchs gebe ich allerdings darauf Acht, nicht in eine Negativspirale zu geraten. Angesichts der vielen Negativ-Schlagzeilen aus aller Welt und den alltäglichen Sorgen melden sich auch in meinem Leben die Anlässe zum Danken meistens leiser zu Wort als die Momente der Klage. Um das zu verhindern, schreibe ich mir nicht nur das von der Seele, was mich quält oder traurig macht. Auch die vielen kleinen Dinge, die mich im Alltag froh stimmen und für die ich Gott in meinem Leben dankbar bin, verschriftliche ich.
Von der Theologin Dorothee Sölle habe ich gelernt, jeden Tag drei Dinge zu finden, für die ich Gott danken kann. An manchen Tagen fällt mir das ganz leicht, an anderen Tagen ist es eher mühsam, überhaupt einen Grund zu finden. Um die Haltung der Dankbarkeit in meinem Leben noch besser einzuüben, halte ich sie im Tagebuch fest. Seitdem ich das tue, bin ich feinfühliger geworden für das viele Schöne und Gute, das um mich und auch durch mich geschieht. Ich kann viel bewusster die kleinen Momente der Freude wertschätzen.
Tagebuchschreiben kann eine heilende Wirkung für unser Leben haben. Man sollte einfach das aufschreiben, was man in diesem Augenblick loswerden will. Dabei muss man zwar nicht auf Grammatik und Rechtschreibung Acht geben. In gewisser Hinsicht braucht das Führen eines Tagebuchs aber einen äußeren Rahmen. Dafür an dieser Stelle noch zwei kleine Tipps von meiner Seite: Als erstes scheint mir wichtig, ein Buch oder ein Heft zu wählen, das dem eigenen Geschmack entspricht. Soll es ein einfaches Notizbuch sein, dessen Umschlag man selbst gestalten kann? Oder kann es gleich ein fest eingebundenes und optisch ansprechendes Buch sein?
Das Tagebuch ist ja etwas Eigenes, etwas, das zu seinem Besitzer oder seiner Besitzerin passen sollte. Immerhin vertraut man ihm sein Innerstes an. Als zweites scheint mir wichtig zu sein, dass man sich einen festen Ort und eine feste Zeit zum Tagebuchschreiben sucht, damit der heilende Wachstumsprozess zu seiner vollen Entfaltung gelangen kann. Darauf verweist auch der Schriftsteller Ulrich Schaffer:
"Ich glaube, dass es sinnvoll ist, eine Zeitlang jeden Tag, oder fast jeden Tag zu schreiben. Es kann sein, dass sich gerade bei dieser Disziplin Bereiche in uns öffnen, die sonst verschlossen blieben. Es ist wichtig, dass wir nicht nur über große Ereignisse und tiefe Einsichten schreiben, sondern gerade auch über Alltägliches und Unscheinbares. Da leben wir ja, und da müssen wir uns selbst verstehen." [6]
Mag sein, dass das Tagebuch schreiben für manch einen Zeitgenossen "altbacken" und überholt wirkt. Ich glaube das nicht. Meine persönliche Erfahrung zeigt mir, dass mein Leben mit all seinen Gedanken und Emotionen eindeutig mehr Ordnung und Struktur bekommen hat, seitdem ich ein Tagebuch schreibe. Es hilft mir, mich persönlich weiterzuentwickeln und auch spirituell zu reifen. Durch das Schreiben habe ich eine kreative Möglichkeit entdeckt, meinen Gedanken Ausdruck zu verleihen, Belastendes loswerden und sowohl achtsamer, als auch dankbarer für das zu werden, was mein Leben lebenswert macht.
Die redaktionelle Verantwortung der Sendung hat Martin Korden.
Musik:
Joe Hisaishi – New Road (Soundtrack "Departures")
Joe Hisaishi – Departures -memory- (Soundtrack "Departures")
Joe Hisaishi – Model (Soundtrack "Departures")
Joe Hisaishi – Departures -memory- (Soundtrack "Departures")
[1] https://www.inhaltsangabe.de/anne-frank-tagebuch/zitate-und-textstellen/ – abgerufen am 4.1.2025.
[2] https://unipub.uni-graz.at/obvugrhs/download/pdf/7801353 – abgerufen am 4.1.2025.
[3] Ulrich Schaffer: "Wenn die Seele spricht. Im Tagebuch sich selbst begegnen." Herder Spektrum; Freiburg i.Br. 2000; S. 15; 11 Zeilen.
[4] Ulrich Schaffer: "Wenn die Seele spricht. Im Tagebuch sich selbst begegnen." Herder Spektrum; Freiburg i.Br. 2000; S. 13; 15 Zeilen.
[5] Ulrich Schaffer: "Wenn die Seele spricht. Im Tagebuch sich selbst begegnen." Herder Spektrum; Freiburg i.Br. 2000; S. 28; 7 Zeilen.