"Einst kommt der Herr zurück, wie er´s versprach … Sieh zu, dass du nicht schläfst in dieser Nacht!"
"In meiner Sehnsucht ruf ich dir zu: Mein Gott, wird´s heut´ sein, erscheinest du? Einst kommt der Herr zurück ..."
Den Menschen, die ihn in mehr als zweitausend Konzerten hörten, brachte er Freude, Inspiration, vielleicht auch den Mut, wieder an einen Sinn im Leben zu glauben: Aimé Duval, der als singender Jesuitenpater bekannt wurde. Als junger Priester begann er, Chansons zu schreiben und diese zunächst in Kneipen und Cafés vorzutragen. Schon bald gab er Konzerte. Später tourte er durch ganz Europa. Sein Gott war ein Menschenbruder: "Seigneur, mon Ami", "Herr, du mein Freund" hieß sein bekanntestes Lied. Er selbst aber glitt immer tiefer in die Einsamkeit und Verzweiflung hinein und fand nicht mehr heraus. So schrieb er in seiner Biografie "Warum war die Nacht so lang? Wie ich vom Alkohol loskam":
"'Schreckliche und zugleich geliebte Einsamkeit.' – 'Die Menschen in den Straßen kommen einem wie Schatten vor. Ja, ich bin wie ein krankes Tier, das sich in seinem Wald aus Schatten eingegraben hat.'"
Dabei war er als Kind so glücklich gewesen. 1918 in einem kleinen Dorf in den Vogesen geboren, wächst Lucien Duval bei einfühlsamen Eltern und fröhlichen Geschwistern auf.
" ...in der Gewissheit, dass Gott gut ist, dass er die Kinder liebt, dass Jesus sein fassbares Antlitz ist."
"Aimé" rufen ihn seine Eltern, das heißt "der Geliebte". So ein Vertrauen will er auch den anderen vermitteln, denen, die wenig Hoffnung haben und sich selbst nicht lieben können. Priester will er werden, Jesuit. Im Ordenskolleg leidet er jedoch unter sturen Vorschriften, Entscheidungen, Verboten, die einfach da sind, nicht begründet werden:
"Mein Novizenmeister hatte die moralische Autorität von Gott, derer er sich bemächtigt hatte. Ich hatte nur die von Jesus Christus, die ich als eine lächelnde und befreiende empfand."
Lucien, pardon, Aimé rebelliert nicht. Er beißt die Zähne zusammen. Und geht, während er noch studiert, zu den Traurigen und Kaputtgemachten, die im Leben zu kurz gekommen sind und keine Chance sehen. In Cafés und Kneipen erzählt er seinen zufälligen Gesprächspartnern von einem tröstenden Gott. 1949 wird er zum Priester geweiht. Bald darauf beginnt er, Chansons zu schreiben und zu singen. Mit seiner unverwechselbaren, etwas heiseren, eindringlichen Stimme. Von der Straße mit dem langen Zaun, die Gott in der Gestalt eines blassen, müden Arbeiters entlangwandert, unerkannt, ein mitleidender Gott unter Menschen. Von den "Kindern der Nacht", den von Angst Gequälten, die nicht schlafen können und auf etwas warten, was sie nicht benennen können. Vom staunenden Glück bei der Wiederkunft des Herrn:
"Wir werden alles für ihn sein, wenn er kommt. Dann wird er alle Tränen unseres Lebens trocknen – wenn er kommt."
Zwei Millionen Kilometer legt er auf seinen Konzertreisen durch mehr als vierzig Länder zurück. Fast jede Nacht ist er unterwegs in seinem Renault auf endlosen Autobahnen, jede Nacht schläft er woanders. Freunde hat er kaum, die Mitbrüder sind weit weg, seine Lebensweise verstehen sie ohnehin nicht, die meisten wenigstens. Die Menschen, die ihm zuhören, lieben ihn, o ja, aber sie erdrücken ihn bisweilen auch, wenn sie ihm in Gesprächen und Briefen ihre Sorgen anvertrauen, ihre Ängste und Niederlagen, ihre unglücklichen Partnerschaften, ihre demütigende Armut, Jahr um Jahr. Père Aimé zerbricht fast unter dieser Last:
"'Für mein eigenes Elend, meine Einsamkeit hatte ich Jesus und mit ihm kam ich gut über die Runden, ach macht euch um mich keine Sorgen. Aber ich konnte mich einfach nicht mit dem Elend der anderen abfinden, mit ihrer Krankheit, ihrer Erniedrigung, ihrer Armut!' – 'Ich habe das freudlose Leben der Armen, Depressiven, der Gefangenen in den Zuchthäusern, der Witwen und Waisen, Geschiedenen, Alten und Geisteskranken, der ausgestiegenen Priester bis an die Grenze meiner Kräfte mitgetragen.'"
