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Die "politische Herrschaft des Herzens." Das Vermächtnis von Papst Franziskus

Am Sonntagmorgen, 27.04.2025

Benjamin Leven, Würzburg

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Die Worte seiner Osterbotschaft konnte Papst Franziskus nicht mehr selbst sprechen, als er am Ostersonntag auf dem Balkon des Petersdoms erschien und den Segen urbi et orbi – der Stadt und dem Erdkreis – spendete. Sie wurden von einem Mitarbeiter verlesen.

"Die Liebe hat den Hass besiegt. Das Licht hat die Finsternis besiegt. (…) Wie viel Verachtung wird den Schwächsten, den Ausgestoßenen, den Migranten bisweilen entgegengebracht! An diesem Tag würde ich mir wünschen, dass wir wieder zur Hoffnung und zum Vertrauen in unsere Mitmenschen zurückfinden – auch denen gegenüber, die uns nicht nahestehen oder mit fremden Sitten, Lebensweisen, Vorstellungen und Gebräuchen aus fernen Ländern kommen – denn wir alle sind Kinder Gottes!“ (aus der Osterbotschaft 2025)

Nur einen Tag nach dieser Botschaft ist der Papst gestorben. Und er hat bis zuletzt seine Pflichten als Kirchenoberhaupt erfüllt. Am Nachmittag des Ostersonntags hatte er noch JD Vance empfangen. Der US-amerikanische Vizepräsident war damit wohl der letzte offizielle Besucher des Papstes.

Die Begegnung zwischen Vance und Franziskus dauerte nur wenige Minuten. Auch wenn nicht bekannt ist, worüber die beiden gesprochen haben, war das eine besondere Begegnung. Sie führt auf die Spur des politischen, theologischen und spirituellen Vermächtnisses von Jorge Mario Bergoglio. Denn es ist zu vermuten, dass der sterbende Papst dem katholischen Politiker noch einmal mit schwacher Stimme ins Gewissen geredet hat. Die beiden hatten nämlich zwei Monate zuvor, kurz vor dem langen Krankenhausaufenthalt von Franziskus, noch einen theologischen Schlagabtausch.

Vance hatte sich in der amerikanischen Migrationsdebatte auf einen theologischen Fachbegriff bezogen, der auf den Kirchenvater Augustinus zurückgeht und von dem vermutlich auch viele Katholiken noch nichts gehört haben: "Ordo Amoris" – "Ordnung der Liebe". In einem Interview erklärte Vizepräsident Vance den Ausdruck so:

"Du liebst deine Familie, dann liebst du deinen Nachbarn, dann liebst du deine Gemeinschaft, dann liebst du deine Mitbürger in deinem eigenen Land. Und danach kannst du dich auf den Rest der Welt konzentrieren und Prioritäten setzen."

Vance sieht darin die theologische Begründung für die neue Härte in der US-Einwanderungspolitik. Kurz darauf schrieb Papst Franziskus damals einen Brief an die amerikanischen Bischöfe, in dem er diese Politik sehr deutlich kritisierte. Darin fanden sich Sätze, die nur als Antwort auf Vance verstanden werden konnten.

"Christliche Liebe ist keine konzentrische Ausdehnung von Interessen, die sich nach und nach auf andere Personen und Gruppen erstrecken. (…) Der wahre 'ordo amoris', den es zu fördern gilt, ist der, den wir durch die ständige Betrachtung des Gleichnisses vom 'barmherzigen Samariter' entdecken, das heißt durch die Betrachtung der Liebe, die eine Geschwisterlichkeit aufbaut, die für ausnahmslos alle offen ist."

Der Barmherzige Samariter - dem Evangelisten Lukas zufolge hat Jesus diese Geschichte erzählt, als er gefragt wurde, wie das Gebot: "Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst" zu verstehen ist. Wer genau ist denn mein Nächster, will jemand von ihm wissen. Jesus antwortet:

"Ein Mann ging von Jerusalem nach Jericho hinab und wurde von Räubern überfallen. Sie plünderten ihn aus und schlugen ihn nieder; dann gingen sie weg und ließen ihn halbtot liegen. Zufällig kam ein Priester denselben Weg herab; er sah ihn und ging vorüber. Ebenso kam auch ein Levit zu der Stelle; er sah ihn und ging vorüber. Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam zu ihm, sah ihn und hatte Mitleid, ging zu ihm hin, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie. Dann hob er ihn auf sein eigenes Reittier, brachte ihn zu einer Herberge und sorgte für ihn."

Die Angehörigen der eigenen Gemeinschaft, die Mitbürger, lassen den Verletzten am Wegesrand in dieser Geschichte liegen. Erst ein Ausländer aus Samarien kümmert sich um ihn. Papst Franziskus setzte der Auffassung des zum Katholizismus konvertierten US-Vizepräsidenten den "barmherzigen Samariter" entgegen – und sagte damit: Wer so denkt – zuerst die eigenen Leute, dann vielleicht noch die Fremden – der kann sich nicht auf das Evangelium berufen.

