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"Theonomer Humanismus"Ideen wider die Gottes-Unfähigkeit unserer Zeit

Am Sonntagmorgen, 25.02.2024

Gunnar Lammert-Türk, Berlin

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"Ich bleibe bei meiner alten These: der gegenwärtige Mensch ist weithin nicht nur gottlos, rein tatsächlich oder auch entscheidungsmäßig, es geht die Gottlosigkeit viel tiefer. Der gegenwärtige Mensch ist in eine Verfassung des Lebens geraten, in der er Gottes unfähig ist." [1]

Diese Diagnose formulierte der Jesuitenpater Alfred Delp in seiner Schrift "Die Erziehung des Menschen zu Gott", verfasst Mitte Dezember 1944 im Gefängnis Berlin-Tegel. Er war dort wegen seiner Mitarbeit im "Kreisauer Kreis" inhaftiert. Die Mitglieder dieser Widerstandsgruppe hatten Konzepte für die Neugestaltung Deutschlands nach einem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft entworfen. Delps Urteil über die religiös-psychologische Verfassung der Menschen seiner Zeit war eine längere Beschäftigung mit dem Wesen des Menschen vorausgegangen. Eine seiner dabei gemachten Erkenntnisse drückte er in einer in der Haft geschriebenen Adventspredigt so aus:

"Es gehört zum Wesen des Menschen, über sich hinaus zu müssen, sonst wird er ein geistiger Bour-geois, dickblütig und stickig und schwerfällig und behäbig. Wer nur Mensch und sonst nichts sein möchte und nicht mehr von sich weiß als die menschlichen Alltäglichkeiten und alltäglichen Menschlichkeiten, der vegetiert bald nur noch als Untermensch." [2]

Delp meinte eine Verschlossenheit in mehrfacher Hinsicht: Zum einen die Begrenzung auf den eigenen Lebenskreis mit seinem eingeschränkten Horizont: eine soziale Abkapselung und Wirklichkeitsverengung. Zugleich aber auch die kleinmütige Begrenzung einer Sicht auf das Leben, die nicht über Sicherheit und Selbsterhalt hinauszuschauen vermag. Und schließlich eine Abgeschlossenheit der Welt und des Menschen, die keinerlei Bezugnahme außerhalb des unmittelbar Faktischen und Selbsterlebten kennt.

All das macht, sagt Delp, den Menschen unfrei, schränkt seine Möglichkeiten ein, aber auch seine Fähigkeit zur Hingabe, zum Mitgefühl, zum Einsatz für andere. Es lässt ihn sein Wesen verfehlen. Diese menschliche Verstümmelung sah Delp in der NS-Zeit besonders ausgeprägt. Andreas Batlogg, Jesuit wie Delp und beeindruckt von dessen Gedanken, meint deshalb:

"Als Delp diese Texte in der Haftzeit geschrieben hat, waren ja seit ´33, also praktisch fast zehn Jahre, NS-Propaganda herum. Wenn ein Staat die totale Kontrolle hat über Informationen, dann glauben die Leute das irgendwann mal. Und ich glaube, Alfred Delp macht darauf aufmerksam, was hat Nationalsozialismus in uns gemacht in den letzten Jahren."

Die Gottes-Unfähigkeit zeigte sich für Delp sehr deutlich während der NS-Herrschaft. Ihre Symptome und ihre Folgen sind aber auch in der heutigen Zeit anzutreffen. Delps Analyse und seine Vorschläge zur Überwindung dieser Verfassung haben daher hohe Aktualität. Delp wusste, dass verschiedene Stationen im Lauf der Geschichte zu ihr geführt hatten. Den Anfang dieser Entwicklung sah er im ausgehenden Mittelalter. Sie führte nach seiner Analyse zu einer Verabsolutierung der Natur im Sinne einer rein triebhaften Lebenskraft, in der es nur um die Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung der Menschen geht und um die Steigerung ihrer Vitalität.

"Die geistigen Räume-Kultur, geistiges Leben, Geschichte- werden den Zwecken der zu steigernden Natürlichkeit und Selbstentfaltung untertan gemacht. Das Leben wird zur geschlossenen Kugel, die nur mehr den Blick nach innen erlaubt. Das Leben ist rein Dienst, Funktion, und jede Transzendenz, das heißt jeder Blick auf Höheres, über die umschließende Kugelfläche hinaus, stört den totalen Einsatz." [3]

Diese Reduzierung des Menschen ist nach Delp vor allem auch die Folge einer Zivilisation, die behauptet, durch Technik über Welt und Leben zu verfügen. Einer scheinbar universalen Herstell- und Machbarkeit fällt der Mensch zum Opfer. In einer Art permanentem Produktionsprozess und permanenter Weltverwertung beherrscht nicht er die Technik, sie beherrscht ihn. Sie beraubt ihn seiner Facetten. Der homo sapiens, der auch ein homo speculativus und religiosus ist, schrumpft, wie Delp unter Bezug auf den Philosophen Max Scheler feststellte, zum homo faber:

