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"Entwicklung ist Frieden, Unterentwicklung Krieg." Zum 25. Todestag von Dom Hélder Câmar

Am Sonntagmorgen, 25.08.2024

Ina Rottscheidt, Köln

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Millionen Kleinbauern in Brasilien besitzen nichts, um ihr eigenes Überleben zu sichern, während eine kleine Zahl Großgrundbesitzer 80 Prozent allen Landes hält: Seit Jahrzehnten ist Besitz in Brasilien extrem ungleich verteilt. Dom Hélder Câmara war einer der ersten Kirchenmänner, die dies öffentlich anprangerten:

"Wie oft feiere ich den Gottesdienst in den Armenvierteln und die Menschen singen: 'Der Herr ist mein Hirte, mir wird es an nichts fehlen.' Aber eigentlich fehlt es an allem! Wir müssen eine Kirche werden, die nicht nur von der Liebe spricht, sondern sie auch in Taten lebt!"

Ein Mann, klein von Gestalt, beinahe zerbrechlich wirkend, aber vor den Gläubigen wuchs er über sich hinaus: Leidenschaftlich forderte er in seinen Predigten Gerechtigkeit für die Armen:

"Es ist doch nicht möglich, dass unser Volk immer mehr Opfer bringt. Schaut euch doch die Zahlen an: Wie viele Menschen sterben jedes Jahr an Hunger? Und wer nicht an Hunger stirbt ist von den Folgen der Mangelernährung ein Leben lang gezeichnet!"

Hélder Câmara hatte diese Bedingungen selbst erlebt: Am 7. Februar 1909 wurde er in Fortaleza, im armen Nordosten Brasiliens, geboren, als elftes von 13 Kindern.  Fünf seiner Geschwister starben bereits im Kindesalter. Seine Mutter war Volksschullehrerin und eine fromme Katholikin. Câmara selbst wollte schon als Kind Priester werden. 1931 empfing er im Alter von 22 Jahren die Priester-Weihe. Schnell kletterte er danach die kirchliche Karriereleiter hoch, 1952 wurde er zum Weihbischof von Rio de Janeiro geweiht.

Der Wendepunkt in seinem Leben war ein Gottesdienst, den er dort feierte: Ein französischer Kardinal fragte ihn damals, warum er denn eigentlich die Messe mit dem Rücken zu den Elendsvierteln las. An diese Szene erinnert sich der Theologe Paolo Suess, der aus Deutschland stammt und seit den 1960er Jahren in Brasilien lebt:

"Das muss offensichtlich ein Saal gewesen sein, von dem aus man zum Meer hinausschauen konnte. Und dann meinte der Kardinal, er müsse doch mal eine andere Position einnehmen, dass er zur Favela hinschaut. Und er hat das immer wieder erzählt, der Hélder Câmara, das war für ihn der Moment, wo er wirklich seinen Blick verändert hat."

Câmara erkannte, wie er sagte, in den Armen das Antlitz Jesu und sah es als seine Aufgabe an, die soziale Ungerechtigkeit zu bekämpfen, die er als "kollektive Sünde" bezeichnete.

In Rios Elendsvierteln initiierte er soziale Projekte zum Bau von Wohnblocks, Schulen und Kindergärten. Mit dem Aufbau der so genannten "Basisgemeinden" schuf er eine neue Form von Kirche: Die vor Ort bei den Menschen ist und ihnen die Möglichkeit gibt, eigenständiger eine kirchliche Gemeinschaft mit Leben zu füllen, orientiert an den jeweiligen Lebensumständen und Bedürfnissen. Die kirchlichen Basisgemeinden hatten darum häufig eine stark politische und soziale Ausrichtung.

Bewusst wählte Câmara ein Leben an der Seite der Bevölkerung und verzichtete er auf die Privilegien, die ihm als Bischof zugestanden hätten. Paolo Suess erinnert sich:

"Und vor allem hat er ganz bescheiden gelebt in einem Anbau an der Kirche. In einer Sakristei sozusagen. Er hat immer diese Nähe zu den kleinen Leuten gehabt. Die hatten Zugang, die konnten dahin kommen, da gab es keine Bediensteten. Keine Sprechstunde."

Auch der deutsche Priester Pirmin Spiegel hat Dom Hélder in den 1990er Jahren persönlich kennengelernt. Spiegel arbeitete damals im Nordosten Brasiliens.

"Er redete immer mit seinem ganzen Körper: Mit Händen, mit Augen, er hatte eine sehr starke Gestik, er war ein starker Mann des Wortes. Und was mich ab dem ersten Moment überzeugt hat bei ihm war die Einheit zwischen dem, was er sagt und dem, was er lebte in der Praxis, die ich kannte, von seiner Erzdiözese in Recife."

