Rom in der Weihnachtszeit 2024: Auf dem Petersplatz bestaunen unzählige Besucher aus aller Welt die lebensgroße Krippe und den geschmückten Tannenbaum. Mindestens ebenso viele drängen zum Eingang der „Heilige Pforte“, die Papst Franziskus am 24. Dezember in der Petersbasilika geöffnet hat. Einer Jahrhunderte alten Tradition folgend hat der Papst damit ein "Heiliges Jahr" eingeleitet. Es steht unter dem Motto "Pilger der Hoffnung". Weit mehr als 30 Millionen Besucher werden zu diesem Anlass 2025 in Rom erwartet.
Aber was bedeutet ein solches Jahr eigentlich für moderne Menschen? Welche Hoffnung können sie hier zwischen Touristenrummel, Lärm und Chaos finden? Diese Frage habe ich an drei Menschen gerichtet, die in Rom leben: Der katholische Erzbischof Flavio Pace, die Fokolarin Heike Vesper und der lutherische Pfarrer Michael Jonas:
"Ein solches Heiliges Jahr ist eine Art Fenster, durch das jeder von uns etwas von der Schönheit und Gnade Gottes sehen und erfahren kann. Denn jeder Mensch trägt eine Hoffnung in sich, und die ganze Menschheit ist unterwegs zu einem Ziel, das sie mit Hilfe dieser Gnade in ihrem Herzen finden kann."
"Hoffnung zu schöpfen, ist immer ein Prozess. Das Heilige Jahr ist vor allen Dingen auch eine Chance, einen Neuanfang zu wagen: Vergebung zu üben, aber auch Vergebung anzunehmen, und zu überlegen: Wo darf ich wieder neu anfangen und alles in die Hände Gottes legen? "
"Hoffnung ist etwas anderes als Optimismus. Hoffnung heißt: Ich vertraue auf die Quellen, über die ich nicht verfügen kann, die aber doch da sind. Und: Ich glaube, dass man in so einem heiligen Jahr diese Quellen wieder neu oder ganz anders erschließen kann."
Ein Heiliges Jahr wird in der katholischen Kirche in der Regel alle 25 Jahre ausgerufen. Es soll Menschen inspirieren, sich auf die Wurzeln ihres Glaubens zu besinnen und daraus neue Kraft zu schöpfen. Für diesen geistigen Prozess steht symbolisch der Weg durch die Heiligen Pforten bzw. Türen, die sich dann in vielen Kirchen Roms und der ganzen Welt öffnen. Dieses Ritual beruht auf einem Satz aus dem Johannesevangelium, in dem Jesus sagt:
"Ich bin die Tür. Wer durch mich hineingeht, wird gerettet werden. … (Er wird) Leben haben und es in Fülle haben." (vgl. Johannes 10,9 + 10)
Ich selbst habe das erste Heilige Jahr 1983 während meiner Studienzeit in Rom erlebt. Und ich erinnere mich, wie Papst Johannes Paul II uns Studenten bei einem Jugendtreffens am Petersplatz zurief:
"Reißt die Türen Eurer Herzen für Christus auf, für den Erlöser!"
Papst Franziskus sagt in einer Bulle, mit der er das Heilige Jahr 2025 ankündigt:
"Für alle Pilger möge (dieses Jahr) ein Moment der lebendigen und persönlichen Begegnung mit unserem Herrn Jesus Christus sein, der 'Tür' zum Heil!"
Interessanterweise wendet sich Franziskus dabei nicht nur an katholische Christen. Er schreibt vielmehr angesichts einer von Kriegen und Katastrophen zerrissenen Welt:
"Im Herzen jedes Menschen lebt die Hoffnung als Wunsch und Erwartung des Guten. … Möge das Heilige Jahr für alle eine Gelegenheit sein, diese Hoffnung aufleben lassen! … (Dieses Jahr) ist eine Einladung an alle Kirchen, auf dem Weg zur sichtbaren Einheit weiterzugehen und nicht müde zu werden, nach angemessenen Formen zu suchen, um dem Gebet Jesu vollumfänglich zu entsprechen: Alle sollen eins sein!"
