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Die Bergpredigt als soziale Macht. Was Mahatma Gandhi mit Jesus verbindet

Am Sonntagmorgen, 29.01.2023

Gunnar Lammert-Türk, Berlin

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Mahatma Ghandi ist wohl einer der bedeutendsten Menschen der Neuzeit. Mit seinem konsequenten gewaltlosen Widerstand veränderte der Inder der Welt. In seiner Philosophie sind auch starke Parallelen zur und Anlehnungen an die Elemente der Bergpredigt zu finden.

© Kaique Lopes / Pexels

„Europa hat den weisen, kühnen und tapferen Widerstand des Jesus von Nazareth als passiven Widerstand mißdeutet, wie wenn es sich um die Tat eines Schwächlings handelte. Als ich das Neue Testament zum erstenmal las, fand ich nichts von Passivität oder Schwäche an Jesus in den Schilderungen, die die Evangelien von ihm geben. [1]

Diese Zeilen schrieb Mahatma Gandhi in der indischen Zeitschrift „Harijan“ - wenige Wochen vor seinem gewaltsamen Tod vor genau 75 Jahren. Für den Meister des gewaltlosen Widerstandes gegen Diskriminierung und Unterdrückung war Jesus Christus eine Inspiration. Obgleich er sein Leben lang Hindu blieb, beeindruckte ihn die Bergpredigt im Neuen Testament. Unter anderem Sätze wie diese:

„Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Auge für Auge und Zahn für Zahn. Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin.
(Matthäus 5,38-39)

Jesus radikalisiert in diesem Kommentar zur Vergeltung erlittenen Unrechts die gewohnten Moralvorstellungen und fordert das scheinbar Unmögliche. Deshalb wurden gerade diese Worte immer wieder als Beleg der Wirklichkeitsfremde der Bergpredigt angesehen, nicht selten auch mit Spott überzogen. Gandhi aber sah in ihnen nicht nur eine Handlungsanleitung für gläubige Menschen, er ging noch weiter. Er bezog Jesu Liebesethik nicht nur auf die Beziehung zwischen Einzelpersonen, er machte sie zu einer gewaltigen sozialen Macht. Denn für ihn gehörten religiöse und soziale Praxis zwingend zueinander. So sagte er:

„Um den allgemeinen und alles durchdringenden Geist der Wahrheit von Angesicht zu Angesicht zu schauen, muß man fähig sein, das geringste Geschöpf zu lieben wie sich selbst. Und jemand, der danach strebt, kann es sich nicht leisten, sich aus allen Bereichen des weltlichen Lebens herauszuhalten. Deshalb hat meine Hingabe an die Wahrheit mich ins Feld der Politik getrieben. [2]

Das bedeutete für Gandhi, zu kämpfen für die Gleichberechtigung und soziale Besserstellung der Inder in Südafrika und für die Unabhängigkeit Indiens von der britischen Kolonialmacht. Aber auch für die Verbesserung der Lebensverhältnisse in den indischen Dörfern und für den friedlichen Umgang von Hindus und Muslimen in Indien. All dies gegründet auf Satyagraha: die Kraft der Wahrheit und der Liebe oder kurz: die Gewaltlosigkeit. So nannte er sein Kampfmittel, den gewaltlosen Widerstand, nach den Sanskritworten „Satya“ für Wahrheit und „Agraha“ für Stärke oder Beharrlichkeit.

Die große Seele – Gandhi

Gandhi kam am 2. Oktober 1869 als Mohandas Karamchand Gandhi zur Welt. Geboren in einer Hindu-Familie in der Küstenstadt Porbandar im Nordwesten Indiens. Erst später wurde er Mahatma genannt. Das bedeutet „große Seele“. Den Namen erhielt er aufgrund seines gewaltlosen Widerstands vom indischen Dichter Rabindranath Tagore. Gandhis Leben verlief zunächst wenig spektakulär. Nach dem Schulbesuch ging er achtzehnjährig zum Jurastudium nach London.