"Der homo faber ist gekommen, die Fabriken wurden die neuen Dome, die Maschinen die neuen magischen Zeichen und der Mensch bald nur noch das am leichtesten austauschbare Stück in dieser Maschinen- und Nützlichkeitswelt. Und in diese Ordnung und diesen Zwang sind jetzt alle hineingerissen." [4]

In dieser Werkzeuglichkeit des Lebens wird der Mensch ausgelaugt. Was ihm Quelle der Inspiration, Erweiterung des Horizonts und Ausblick hinaus über die Welt ringsum war – Kunst, Kultur, Erleben der Natur – es degradiert zur bloßen Regenerierung für den fortgesetzten Einsatz im Getriebe. Und die durchrationalisierte Welt ist, wie der Soziologe Max Weber festgestellt hat, eine "entzauberte Welt", bar aller Geheimnisse. Über den darin lebenden Menschen konstatierte Delp:

"An seinen Horizonten gingen keine ewigen Sterne mehr auf, und in sein Dasein fiel kein jenseitiges Licht mehr. Das immanente Welterlebnis verengt sich zum Erlebnis des Ungenügens und der Ungeborgenheit. Und so verfällt der Mensch einer Weltangst, die ihn innerlich aushöhlt und zu jeder echten Tröstung unfähig macht. Er versucht, seine innere Leere durch Pathos, durch die stolze Gebärde zu überwinden. Er versucht, die innere Angst durch die Flucht in die Herde, in das Kollektiv zu bändigen. Das Ergebnis ist der daseinsmüde Mensch, der jeder Gewalt sich ergibt und jedem stolzen Wort verfällt." [5]

Der Mensch der zweckrationalisierten Welt ist in seinem Wesenskern verletzt. Sozial, kulturell, geistig und religiös unbehaust und entwurzelt, wird er zum Massenmenschen, zur Nummer, zum Rohstoff fremder Entscheidungen und Ordnungen, lenk- und manipulierbar. Seine geistigen und religiösen Organe sind ihm abhandengekommen oder zumindest so stark verkümmert, dass sie ihre Funktionen nicht mehr ausüben.

In der Folge befand Delp, verkümmerten auch gewisse Haltungen und Qualitäten des Menschen, so seine Fähigkeit zu Anbetung, Liebe und Ehrfurcht. Andere grundlegende Fähigkeiten benannte er in seiner Betrachtung "Gestalten der Weihnacht", die er Ende 1944 in seiner Haft schrieb. Über die Hirten, die in der Weihnachtserzählung als erstes dem neugeborenen Jesuskind die Ehre erweisen, sagt Delp:

"Es mußten Menschen sein noch des Wunders fähig. Das war ihr Geheimnis: die schlichte Gesundheit des Herzens, die wache Lebendigkeit der Seele, die hurtige Bereitschaft auf den Anruf hin. Tiefer noch: Ihr Leben strömte innerlich noch Wunsch und Erwartung und Sehnsucht und Flehruf und vernommene Verheißung. Dieser Typ existiert nicht mehr: die echte Sehnsucht über sich selbst hinaus. Die innere Verwandtschaft mit den Sehnsüchten der Menschheit und der Verheißungen Gottes. Der Mensch der wachen Gläubigkeit lebt nicht mehr." [6]

Über die sternkundigen Weisen schrieb Delp in seiner Weihnachtsbetrachtung:

"Es sind dies die Menschen mit den unendlichen Augen. Sie haben Hunger und Durst nach dem Endgültigen. Suchende, fahrende Menschen sind sie geworden, weil sie dem inneren Ruf und dem äußeren Zeichen mehr glaubten als der sicheren und behaglichen Seßhaftigkeit. Das ist ihr Geheimnis: dringender Ernst des Fragens, zähe Unerschütterlichkeit des Suchens, königliche Größe der Hingabe und Anbetung." [7]

Alfred Delp beließ es nicht beim Befund der Gottesunfähigkeit des modernen Menschen. Er machte sich Gedanken darüber, wie er wieder Gottes fähig werden könne. Dafür mussten seiner Analyse nach zunächst elementare menschliche Haltungen und Verhaltensweisen wieder gewonnen werden. In seiner Schrift "Die Erziehung des Menschen zu Gott" bemerkte er:

"Es muß ein eigenes, intensives Bemühen aufgewendet werden, den Menschen wieder seelisch und geistig bodenständig zu machen. Dazu gehören: Erziehung zur Selbständigkeit, Verantwortung, Urteilsfähigkeit, Gewissensfähigkeit; Erziehung zur Gesellung und echter Geselligkeit; Überwindung all der unzähligen Vermassungserscheinungen; Erziehung zur Transzendenz genauso wie zur Immanenz; Bildung zur Sache, zum Menschen, zu Gott hin. Dies alles hängt nämlich ineinander, und das eine geht ohne das andere nicht." [8]

Die Wiedergewinnung der Ansprechbarkeit des Menschen durch Gott und für Gott war für Delp eng verbunden mit der Wiederherstellung des Menschen selbst: seiner geistigen Wachheit, seiner Lebendigkeit, seiner Verantwortungsfähigkeit und Lebenskundigkeit. Das eine war für ihn ohne das andere nicht zu haben. Zugleich hielt er eine Reform der gesellschaftlichen Verhältnisse für erforderlich, denn der Mensch wird nicht nur aufgrund seiner geistigen Verfassung Gottes unfähig, sondern auch durch unmenschliche, menschenunwürdige Lebensumstände.