In Rom nennt man das Heilige Jahr auch "Jubiläum" und verknüpft es so mit einem Jubiläums- bzw. Gnadenjahr, das es schon vor Jahrtausenden in Israel gab: Es fand im Abstand von 50 Jahren statt, gewährte Sklaven Freiheit und Schuldnern einen Erlass.
Auch in der katholischen Kirche gehört zum Heiligen Jahr von jeher ein Erlass bzw. "Ablass", den Gläubige erhalten können, wenn sie unter bestimmten Bedingungen eine der Heiligen Pforten durchschreiten. Allerdings stutzen moderne, insbesondere evangelische Christen bei diesem Wort, denn es erinnert sie an das 16. Jahrhundert: Damals verkaufte Rom "Ablässe", die Menschen von den Folgen ihrer Sünden befreien sollten, gegen Geld. Dieser "Ablasshandel" war ein Auslöser für die Reformation, die Missstände in der damaligen Kirche beseitigen wollte.
De facto hat die katholische Kirche den Ablasshandel schon wenig später auf dem Konzil von Trient verurteilt und abgeschafft. Dennoch bleibe mit dem Wort ein gewisser Beigeschmack verbunden, meint der Pfarrer der lutherischen Gemeinde Roms, Michael Jonas, würdigt aber zugleich die Formulierungen von Papst Franziskus:
"Was mir Freude jetzt schon eine gewisse Freude macht, ist, dass das Vokabular und die Ausrichtung dieses Heiligen Jahres von der römischen Kirche sehr modern und auch ökumenisch ist. Rom in diesem Heiligen Jahr zu besuchen, wird eher gesehen als 'sich geistig auf den Weg machen', seinen Glauben zu vertiefen und zu erneuern. Die Bewegung an sich wird gesehen als Handlung, die zum Nachdenken anregt, die geöffnete Tür als Zeichen der Versöhnung. Die biblischen Motive verbinden mit einer tiefen Einkehr in die Quellen des Glaubens. Und da steckt Hoffnungspotential drin."
Allerdings wäre es den meisten Protestanten wohl lieber, so Jonas, das belastete Wort "Ablass", das in der Bulle auch vorkommt, gar nicht mehr zu hören. Warum ist davon eigentlich immer noch die Rede? Mit dieser Frage suche ich eine päpstliche Behörde auf, die sich unweit des Petersplatzes mit der Ökumene befasst: das "Dikasterium für die Einheit der Christen". Es wird von Kardinal Kurt Koch geleitet. An seiner Seite steht seit 2024 Erzbischof Flavio Pace. Er wisse um die Last der Geschichte, versichert der Mailänder Theologe, ermutige aber alle, das positive Anliegen zu sehen, das hinter dem Begriff Ablass steht:
"Das Stichwort Ablass erkläre ich Jugendlichen in meiner Pfarrei immer so: Wenn ihr Euch geprügelt habt und wieder versöhnt, auch einander vergeben habt, bleibt doch etwas zurück: z.B. ein blaues Auge. Das tut noch lange weh, und man muss einiges tun, damit es heilt. Oft bleibt auch eine innere Verletzung. Die Gnade Gottes kann aber auch diese heilen. Sie tilgt nicht nur die Schuld, sie kann viel mehr, sie heilt die Wunden in der Tiefe. Sie kann in unser Leben eintreten und es verändern. Und sie ist gratis. Ich kann mir bei Gott nichts erkaufen. Ich kann mich auch nicht selbst retten, egal wie. Gott rettet mich."
