Letztens hörte ich von sehr gefragten Tatort-Gottesdiensten. Dabei treffen sich die Leute so zum Gebet, dass sie rechtzeitig zum Krimi wieder zu Hause sind. Aber das ist bloß äußerlich, denn Krimi und Gottesdienst haben mehr miteinander zu tun, als man denkt. Doch wie? Zunächst der Krimi: Er löst Kribbeln aus bei all den Geschichten um Betrug, Mord und Totschlag. Und dann vor allem die große Befriedigung, wenn der Bösewicht endlich gefasst und der Kriminalfall gelöst ist. Endlich wieder Gerechtigkeit und Bestrafung, endlich Wiedergutmachung und Frieden.
Schon vor bald 3000 Jahren meinte der Philosoph Aristoteles, Tragödien hätten eine kathartische, eine reinigende Wirkung. Da wird auf der Bühne des Theaters etwas durchgemacht, was in Wahrheit auf der Bühne des Lebens geschieht. Drama heißt vom Altgriechischen her Handlung, Zusammenspiel, Interaktion. Doch worin besteht der Zusammenhang zwischen Krimi und Gottesdienst? Welche Dramatik macht sie vergleichbar?
In jeder katholischen Messe heißt es: "Wir verkünden deinen Tod" und "wir hoffen, dass du kommst, zum Heil der Welt". Der, von dessen Leben und Sterben da Rettung erwartet wird, ist Jesus von Nazareth. Heute beginnt das Drama der Karwoche, in der Christen an das Leiden und Sterben Jesu erinnern und seine Auferweckung feiern. Sie gehen seinen Weg mit, die dramatischen Konflikte, die letzten Stationen bis hin zum Kreuz und dann doch der erlösende Triumph. In Jesu Lebensweg erkennen sie das Drama von uns Menschen überhaupt, und so oft die Frage: Warum das Kreuz, warum so viel Schwierigkeiten, warum so viel Gewalt, und wie das bewältigen?
Heute ist Palmsonntag, ein Tatort-Gottesdienst der besonderen Art. Christen erinnern sich an den Einzug Jesu in Jerusalem, von dem die Bibel erzählt. Seit frühester Zeit nehmen sie – wie damals in Jerusalem – grüne Zweige in die Hand und ziehen in einer Prozession in die Kirche ein. Man möchte mit Jesus mitgehen, als wär‘s ein Stück von mir, eine Demonstration, ein Zeugnis. Christen folgen in diesen Tagen der Erzählung der Evangelien, sie machen die Geschichte Jesu mit, nein, sie lassen sich mitnehmen. Da kommt dieser gotteswilde, menschenfreundliche Mann aus Galiläa in die Heilige Stadt; wie ein König zieht er ein, freilich auf einem Esel, nicht hoch zu Ross. Seine wenigen Anhänger jubeln ihm zu, wie es sich für einen König gehört, aber von ganz Jerusalem ist niemand dabei. Schon das lässt den Konflikt erahnen, das Drama beginnt und spitzt sich tödlich zu. Ihm nachzufolgen auf diesem Weg ist riskant, nicht ohne Gefahr wie das echte Leben und Glauben.
Das Drama einer vergebenden Liebe
Der Evangelist Markus entfaltet dieses Jesus-Drama im Siebentage-Schema. Am fünften Tag nach dem Einzug in Jerusalem kommt es zur Verhaftung Jesu, alles läuft auf die Hinrichtung einen Tag später zu. Welch ein dramatischer Wendepunkt aber zuvor schon: Jesus mit seiner Gottesleidenschaft war offenkundig verhaltensauffällig im Tempel aufgetreten. Der war nicht nur das Allerheiligste, er war auch mit seinem Gelddepot so etwas wie die Bundesbank und das Zentrum der Notkoalition mit den römischen Besatzern. Das alles habe keine Zukunft, sagte Jesus da, diese ganze unheilige Koalition von Religion und Politik, von Gebet und Geschäft werde wie ein Kartenhaus zusammenfallen; es brauche etwas ganz Neues, etwas, was wirklich dem Willen Gottes entspricht und den kleinen Leuten aufhilft, und dieses Neue komme mit ihm und seiner geistlichen Bewegung.