Es gibt Theologen, die hier durchaus kritische Einwände formulieren. Etwa der deutsche Theologieprofessor Ludger Schwienhorst-Schönberger. Er sagt: Man kann nie allen Gutes tun. Die eigenen Ressourcen sind immer begrenzt, deswegen muss man Prioritäten setzen. So kann und soll ein Gemeinwesen auch abwägen, wie viele Zuwanderer und Flüchtlinge es aufnehmen will. Und dabei dürfen auch Gesichtspunkte der kulturellen Identität eine Rolle spielen. Schwienhorst-Schönberger meint: Recht und Ordnung sind nicht das Gegenteil von Liebe. Recht und Ordnung können dafür sorgen, dass die Liebe fruchtbar werden kann und nicht das Chaos ausbricht.

Doch Recht und Ordnung waren nicht die Kategorien, denen Papst Franziskus die oberste Priorität einräumte. Vor allem dürfe der Mensch dabei nicht seine Fähigkeit zu Mitgefühl und Mitleid verlieren. Kurz gesagt: die Barmherzigkeit. Auf sie verwies Papst Franziskus immer wieder während seines 12-jährigen Pontifikats.

Barmherzigkeit – das war für Jorge Mario Bergoglio die angemessene Antwort des Menschen auf die Liebe und die Barmherzigkeit Gottes. Um diesen Gedanken kreist auch seine letzte Enzyklika. "Dilexit nos" – zu deutsch: "Er hat uns geliebt". Man könnte es als das Vermächtnis dieses Papstes bezeichnen. Darin empfiehlt Franziskus den Katholiken eine traditionelle Frömmigkeitsform, die manche für sentimental, rückwärtsgewandt oder gar reaktionär halten: die Herz-Jesu-Verehrung.

Viele kennen die Bilder und Statuen, die Jesus Christus mit einem brennenden Herzen außen auf seiner Brust zeigen. Diese Darstellungen gelten in manchen Kreisen als Inbegriff von religiösem Kitsch. Der Papst sah darin aber ein Symbol für das, was ihm so wichtig war und was ihm in der Welt von heute fehlte: die Empathie. Der Glaube daran, dass Gott in Jesus seine Liebe zu den Menschen offenbart habe, mache empathisch. Denn wer sich als von Gott geliebt erfährt, der hat auch ein Herz für den von Gott genauso geliebten Mitmenschen – sieht ihn so als Schwester oder Bruder.

In seiner Herz-Jesu-Enzyklika beschrieb er die Welt von heute, der es an Liebe mangelt, mit drastischen Worten:

"Vor dem Herzen Christi bitte ich den Herrn, noch einmal Erbarmen zu haben mit dieser verwundeten Erde, die er als einer von uns bewohnen wollte. Möge er die Schätze (…) seiner Liebe ausschütten, damit unsere Welt, inmitten von Kriegen, sozioökonomischen Ungleichgewichten [und] Konsumismus (…), das Wichtigste und Nötigste wiederfindet: das Herz. (…) Wir werden getrieben, nur anzuhäufen, zu konsumieren und uns abzulenken, gefangen in einem entwürdigenden System, das uns nicht erlaubt, über unsere unmittelbaren und armseligen Bedürfnisse hinauszusehen. Die Liebe Christi steht außerhalb dieses abartigen Räderwerks, und er allein kann uns von diesem Fieber befreien, in dem es keinen Platz mehr gibt für eine bedingungslose Liebe."

Eine so gefühlsbetonte und affektgeladene Frömmigkeit mit Politik zusammenzubringen – das mag manchem wie eine verrückte Idee des verstorbenen Papstes vorgekommen sein. Doch damit lag Franziskus ganz in der Tradition der Herz-Jesu-Verehrung.

Als prägende Gestalt dieser Frömmigkeitsform gilt eine französische Nonne aus dem 17. Jahrhundert: Marguerite-Marie Alacoque. Die Mystikerin wird in der katholischen Kirche als Heilige verehrt. Seit dem Jahr 1673 erlebte sie immer wieder Visionen, in denen ihr Jesus Christus gesagt habe, wie sehr er die Menschen liebe und wie traurig es ihn mache, von ihnen "Kälte und Abweisung" zu erfahren. Zudem soll Jesus der Nonne seinen Wunsch mitgeteilt habe, dass der König von Frankreich das ganze Land seinem Herzen weihen möge. Zwar erreicht die Bitte den König nicht, der Herz-Jesu-Kult kommt trotzdem in Gang – und wird politisch, auch über Frankreich hinaus.