Man müsse nur eines tun, betont Flavio Pace: dieser Gnade im eigenen Leben Raum geben, und genau dazu ermutige das Heilige Jahr. Aus ökumenischer Perspektive ist das durchaus überzeugend. Der Weg durch die Heilige Pforte gleicht dann, modern ausgedrückt, auch einem psychologischen Prozess, bei dem Menschen die Folgen mancher Verfehlungen – gleich ob Verletzungen, Missverständnisse oder Vorurteile – mit Gottes Hilfe aufarbeiten. Und wem täte solch eine Versöhnungsarbeit nicht gut?
"Der Papst spricht auch von einem Pilgerweg, für den dieses Heilige Jahr steht, und wendet sich dabei ebenso an nicht-katholische Gläubige. Das Jubiläum ist ein Appell: ökumenisch, interreligiös und sogar im Dialog mit Nicht-Gläubigen. Ich verstehe es als offenes Fenster, das die Gnade Gottes für alle Menschen sichtbar werden lässt und sich an die ganze Menschheit richtet."
Mein eigener "Pilgerweg" führt an diesem Tag weiter über die Engelsbrücke auf die andere Seite des Tibers. Dort gehe ich durch eine Tür, die 2025 für viele Besucher aus dem Norden wichtig sein wird: die Tür des deutschsprachigen Pilgerzentrums. Es wird von dem Passauer Pfarrer Christian Böck geleitet, vermittelt Eintrittskarten für Generalaudienzen des Papstes und vieles mehr.
"Wir sind für viele Anliegen da und wir sind für alle Menschen offen. Es ist nicht zu unterschätzen, wie viele evangelische Christen oder auch aus der Kirche ausgetretene Menschen den Papst sehen wollen. Da sind wir auch die perfekte Anlaufstelle."
Zu seinen schönsten Aufgaben gehöre es, erzählt Pfarrer Böck, Pilgergruppen, insbesondere Jugendgruppen, durch die Stadt zu begleiten. Ein Leckerbissen sei dabei die sog. "Sieben-Kirchen-Wallfahrt", mit der man an nur einem Tag auch die wichtigsten "Heiligen Pforten" Roms aufsuchen kann.
"Es sind über 25 km, also eine gewisse körperliche Fitness müsste da sein, aber es ist ein spirituelles Erlebnis, in jeder der vier Hauptkirchen und den drei Pilgerkirchen einzukehren und miteinander einfach zu beten und ins Gespräch zu kommen. Es geht immer auch in die Tiefe: Was will mir Gott mit diesem Ort sagen? Der Weg durch die Heilige Pforte ist ein tief spiritueller Weg und das ist sehr schön."
Der Benediktiner Notker Wolf, der Jahrzehnte des Lebens als Professor und später als Abtprimas seiner internationalen Ordensgemeinschaft in Rom verbracht hat, ist diesen Weg mehrfach gegangen. In dem letzten Buch, das er 2024 noch mit mir zusammen geschrieben hat, "Kraftort Rom/Spirituelle Streifzüge", berichtete er auch von dieser Erfahrung. Wenn er die Grenzen der eigenen Kraft fühlte, so Abt Notker, habe er stets umso intensiver die Kraft Jesu wahrgenommen:
"Auf jedem Pilgerweg brechen Fragen auf: Mein Gott, wer bin ich eigentlich? Manchmal möchte ich vor mir selber fliehen. Ich hatte so ein tolle Bild von mir. Und jetzt? Jeder Schritt wird zur Last. Ich muss lernen, mich selber auszuhalten. Und ich darf zugleich hoffen, dass ich auf meinem Pilgerweg jemandem begegne, der mich aus der Gefangenschaft meines Ichs herausholt und mich wieder neu öffnet für das Leben, immer wieder neu!"