Klar, dass dieser radikale Angriff auf den Status Quo schärfste Ablehnung auslöst. Nun endgültig will man diesen unbequemen Jesus beseitigen. Das uralte traurige Spiel von Kain und Abel beginnt neu: Neid und Überlebensangst, Lügen und Intrigen, Brudermord und Totschlag. Und Jesus selbst geht sehenden Auges hinein in dieses Geflecht von Gewalt und Lüge, er geht hinein und hindurch, ein König der besonderen Art, unbestechlich und irgendwie verrückt, aber mit souveräner Konsequenz und sich seiner Sache gewiss. Er ist der Bevollmächtigte Gottes, er geht den Weg des Friedens und der Versöhnung – und er bahnt ihn. Genau so handelt Gott, es ist das Drama seiner gewaltfreien, vergebenden Liebe. Ein Durchbruch.
Folgen wir der Inszenierung am Gründonnerstag, Grün kommt von Greinen, das heißt Weinen und Heulen. Es ist der Tag des letzten Abendmahls. Erstaunlich schon, wie Jesus seine Leute zum Abschiedsessen versammelt. Offenkundig sieht er glasklar voraus, was seine Gegner mit ihm machen werden. Aber vorerst nichts von Todesangst, kein Gedanke an Flucht. Für ihn ist alles von der Gewissheit bestimmt, auf dem richtigen Weg zu sein und ganz in der Hand Gottes. Dieser Abschied ist in Wahrheit kein Ende, nur eine Unterbrechung, ein Hinübergang, denn Gott ist Leben und schafft Leben, sogar aus dem Tod. Deshalb diese Selbstverschwendung Jesu bis zuletzt, der bei diesem Abschiedsessen sagt: "Das ist mein Leib für euch", so verausgabe ich mich und so vergesst mich nicht.
Es folgt die Verhaftung in der Nacht zum Karfreitag, dann die Verhöre. Man will Jesus brechen. Ich muss an Nawalny denken und all die Gulags und Quälkammern dieser Erde. Selbst da wird uns Jesus ungebrochen vor Augen gestellt, als der wahrhaft königliche Mensch. Am Karfreitag verspotten ihn die Soldaten als König aus Galiläa, sie setzen ihm die Dornenkrone auf, im Purpurmantel machen sie ihn lächerlich. Was für ein König! So geht es bis zum Kreuz, dieser damals schrecklichsten Tötungsart. Und hier endgültig entscheidet sich‘s: für die einen der Verlierer nur, das armselige Opfer willkürlicher Gewalt – für andere "wahrhaft Gottes Sohn", der Bevollmächtigte göttlicher Liebe, Inbild und Vorbild des wahren Friedens. Ja, Christen sehen gerade in ihm, dem Gekreuzigten, den erschütterndsten Ausdruck göttlicher Treue, die bis zum Äußersten geht: Er schlägt nicht zurück, sondern lässt sich schlagen; er dreht nicht weiter an der Spirale der Gewalt, er betet für seine Feinde. Er ringt mit Gott gegen Gott, um der Mitmenschen willen, wirklich theodramatisch.
Gewaltanschauung im Kreuz
Dieses Drama um Gewalt und Versöhnung wird in der Karfreitagsliturgie inszeniert. Zur neunten Stunde kommt man da zusammen, 15 Uhr ist nach den Evangelien die Todesstunde Jesu. Absolute Stille, höchste Betroffenheit. Erst wird die ganze Passionsgeschichte gelesen, um der Dramaturgie willen in verschiedenen Rollen. Und dann der unglaubliche Ritus! Das Kreuz wird hereingetragen unter den Worten: "Sehet das Holz des Kreuzes, an dem der Herr gehangen." Genau das tun die Glaubenden dann auch, der Reihe nach treten sie vor und schauen auf den Gekreuzigten. Sie schauen nicht länger weg, sie schauen hin, manche küssen das Kreuz, sie sehen dem Opfer mitmenschlicher Gewalt ins Gesicht – und sie lassen sich ansehen von Ihm: "Herr, wenn wir fallen, sieh uns an, / und heile uns durch deinen Blick", dichtete Ambrosius.
Kreuzverehrung heißt Gewaltanschauung. Es sind die Glaubenden im Gottesdienst selbst, die sich endlich mit ihrer eigenen Gewalt konfrontieren lassen; sie outen sich als Mittäter und stellen sich den Fragen Gottes. Nicht mehr wegschauen, sondern in den Spiegel schauen, in das Angesicht dieses Gekreuzigten: heilende Erkenntnis, wie sehr unsereiner noch von Kain und Abel abstammt, und klares Bekenntnis: "Ich habe Gutes unterlassen und Böses getan." Ja, der Karfreitagsgottesdienst lädt zur Konversion ein: Wir dürfen uns endlich so erkennen und bekennen, wie wir sind; wir müssen uns nicht länger besser oder schlechter machen. Wir dürfen uns outen, ohne vor Scham im Boden verschwinden zu müssen. Wir sehen uns angeschaut von der göttlich vergebenden Liebe. Und nicht zuletzt: Wir können nun auch anderen vergeben und das Geheimnis der Feindesliebe entziffern. Vom Kreuz kam die österliche Freude in die Welt, heißt es deshalb in dieser Liturgie.