So ging es Delp um eine umfassende Erneuerung und Heilung des Menschen. In diesem Sinne plädierte er für einen Humanismus. Aber nicht nach eigenem Gesetz – autonom –, sondern nach der Ordnung und dem Bild, das ihm von Gott gegeben und aufgegeben ist. Delp sprach deshalb von einem "Theonomen Humanismus", und betonte:

"Der Mensch ist über sich hinaus, weil er an eine überragende und umfassende Ordnung gebunden ist. Und dieses Über-sich-Hinaus, diese Transzendenz ist für ihn ein natürlicher Sachverhalt seines Lebens. Das heißt aber nichts anderes denn dieses, daß der Mensch aus dem Ernstnehmen seiner Wirklichkeit, aus seinem Selbstverständnis heraus schließlich vor - Gott steht. Daß die Offenheit und Transzendenz seiner Wirklichkeit ihm Gott als natürliche Tatsache seines Lebens enthüllen." [9]

Dazu können auch die Stationen im Kirchenjahr ihren Beitrag leisten. Delp schätzte sie. Insbesondere die Fastenzeit war ihm in diesem Zusammenhang wichtig. Sie darf als Gelegenheit genutzt werden, die Gottesfähigkeit zu erneuern und den Boden für eine erneute Begegnung mit Gott zu bereiten. Damit der Mensch zu sich selbst kommt. Denn, wie Delp immer wieder hervorhob: Weil der Mensch auf Gott bezogen ist, ist er erst wirklich und wahrhaftig Mensch in Beziehung zu Gott. Er muss deshalb die Begegnung mit Gott anstreben.

In Erwartung derselben lebe der Mensch in einer Art dauerndem Advent, wartend auf die Erfüllung. Darüber meditierte und schrieb Delp im Gefängnis, mit gefesselten Händen, als Todeskandidat. Am 2. Februar 1945 wurde er hingerichtet. Noch in Freiheit, hatte er in einer Predigt zum ersten Adventssonntag 1943 über den adventlichen Menschen gesagt:

"Du mußt dich ausstrecken, aber du wirst nicht wesentlich über dich hinauskommen, wenn nicht das Andere dir entgegenkommt. Der Mensch ist nur dann wirklich Mensch, wenn er über sich hinaus-kommt. Wir müssen, weil wir unterwegs sind, alle Seligkeit und Unseligkeit des Wartens aushalten. Der Charakter des Lebens ist das Weitergehen und Ausschauen und Aushalten, bis das wache Menschenherz und das uns begegnende Gottesherz zusammenkommen, in der echten inneren Begegnung und in der echten Heimkehr." [10]

Die redaktionelle Verantwortung für die Sendung hat Martin Korden.

Musik:

Frederic Chopin – Nocturne en Fa Dièse Mineur, Op. 48 No. 2


[1] Aus Alfred Delps "Die Erziehung des Menschen zu Gott" (Dezember 1944).

[2] Aus Alfred Delps: Predigt zum dritten Advent 1944 (im Gefängnis)

[3] Aus Alfred Delps: Vertrauen zur Kirche (22.10.1941)

[4] Aus Alfred Delps: Veni sancte spiritus (Im Gefängnis, 1944 vermutlich)

[5] Aus Alfred Delps: Vertrauen zur Kirche (22.10.1941)  

[6] Aus Alfred Delps: Gestalten der Weihnacht (Im Gefängnis, 1944)

[7] Aus Alfred Delps: Gestalten der Weihnacht (Im Gefängnis, 1944)

[8] Aus Alfred Delps "Die Erziehung des Menschen zu Gott" (Dezember 1944)

[9] Aus Alfred Delps: Der Mensch vor sich selbst (vermutlich 1943)

[10] Aus Alfred Delps: Erster Sonntag im Advent (28.11.1943)

Über den Autor Gunnar Lammert-Türk

Gunnar Lammert-Türk (Jahrgang 1959) ist freischaffender Journalist und Autor.

Er wurde in Leipzig geboren und studierte Germanistik und Evangelische Theologie in Berlin. Nach dem Studium organisierte er Projekte einer Arbeitsfördergesellschaft, die aussortierte Technik für Hilfsprojekte in Osteuropa und der Dritten Welt regenerierte.

Es folgte die Leitung einer Beratungsstelle für Russlanddeutsche. Darauf war er Autor und Redakteur in der Medienfirma Greenlight. Seit 2003 ist er als freier Journalist und Autor tätig.

Von 2004 bis 2007 führte er mit einem Musiker und einem Zauberer Musiktheatershows für Kinder auf. Er verfasst Rundfunkbeiträge, schreibt Texte für Audioführer und Kinderlieder. Veröffentlichungen im Boje Verlag, Schneider Verlag, Xenos Verlag und im Deutschen Theater Verlag.

Kontakt: g.lammert.tuerk@gmail.com