Auf meinem weihnachtlichen Rundweg, der bei Sankt Peter begann, gelingt es mir auch noch, kurz die anderen römischen Hauptkirchen zu besichtigen – allerdings nur mit Hilfe des römischen Verkehrsverbundes: Zu ihnen gehört die größte Marienkirche Roms, Santa Maria Maggiore, und die Basilika San Giovanni in Laterano. In der letzteren zeigt ein Fresko des bekannten Malers Giotto, wie Papst Bonifaz VIII. im Jahr 1300 erstmals ein Heiliges Jahr ausruft.
Hier wird die Heilige Pforte am 29. Dezember geöffnet, in Santa Maria Maggiore am 1. Januar und in der vierten römischen Hauptkirche, Sankt Paul vor den Mauern, am 5. Januar: Sie entstand über dem Grab des Völkerapostels Paulus und ist heute ein Symbol der Ökumene. In der Gebetswoche für die Einheit der Christen feiert Papst Franziskus hier stets mit Christen aller Konfessionen eine ökumenische Vesper. Oft werden dabei die Worte des Apostels zitiert:
"Jetzt erkenne ich unvollkommen. Dann werde ich durch und durch erkennen… Für jetzt bleiben Glaube, Hoffnung Liebe, diese drei." (vgl. 1 Korinther 13,12-13)
Bei internationalen ökumenischen Gremien, die zu diesem Anlass stets Vertreter entsenden, findet das Thema des Heiligen Jahres 2025 "Hoffnung" viel Zuspruch. Der Weltkirchenrat, dem die meisten evangelischen und orthodoxen Kirchen angehören, erwartet – so wörtlich – ein "Ökumenisches Jahr" auf dem "Pilgerweg zu Gerechtigkeit, Versöhnung und Einheit".
Veranstaltungen zu dem Thema sind in Planung. Die internationale Fokolar-Bewegung etwa bereitet für März in der Nähe Roms einen ökumenischen Kongress vor. Er soll die Hoffnung auf Frieden in bescheidenem Umfang unterstützen, meint eine der Organisatorinnen, Heike Vesper:
"Sei es die Orthodoxie, seien es die Katholiken, wir Evangelische oder die Freikirchen und Pfingstler … eigentlich wollen wir ja alle das Gleiche: Der heutigen Welt Frieden bringen. Ich denke, das ist die größte Aufgabe für uns Christen, Versöhnungswege aufzuzeigen und vor allen Dingen auch Taten zu schaffen."
Im italienischen Büro der "Weltkonferenz der Religionen für den Frieden" erwägt man sogar einen interreligiösen Pilgerweg zu den Heiligen Pforten Roms. Der europäische Präsident der Weltkonferenz, Luigi de Salvia, ist überzeugt:
"Das Jubiläum verweist auf fundamentale ethische Werte, die alle teilen. Deshalb können die Ideale eines solchen Heiligen Jahres auch auf andere Kulturen und religiöse Traditionen ausgedehnt werden. Schließlich ist unser aller Ziel, das Leben zu schätzen und menschlicher zu gestalten."
Wenn aus so viel gutem Willen 2025 auch Taten werden, dann könnten sich in diesem Heiligen Jahr durchaus neue Türen öffnen: für die Ökumene und weit darüber hinaus. Erzbischof Flavio Pace vom Päpstlichen Ökumene-Dikasterium betont jedenfalls:
"Unser Wunsch an alle Nicht-Katholiken ist: Fühlt Euch eingeladen! Nicht vereinnahmt! Sondern willkommen als Pilger! Wo Gottes Gnade im Leben der Menschen konkret wird, schafft sie Frieden. Christus kann dort, wo er unter uns Raum findet, alle Mauern niederreißen und alle Spaltungen überwinden. Er ruft zum Frieden."
Die redaktionelle Verantwortung für die Sendung hat Martin Korden.
Musik:
Coro Voci Bianche – Tu Scendi Dalle Stelle
Coro Voci Bianche – Adeste Fidelis
Pax in Nomine Domini
Ottorino Respighi – Fontane Di Roma
Coro Voci Bianche – Adeste Fidelis