Damals war er religiös noch nicht klar orientiert. In Indien hatte ihn der Eifer christlicher Missionare abgeschreckt. In London hatte er zwar christliche Freunde und las, von ihnen angeregt, die Bibel. Doch sie machte keinen starken Eindruck auf ihn bis auf die Bergpredigt. Seine eigentliche Entdeckung in der Londoner Zeit aber war sein eigenes Erbe als Hindu: die Bhagavadgita, ein spirituelles Gedicht, in dem Krishna den kriegerischen Helden Arjuna über die Wege zum Erkennen des Göttlichen unterweist. Gandhi sah darin eine Allegorie auf das Ringen der Seele zwischen Gut und Böse. Sie wurde für ihn zum Leitfaden und zur dauerhaften geistlichen Nahrung. Er schrieb:

„Wenn Zweifel mich quälen, wenn die Enttäuschung mir ins Gesicht sieht und ich keinen Hoffnungsstrahl am Horizont entdecken kann, greife ich zur Bhagavadgita, und dort finde ich einen Vers, der mich tröstet, und ich beginne mitten im tiefsten Leid zu lächeln. [3]

Mit diesem Rüstzeug begann der junge Rechtsanwalt sein Berufsleben. In Indien erfolglos, ging er 1893 nach Südafrika. Und erfuhr hier die alltägliche Diskriminierung der indischen Einwanderer am eigenen Leibe. Auf die Beschwerde eines Weißen hin wurde Gandhi auf einer Zugfahrt des Abteils verwiesen und nach seiner Weigerung, dem zu folgen, aus dem Zug geworfen. Von nun kämpfte er für die Rechte der Inder in Südafrika, vertrat sie als Rechtsanwalt, stritt für sie als Journalist und führte sie in Aktionen des zivilen Ungehorsams und des gewaltlosen Widerstands gegen demütigende Lebensverhältnisse und Gesetze an.

Der Jesus der Bergpredigt stand ihm dabei vor Augen – aufgefrischt durch die Lektüre der religiös-sozialreformerischen Schriften Lew Tolstois. Gefängnishaft, Morddrohungen und Anschläge auf sein Leben konnten ihn daran nicht hindern. Eine seiner spektakulärsten Aktionen war ein 58 Kilometer langer Protestmarsch tausender Inder im Spätherbst 1913. In der südafrikanischen Zeitung „Sunday Post“ stand darüber zu lesen:

„Die Pilger, angeführt von Mr. Gandhi, bilden eine überaus pittoreske Schar. Sie sind mager, ihre Schenkel sind bloße Stöcke, aber die Art, wie sie mit Hungerrationen weitermarschieren, weist auf ihre Härte hin. Von den zweitausend gehen eintausendfünfhundert in einer ziemlich kompakten Masse zusammen. Mr. Gandhi erfreut sich absoluter Verehrung.[4]

Selbstdisziplin, Gemeinschaftssinn und Wahrheitssuche

In Südafrika war aus Gandhi der Politiker geworden, der Massen mobilisieren und anführen konnte. Dabei setzte er immer wieder auf Kooperation mit den Regierenden und bewies ihnen gegenüber Loyalität – so, als er 1899 im Burenkrieg und 1914 im Ersten Weltkrieg in Südafrika ein Sanitätscorps aufstellte. Aber sein anfänglicher Glaube an die Überlegenheit des britischen Systems trübte sich. Für Indien formulierte er deshalb 1909 seine Schrift „Hind Swaraj“, „Indische Selbstregierung“.

Im Januar 1915 kehrte er für immer in seine indische Heimat zurück. Er hatte mittlerweile einen eigenen Lebensstil entwickelt: Der mit 13 Jahren früh verheiratete Vater von vier Söhnen lebte seit 1906 sexuell enthaltsam. Er gründete Landkommunen und führte dort mit Gleichgesinnten ein auf Handwerk, Selbstversorgung und religiöse Andachten gegründetes Leben. Selbstdisziplin, Gemeinschaftssinn und Wahrheitssuche wurden so geschult und praktiziert – wichtige Übungen für Satyagraha, die aus Liebe und Wahrheit geborene Gewaltlosigkeit. Gandhi wählte dieses Kampfmittel nicht als naiver Phantast. Das zeigt unter anderem eine Bemerkung von ihm zu der Frage, wie Indien seine Unabhängigkeit erreichen könne:

„Wenn Indien seine Freiheit durch Gewalt erreichen muß, dann sollte es durch die disziplinierte Gewalt, genannt Krieg, geschehen.[5]

Aber für einen Krieg gegen die britische Kolonialmacht hatten die Inder nicht die Mittel. Das wusste Gandhi. Es blieb nur die Ermüdung des Systems durch gewaltlosen Widerstand, durch zivilen Ungehorsam oder Nicht-Zusammenarbeit, wie Gandhi es auch nannte: durch Streiks, den Boykott englischer Waren, durch Unterwanderung erniedrigender Erlasse und Maßnahmen.

Als Bußpilger schutzlos durch das Land

Die wohl spektakulärste Aktion war wie in Südafrika ein Marsch: der Salzmarsch gegen das Salzmonopol der Engländer und die auf den Indern lastende Salzsteuer. 24 Tage zog Gandhi im März und April 1930 mit Gleichgesinnten knapp 400 Kilometer zur Küste des Arabischen Meeres. Was dort geschah, beschreibt die Biographin Sigrid Grabner so:

„Nach Gebeten und einem Bad im Meer nahm Gandhi im Morgengrauen des 6. April von den natürlichen Salzablagerungen an der Küste eine Handvoll auf und zeigte sie der sechstausendköpfigen Menge. … Mit dieser schlichten Geste löste Gandhi eine Bewegung aus, die niemand, vielleicht nicht einmal er selbst, erwartet hatte. Die Bauern strömten in Massen zum Meer, um Salz zu gewinnen. Es war ihnen kostbarer als Gold, denn mit seiner Hilfe konnten sie das verhaßte Salzgesetz brechen.[6]

Im August 1947 proklamierte Indien seine Unabhängigkeit. Aber um einen harten Preis. Im Nordwesten hatten Muslime den Staat Pakistan gegründet und sich von Indien getrennt – es war die schmerzhafte Konsequenz immer wieder vorkommender blutiger Zusammenstöße zwischen Hindus und Muslimen.

Mehrfach hatte Gandhi öffentlich gefastet, um seinen Zielen – der Besserstellung der Inder in Südafrika und ihrer Selbständigkeit in Indien – Nachdruck zu verleihen. Das tat er auch, um die sich bekämpfenden Religionsgruppen zur Mäßigung zu zwingen. Das war 1946 besonders dringlich, als die Zusammenstöße zwischen Hindus und Moslems höchst brutal waren. Im selben Jahr zog er als eine Art Bußpilger schutzlos durch das Land, um die Spirale von Furcht und Gewalt zu durchbrechen.

„Sein Weg führte über schwankende Bambusbrücken und schmale Fußpfade. Schon am zweiten Tag bluteten die Füße des Mahatma, aber nichts konnte ihn dazu bewegen, Sandalen anzuziehen. Aufgehetzte Moslems bestreuten die Wege mit Dornen, verunreinigten sie mit Kuhdung und menschlichen Exkrementen. Gandhi säuberte die Pfade mit trockenen Blättern und wehrte jenen, die ihm die schmutzige und mühselige Arbeit abnehmen wollten.[7]

Gandhi und die Bergpredigt

Gandhi war vom Kämpfen müde. Und betrübt über die nicht enden wollende Gewalt in seinem Land. Wenn er in seinem schlichten Baumwollumhang und mit seinem Bambusstab mit den Menschen umherzog, hatte er wohl manches Mal an Jesus und seine Jünger erinnert. Dessen Bergpredigt war durch ihn zu ungeahnter Wirkung gelangt. Nun schien er an dem Versuch, Hindus und Muslime auszusöhnen, zu scheitern. Einem Freund schrieb er:

„Ich habe niemals zuvor in meinem Leben eine solche Dunkelheit gekannt. Die Nacht scheint ziemlich lang zu sein. Der einzige Trost ist, daß ich mich weder verwirrt noch enttäuscht fühle. Ich bin auf jede Eventualität vorbereitet. Meine Devise „Handeln oder Sterben“ muß sich bewähren. „Handeln“ heißt hier, daß Hindus und Moslems in Frieden und Freundschaft miteinander leben lernen. Wenn nicht, werde ich bei dem Versuch sterben. Es ist wirklich eine schwere Aufgabe.[8]

Gandhi ahnte, was ihn erwartete. Seit vielen Jahren war er Anfeindungen, Morddrohungen und Anschlägen ausgesetzt gewesen. Im Januar 1948 explodierte bei einer seiner öffentlichen Abendandachten eine Bombe, wobei niemand zu Schaden kam. Zehn Tage darauf, wieder während der Abendandacht, schoss ein 35-jähriger radikaler Hindu auf Gandhi. Er war sofort tot. Das geschah vor 75 Jahren – am 30. Januar 1948.

Mahatma Gandhi sah in der Bergpredigt das Entscheidende am Christentum. Ansonsten galten ihm die großen Religionen als gleichrangig. Die wichtigsten Größen für ihn waren Wahrheit, Gewissen und die aus Liebe geborene Tat. Überhaupt die Liebe. Darin kam er der Botschaft des Johannesevangeliums „Gott ist die Liebe“ sehr nah. Er drückte es so aus:

„Liebe ist tollkühn im Sichverschwenden. Liebe kämpft mit der Welt so gut wie mit dem Selbst und erlangt schließlich die Herrschaft über alle anderen Gefühle. Sie verschmilzt mit dem Gesetz der Wahrheit und der Nicht-Gewalt zum Gesetz des Lebens schlechthin. Es wird die Zeit kommen, da das Gesetz der Liebe genauso wirkt wie das Gesetz der Gravitation, wenn wir es bewußt, organisiert und tapfer anwenden.[9]

Die redaktionelle Verantwortung für die Sendung hat Martin Korden.

Musik:

Ravi Shankar – Vedic Chanting One

Ravi Shankar – Asato Maa

Ravi Shankar – Omkaaraaya Namaha

Ravi Shankar – Asato Maa

George Fenton – Desert Winds

George Fenton – The Locusts

George Fenton – Theme from „Gandhi“ (Soundtrack)


[1] Aus Sigrid Grabners „Vertraute Fremde“, S. 84.

[2] Aus Sigrid Grabners „Mahatma Gandhi“, S. 53.

[3] Aus Sigrid Grabners „Vertraute Fremde“, S. 77.

[4] Aus Sigrid Grabners „Mahatma Gandhi“, S. 133.

[5] Aus Sigrid Grabners „Mahatma Gandhi“, S. 163.

[6] Aus Sigrid Grabners „Mahatma Gandhi“, Ss. 197-200.

[7] Aus Sigrid Grabners „Mahatma Gandhi“, S. 304.

[8]Aus Sigrid Grabners „Mahatma Gandhi“, S. 301.

[9]Aus Sigrid Grabners „Mahatma Gandhi“, Ss. 337-338.

Über den Autor Gunnar Lammert-Türk

Gunnar Lammert-Türk (Jahrgang 1959) ist freischaffender Journalist und Autor.

Er wurde in Leipzig geboren und studierte Germanistik und Evangelische Theologie in Berlin. Nach dem Studium organisierte er Projekte einer Arbeitsfördergesellschaft, die aussortierte Technik für Hilfsprojekte in Osteuropa und der Dritten Welt regenerierte.

Es folgte die Leitung einer Beratungsstelle für Russlanddeutsche. Darauf war er Autor und Redakteur in der Medienfirma Greenlight. Seit 2003 ist er als freier Journalist und Autor tätig.

Von 2004 bis 2007 führte er mit einem Musiker und einem Zauberer Musiktheatershows für Kinder auf. Er verfasst Rundfunkbeiträge, schreibt Texte für Audioführer und Kinderlieder. Veröffentlichungen im Boje Verlag, Schneider Verlag, Xenos Verlag und im Deutschen Theater Verlag.

Kontakt: g.lammert.tuerk@gmail.com