Als 1962 in Rom das Zweite Vatikanische Konzil begann, war auch Dom Hélder dabei. Über 3000 Bischöfe und Laien kamen damals auf Einladung von Papst Johannes XXIII. zusammen, um über die Erneuerung der Kirche zu beraten. Doch weil das Konzil und seine Ideen vor allem europäisch geprägt waren, trafen sich vor dem Ende im Jahr 1965 in den römischen Domitilla-Katakomben 40 Bischöfe und unterzeichneten den so genannten "Katakombenpakt", erzählt Pirmin Spiegel:

"Dom Hélder, wie die anderen auch, die diesen Katakombenpakt unterschrieben haben, haben zugesagt: 'Wir wollen ein einfaches Leben leben wie die Menschen. Wir wollen keine Privilegien, wir wollen keine eigenen Häuser besitzen, wir wollen kein eigenes Kapital besitzen. Wir wollen eine arme Kirche an der Seite der Armen sein.' Und das Spannende ist, dass Papst Franziskus genau diese Terminologie übernommen hat, das sind die Wurzeln seiner Einfachheit."

Damals war das überhaupt keine Selbstverständlichkeit. Die Idee von einer Kirche für die Armen klang für viele nach Sozialismus. In Zeiten des Kalten Krieges ein heikles Thema. Während der Katakombenpakt in Europa wenig verfing, hatte er in Lateinamerika eine enorme Strahlkraft: Er war die Initialzündung für eine Entwicklung, aus der später die Befreiungstheologie hervorgehen sollte.

1968 – drei Jahre nach dem Konzil – trafen sich in der kolumbianischen Stadt Medellín alle Bischöfe Lateinamerikas. Auch das war relativ neu. 1955 hatten sie sich das erste Mal zu einer Generalversammlung in Rio de Janeiro zusammengefunden und den Lateinamerikanischen Bischofsrat CELAM gegründet. Das geschah vor allem auf Betreiben von Bischof Câmara.

In Medellín beschließen die Bischöfe schließlich die "Option für die Armen": Das Prinzip, dass Kirche an der Seite der Armen stehen und die Stimme derer sein müsse, die nicht gehört werden. Nicht aus ideologischen Gründen, sondern aus Nächstenliebe. Die Inspiration dazu waren nicht Marx und der Kommunismus – wie damals häufig kolportiert wurde – sondern das Handeln Jesu.

Die Option für die Armen in Lateinamerikas Kirche gilt bis heute, sagt Pirmin Spiegel, der lange Jahre Geschäftsführer des katholischen Entwicklungswerkes Misereor war:

"Und heute wird ziemlich deutlich, dass die Ideen des Vaticanums von 1962 – 1965 in Rom mitgenommen wurden nach Medellín. Der Kontext in Lateinamerika war damals in vielen Ländern der einer Militärdiktatur, Ausgrenzung, Folter. Und in dieser Konferenz in Medellín wurde sehr deutlich, dass Kirche eine der wichtigsten Oppositionen gegen die Militärdiktatur in Lateinamerika ist."

"Entwicklung ist Frieden, Unterentwicklung ist Krieg". Das war eine der Kern-Botschaften Dom Hélders. Doch wer nach Gründen für Armut und Unterentwicklung fragt, kommt nicht umhin, politisch zu werden:

"Gott hat eine Realität geschaffen, aber er ist nicht für die Ungerechtigkeiten verantwortlich, das sind wir und deshalb wollen wir das Bewusstsein der Menschen schärfen. Es geht nicht darum, Hass oder Gewalt zu predigen, wenn wir Ungerechtigkeiten anprangern: Dass nämlich ein Teil der Menschheit in Reichtum lebt, während ein anderer Teil unter unmenschlichen Bedingungen überleben muss, in Elend und Hunger."

Offen kritisierte Hélder Câmara die Dominanz des reichen globalen Nordens, die Ausbeutung durch Konzerne und Banken, die ungleichen Handelsbeziehungen im internationalen System. Bei den Eliten des Landes machte sich der Bischof damit Feinde.

Am 12. März 1964 ernannte Papst Paul VI. Dom Hélder zum Erzbischof von Olinda und Recife. Nur wenige Tage später – am 31. März – putschte das brasilianische Militär mit Unterstützung des US-Geheimdienstes CIA gegen die Regierung und riss die Macht an sich.

Dem vorausgegangen waren wirtschaftliche und politische Krisen in Brasilien: Häufig wechselnde Regierungen, die mit Reformen und Gegenreformen die soziale Lage im Land immer weiter verschärften. Sie trieben Brasilien in eine desaströse Staatsverschuldung und waren verantwortlich für eine angespannte Lage im ganzen Land. Die Militärs – so hofften damals viele zunächst – würden wieder Stabilität bringen, erzählt Pirmin Spiegel:

"Dom Hélder Câmara, wie übrigens der größte Teil der Bischofskonferenz, haben den Putsch begrüßt und erst langsam, als immer deutlicher wurde, dass Menschen gefoltert werden, dass Menschen entrechtet werden, dass Menschen die Würde geraubt wird, dass Menschenrechtsverletzungen waren, war Dom Hélder innerhalb des brasilianischen Episkopats einer der ersten, der eine Kehrwende gemacht hat und zu einem starken Ankläger der Militärs wurde."