Eine Katastrophe kündigt sich an. Eines Tages kommt Aimé wieder einmal kaum zum Essen und zum Schlafen. Plattenaufnahmen, Journalisten, am Abend ein Konzert. Er ist völlig mit den Nerven am Ende.
"Was solls, wenn ich verrecke, das Konzert wird durchgezogen."
Aimé putscht sich mit einer Flasche Rum auf, wie schon so oft. Nachts auf dem Weg zum nächsten Konzert in Hamburg bekommt er Blutungen: eine akute Entzündung der Bauchspeicheldrüse. Er landet in der Kölner Uni-Klinik, macht Höllenqualen durch, hat nächtelang Halluzinationen. "Von jetzt an keine Zigaretten mehr, keinen Alkohol", sagt ihm der Arzt, er überhört es, will es überhören.
"'Meine Seele verfinsterte sich allmählich, gnadenlos.' – 'Der Körper gewöhnt sich relativ schnell an den Alkohol, aber die Seele zögert vor dem Zusammensein mit ihm.' – 'Ich gestehe, dass ich nichts von dem begriff, was mir passierte.' – 'Vergeblich wartete ich auf einen Menschen, neutral, objektiv und kompetent, der mir laut ins Ohr schrie: Sie sind Alkoholiker, Sie sind krank!' – 'In dieser Zeit betete ich wie ein Verlorener. Auf ein Kreuz aus Kupfer, das mir die Jesuiten zum zwanzigsten Geburtstag geschenkt hatten, habe ich hundertmal, tausendmal meine Hand gelegt. Meine Hand auf ihn, einfach so, ohne besonderen Grund, spontan als ein Unglücklicher vor einem anderen Unglücklichen: Herr Jesus, wir sind schon lange Freunde. Ich habe die Jugend verloren, den inneren Mut, die Gesundheit, die Freunde. Ich habe fast alles verloren, nur dich nicht. Bitte, vergiss mich nicht.'"
Irgendwann im Februar 1969 ist Duval am Ende.
"Ich kann nicht mehr leben. Ich kann mich, so wie ich bin, nicht mehr ertragen, auch nicht die Welt, so wie sie ist. Diese geizige, harte, geldgierige Welt, die immer von Vernunft spricht und nie von Zärtlichkeit."
Er schluckt mindestens zwanzig Tabletten, ein Blutverdünnungsmittel für Herzkranke. Er hat keine Angst zu sterben, keine Angst vor dem Gericht Gottes.
"Im Gegenteil, ich war sehr aufgeregt bei dem Gedanken, der anderen Welt so nahe zu sein. Endlich würde man alles verstehen können, das Böse, die Dummheit der Menschen und vor allem den rätselhaften Starrsinn Gottes, sich zu verbergen."
Ausgerechnet in dieser Nacht kommt ein alter Freund zu Besuch, der holt sofort einen Krankenwagen, rettet ihm vermutlich das Leben. Später, in der psychiatrischen Klinik, endlich ein Arzt, der ihm lächelnd, aber bestimmt die Augen öffnet.
"Ich bin ein Alkoholkranker. Ich bin ein Kranker, kein Schuft, kein armer Kerl. Ein Kranker, versteht ihr. Ihr, die ihr mich von der Seite anseht, verurteilt, ganz ostentativ die Nase hochzieht, wenn ich euch grüße, die ihr mich verachtet, wenn ich etwas durcheinanderrede oder stolpere. Der Alkoholismus ist eine Krankheit, kein Makel. Er ist ein Leiden, kein Vergnügen. Er ist Sklaverei, kein Jux."
Aimé Duval hat endlich Klarheit. Er hört erschrocken auf zu trinken, in der sterilen Atmosphäre der Klinik fällt der Verzicht zunächst gar nicht so schwer. Dann, als die Konzerte wieder beginnen und die langen einsamen Nächte auf Tour, kommen die Rückfälle, die Todesgedanken, die seltsamen Halluzinationen. Er traut ein Brautpaar aus seiner entfernten Verwandtschaft, bei der Familienfeier bekommt er ein Glas Champagner angeboten.