Aber warum in Gottes Namen das Kreuz und überhaupt all die Leidens- und Gewaltgeschichten seit Kain und Abel? Hätte Gott uns nicht anders auf die Sprünge helfen können? Gewiss, gewiss, im Prinzip unbedingt: Denn nur wirkliche Liebe erlöst. Aber jenseits von Eden ist es faktisch ohne Leiden nicht möglich, zu kainitisch verseucht sind Mensch und Geschichte. Und wer wollte einen Gott, der wie ein Zauberer alles schnell glattbügelt und uns entmündigt? Erwachsen werden, heißt, sich der ganzen Realität zu stellen und darin dem Geheimnis zu begegnen, das wir Gott nennen. In Jesu Passion wird endgültig deutlich: Nicht jenseits unserer Gewalt- und Leidensgeschichten geschieht Heil, sondern nur in ihnen, mitten durch sie hindurch.
"Durch Leiden und Kreuz zur Herrlichkeit", nicht daran vorbei. Nicht weil Leiden schön ist oder gar ein Wert an sich wäre, nein, der Gott Abrahams und Jesu ist kein Komplize des Leidens und der Gewalt, ganz im Gegenteil. Aber die Verhältnisse seit Kain und Abel, sie sind nicht so. Deshalb das Drama der Karwoche, deshalb die Passion Jesu, dieses Anti-Kain, deshalb die Leidens- und Märtyrergeschichten seit 2000 Jahren, nein von Abel an.
Auf Sieg gesetzt
Was heute am Palmsonntag beginnt, läuft in unserer Vorstellung längst auf das glückliche Ende zu, auf das Fest der Auferstehung. Wer Jesu Weg mitgeht, wird auch dorthin kommen, wo er schon gesiegt hat. Seine Durchschmerzung der Gewalt und seine Auferweckung aus den Toten öffnen den Raum, schon jetzt Ostern zu feiern. Die Karwoche der Trauer wird zur Osterwoche der Freude. "Viele versuchten umsonst, das Freudige freudig zu sagen. / Hier spricht es endlich mir, hier in der Trauer sich aus." Was Hölderlin schon über die altgriechischen Tragödien sagte, das gilt umso mehr für die Passionsgeschichte Jesu. Es ist ja die Geschichte seiner Gottesleidenschaft, hinreißend und siegreich – für ihn und viele schon definitiv realisiert, für unsereinen und unsere Welt noch auf Hoffnung hin, mit ungeheurem Anschub und kräftigem Anstoß.
Wer sich heute in einer Woche in der Osternacht zum Gottesdienst versammelt, setzt mit Gründen auf Sieg, allem Anschein zum Trotz. Mitten im Dunkel unserer Nacht schon brennen die Osterfeuer und beschleunigen das Morgenlicht. "O wahrhaft selige Nacht" wird beim Anzünden der Osterkerze gesungen. Der Durchbruch ist definitiv geschafft: Glaubhaft ist nur Liebe, Friede ist möglich, Gott ist in der Welt, auch im eigenen Denken und Sehnen, vor allem in der Nachfolge Jesu. Christen sind Protestleute gegen den Tod und das Töten.
Warum das Kreuz? Weil nur diese Dramatik der Liebe die Mauern des Hassens und Verschwörens bricht. Weil es diese göttliche Geduld und Gottestreue namens Jesus braucht, um das Böse durch das Gute zu überwinden. Billiger geht es leider nicht, großartiger aber ist nie vom Menschen gedacht worden. Er darf Partner und Partnerin Gottes sein, Sohn wie Tochter. Dieser Gott will Mitliebende – und mindestens einen hat er schon gefunden, diesen Jesus von Nazareth, den "Anführer des Glaubens". Ja, ein Krimi, auf Tod und Leben.
Die redaktionelle Verantwortung für die Sendung hat Martin Korden.
Musik:
Arvo Pärt – Da Pacem Domine
Arvo Pärt – Lamentate
Arvo Pärt – Beatus Petronius
Arvo Pärt – Beatus Petronius
Arvo Pärt – Lamentate