Der Wendepunkt ist der Mord an einem seiner engsten Mitarbeiter, dem Studentenpriester Pereira Neto im Jahr 1969. Ein Jahr später prangerte Helder Camara in einer international viel beachteten Rede in Paris die massiven Menschenrechtsverletzungen in seiner Heimat öffentlich an: Brasiliens Militärdiktatur sollte sich über 20 Jahre halten. Staatlicher Mord, Todesschwadronen, Folter und das Verschwindenlassen von Oppositionellen waren an der Tagesordnung. Kritiker lebten gefährlich – auch Dom Hélder Câmara. Schnell hatte er den Stempel des "Roten Bischofs". In einem Fernsehinterview sagte er damals:

"Wenn ein Laie, eine Nonne oder ein Priester den Ärmsten hilft, dann nennen sie uns Heilige. Aber wenn wir die Kühnheit besitzen, über Ungerechtigkeit zu sprechen, dann nennen sie uns sofort Kommunisten. Das ist lächerlich, aber man nennt mich den 'Roten Bischof'."

Trotz der Todesdrohungen gab er sich gelassen. Im deutschen Fernsehen sagte er damals mit durchaus humorigem Unterton, während er auf seine schüttere Frisur deutete:

"Von diesen Haaren, die mir noch verblieben sind, weiß ich: Keines fiel auf die Erde ohne den Willen des Vaters. Ich bin in der Hand Gottes. Ich habe keine Furcht vor dem Tod, wir alle sind zum Tod verurteilt. Nicht einer wird ihm entrinnen."

Viele Priester, Laien und Ordensleute auf dem Kontinent bezahlen – bis heute – ihren Einsatz für die Ärmsten mit dem Leben. Dom Hélder Câmara prägte die Haltung der Kirche nachhaltig und wurde so zu einem der geistigen Väter der Befreiungstheologie.

Als er 1985 in den Ruhestand ging, folgte ihm ein Bischof, der die Uhren zurückdrehte: Er beendete Câmaras soziale Initiativen und bekämpfte den Einfluss der Befreiungstheologie. Dom Hélder Câmara starb am 27. August 1999 in Recife im Alter von 90 Jahren. In ganz Brasilien löste sein Tod Trauer aus. Mit Tränen und Beifall nahmen Tausende von Gläubigen Abschied von "ihrem" Bischof.

Für Gläubige ist Dom Hélder bis heute eine Inspiration, weit über die Grenzen Brasiliens hinaus. Auch für den Franziskaner Leonardo Boff, der als einer der bekanntesten Vertreter der Befreiungstheologie gilt:

"Dom Hélder ist eine wegweisende Figur. Wie ein Samen, aus dem immer neues Leben, Früchte und Sehnsüchte erwachsen. Das macht seine Größe im übertragenen Sinne aus. Die institutionelle Kirche, der Vatikan, wusste lange nicht, wie sie mit ihm umgehen sollte und das hat ihn geschmerzt. Er verschloss die Augen nicht vor dem Leid und der Ungerechtigkeit in der Welt. In meinen Augen war er ein Prophet, ein Mann des Wortes und der Tat."

Die Verdienste Dom Hélders erkennt auch der Vatikan schlussendlich an: 2015 wurde der Seligsprechungsprozess für ihn offiziell eröffnet. Dass dies unter Papst Franziskus geschieht, für den die "arme Kirche" das zentrale Leitbild ist, ist sicher kein Zufall. In Dom Hélders Heimat begeht man seinen Todestag jedes Jahr mit einem großen Gottesdienst. Heute ist Dom Paulo Jackson Erzbischof von Olinda und Recife:

"Dom Hélder hatte den Traum von Freiheit, Gerechtigkeit, der Überwindung der sozialen Ungleichheit und einer neuen Welt. Wir werden weiter daran arbeiten: Jesus ist der Grund. Das Evangelium. Deswegen träumen wir weiter den Traum von Dom Hélder."

Die redaktionelle Verantwortung für die Sendung hat Martin Korden.

Musik:

Gilberto Gil – Lamento Sertanejo

Nils Frahm – Because this must be

Antônio Cardoso – Dom da Paz

Über die Autorin Ina Rottscheid

Ina Rottscheidt ist Redakteurin bei DOMRADIO.DE. Sie studierte Politikwissenschaften, Volkswirtschaftslehre, Geschichte und Romanistik in Köln und Madrid. Ihre Journalistenausbildung absolvierte sie beim ifp in München. Sie arbeitete für diverse Sender, u.a. für die Deutsche Welle, WDR 5 und den Deutschlandfunk. Ihr Schwerpunkt sind die Themen Zeitgeschehen/Gesellschaft, Lateinamerika und Weltkirche. 

Kontakt: ina.rottscheidt@domradio.de