"In meinem Kopf ein kurzes Ringen: ein Glas, nur ein Glas! Ich darf mich nicht absondern. Ich muss ihnen zeigen, dass ich genau wie sie das Leben liebe. Auf der Rückfahrt aßen wir in einem Dorf zu Mittag. Wie die anderen auch trank ich ein Glas Rotwein. Am nächsten Tag in Nancy ein Glas Rotwein. Am Abend ein Glas Rotwein. Ich weiß nur, dass ich eines Tages bei zwei Gläsern Rotwein mittags und vier Gläsern abends angelangt war. Und alles fing unerbittlich von vorne an: die Verzweiflung, die Selbstverachtung, die Scham, ich wurde in einem Räderwerk mitgerissen. – Ich ekelte mich vor mir selbst. Ich wusste, dass ich nicht mehr aufhören konnte. Die Freiheit, vom Alkohol loszukommen, war zerronnen. Das Ende konnte nur der Tod sein."
"Warum, warum, warum, o Herr? O Herr, der du die Welt geschaffen, warum schufst du die Nacht so lange für mich, so lange, so lange?"
Plötzlich, am tiefsten Punkt seines Lebens, in der innersten Kammer seiner ganz persönlichen Hölle, kommt Hilfe, wo sie Aimé Duval nie erwartet hätte: Er stößt auf eine Gruppe der Anonymen Alkoholiker, geht sofort auf Distanz.
Dann lernt er ein junges Mädchen kennen, Alkoholikerin. In ihr sieht er aus irgendeinem Grund eine Schwester, eine Kameradin. Er begleitet sie zur Gruppe, findet dort Geschwister, Freunde, die einfach da sind, keine Moralpredigten halten, nicht über Behörden und Ärzte und Kneipenwirte schimpfen, aber etwas fordern, von sich und den anderen.
"Der Damm aus Härte, Stolz und Scham und Einsamkeit brach zusammen."
Es ist der Weg zur Heilung; er führt über diese selbstverständliche Gemeinschaft mit den geschlagenen und tapferen Mitmenschen und über eine neue Einstellung zu sich selbst. Duval begreift, dass die Liebe zu Gott und zu den Menschen nicht genügt, dass sie krank machen kann, wenn nicht die Liebe zu sich selbst dazu kommt. Er beginnt in seiner jahrelangen Alkoholkrankheit einen Lernprozess zu sehen, so etwas wie einen Segen:
"Ich brauchte den Weg über den Alkohol, um mich selbst anzunehmen und auch die Mitbrüder mit ein bisschen Humor zu ertragen."
Er besucht seine Mutter, und diese weise Frau voller Liebe und Toleranz spricht nicht von seinem bedrohten guten Ruf oder davon, wovor er sich hüten muss. "Nun ja", sagt sie lächelnd, "wenn du dadurch jetzt anderen helfen kannst …?!" – Genau das gelingt ihm jetzt – mit mehr Gelassenheit und Realismus als zuvor. Auf der Autobahn diktiert er seinen Lebensbericht in ein kleines Aufnahmegerät; in der deutschen Übersetzung trägt er den Titel "Warum war die Nacht so lang? Wie ich vom Alkohol loskam". Mehr Ansporn als Beichte, ermutigend, zärtlich. Von Gott spricht er nun dezenter, behutsamer als früher:
"Gott ist nicht so, wie man glaubt. Gott ist nicht da, wo man ihn sucht. Gott sieht nicht so aus, wie man ihn sich vorstellt. Gott ist nicht in den Wolken. Maria Magdalena hielt ihn für einen Gärtner, die Jünger für einen Geist und Petrus für einen Fischerei-Experten. Und ich armer Tropf suchte ihn in Dogmen …, während er sich in Wirklichkeit ruhig und freundlich bei den Kranken aufhielt. Bei den Zusammenkünften der Anonymen Alkoholiker habe ich nie von Gott gesprochen. Es war nicht nötig, er war da. Jeder, der liebt, ist in Gott geboren und kennt Gott. – Sagt Ihnen das etwas? Ja, das ist Mystik. Und viele Alkoholiker verstehen sie, selbst wenn ihnen die Worte fehlen, um davon reden zu können."
"Herr, du mein Freund, du nimmst mich bei der Hand. Ich geh mit dir ohne Angst den Weg bis ans Ende. – Und dann bist du da: Ich schau dich unverhüllt. Ich seh dein Gesicht und den Tisch, gedeckt für uns beide."
Am 30. April 1984 starb Aimé Duval in Metz an Herzversagen. Er war 65 Jahre alt geworden.
Die redaktionelle Verantwortung für die Sendung hat Martin Korden.
Musik:
Aimé Duval - Le Seigneur reviendra
Aimé Duval – La nuit
Aimé Duval – Seigneur, mon ami