Als sich im Jahr 1793, während der Französischen Revolution, die königstreue Landbevölkerung gegen die Truppen der Ersten Französischen Republik erhebt, tragen die Kämpfer ein Herz-Jesu-Abzeichen an ihrer Kleidung. Und als 1796 die Truppen Napoleons Tirol erobern wollen, weiht auch der Tiroler Landtag das Land dem Herzen Jesu und gelobt ein jährliches Herz-Jesu-Fest. Den Tirolern gelingt es überraschend, die Franzosen zurückzuschlagen.

In der Herz-Jesu-Verehrung werden uralte biblische Vorstellungen auf die Gegenwart bezogen: Hier das Volk, das sich von Gott abwendet, dort der Aufruf zu Umkehr, Buße und Wiedergutmachung. Mit seiner Enzyklika hat Franziskus an diese Tradition angeknüpft: Gott hat sich in Jesus Christus aus Liebe zu den Menschen, aus Liebe zur Welt, selbst hingegeben. Die Menschen sollen darauf antworten, sollen Liebe mit Liebe erwidern – mit Liebe zu Gott, aber auch mit Liebe zu den Mitmenschen. Franziskus schreibt:

"Wir müssen zum Wort Gottes zurückkehren, um einzusehen, dass die beste Antwort auf die Liebe seines Herzens die Liebe zu unseren Brüdern und Schwestern ist; es gibt keine größere Geste, die wir ihm anbieten können, um seine Liebe mit Liebe zu erwidern. Das Wort Gottes sagt dies mit absoluter Klarheit: 'Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan."

Lässt sich damit Politik machen? Müssen Politiker nicht immer wieder Prioritäten und Abgrenzungen vornehmen, sind sie nicht zunächst dem Wohl des eigenen Landes verpflichtet?

Franziskus sah es wohl als seine Aufgabe an, einen bewussten Gegenaspekt in Erinnerung rufen, weil er einen wachsenden Egoismus in den Gesellschaften ausmachte. Gerade deshalb wurde Papst Franziskus nicht müde, immer wieder aufzurufen zu Nächstenliebe, Großherzigkeit, Barmherzigkeit. Und, ja, Liebe war für Franziskus auch eine politische Kategorie. In der Enzyklika "Dilexit nos" schrieb er:

"Wir müssen alle Handlungen unter die 'politische Herrschaft' des Herzens stellen; Aggressivität und zwanghafte Begierden müssen gemildert werden durch das höhere Gut, das das Herz ihnen bietet, und durch die Kraft, die es gegen das Böse besitzt."

Und in der Vorgängerenzyklika "Fratelli tutti" von 2020 sprach Franziskus sogar von der "politischen Liebe". Er hielt sie nicht für ein Fantasiegebilde:

"Es ist keine pure Utopie, jeden Menschen als Bruder oder Schwester anerkennen zu wollen und eine soziale Freundschaft zu suchen, die alle integriert. Denn ein Einzelner kann einer bedürftigen Person helfen, aber wenn er sich mit anderen verbindet, um gesellschaftliche Prozesse zur Geschwisterlichkeit und Gerechtigkeit für alle ins Leben zu rufen, tritt er in 'das Feld der umfassenderen Nächstenliebe, der politischen Nächstenliebe' ein. Es geht darum, zu einer gesellschaftlichen und politischen Ordnung zu gelangen, deren Seele die gesellschaftliche Nächstenliebe ist."

In der Herz-Jesu-Verehrung, wie Papst Franziskus sie verstand, erhält der Aufruf zur "gesellschaftlichen Nächstenliebe" sein spirituelles Fundament: fremdartig, anspruchsvoll, herausfordernd. In Jesus hat Gott seine Liebe zu den Menschen gezeigt. Darum gilt auch für den Menschen: Den Vorrang muss immer die Liebe haben. Das ist Franziskus‘ Vermächtnis.


Die redaktionelle Verantwortung für die Sendung hat Martin Korden.

Musik:

Joe Hisaishi – Departures -on record-

Joe Hisaishi – New Road

Daniel Hope – Sonata For Violin and Continuo III (Westhoff)

Daniel Hope – Prelude and Fugue in E Minor (Bach)

Joe Hisaishi – Kizuna I

Über den Autor Benjamin Leven

Benjamin Leven, geboren 1981 in Bonn, ist Redaktionsleiter Online der Internationalen Katholischen Zeitschrift COMMUNIO. Er studierte katholische Theologie sowie Publizistik- und Kommunikationswissenschaft in Berlin, Rom und Utrecht. 2014 promovierte er in Würzburg. Von 2013 bis 2015 war er Chefredakteur der Zeitschrift Gottesdienst in Trier, von Oktober 2015 bis Juni 2023 Redakteur der Herder Korrespondenz in Berlin und Rom.

Kontakt: benjamin.johannes.leven@univie.ac.at