Newsletter

"Umbringen können Sie sich immer noch!" Suizidprävention ohne Tabu

Am Sonntagmorgen, 30.04.2023

von Astrid Fischer, Oberwinter

Beitrag anhören

Es ist Mitternacht. Regennass schimmert die dunkelgraue Dachpappe, als Pierce Brosnan mit einer Leiter auf einem Londoner Hochhaus steht. Er braucht die Leiter, um bis an den Rand des Dachs zu kommen, um von dort auf die Straße zu springen. Die Kamera schwenkt nach unten und lässt die mulmige Höhe erahnen. In seinen Vorbereitungen zum Suizid wird Pierce Brosnan in seiner Rolle als ehemaliger Moderator Martin nach und nach durch drei Personen gestört, die mit dem gleichen Vorsatz zufällig auf dem Dach zusammentreffen.

In der rabenschwarzen Komödie "A long way down" aus dem Jahr 2014 schaffen die vier sehr unterschiedlichen Protagonisten mit Selbsttötungsabsicht, sich gegenseitig zu stützen und jeweils den finalen Schritt abzuwenden. Wenn man so will, sind sie füreinander die Selbsthilfegruppe, in der sie ungeniert ihre Ausweglosigkeit aussprechen können und in der sie sich verstehen und zuhören. Hier werden sie nicht verurteilt. Hier zwängt sie niemand in ein Leben, das sie nicht führen können oder wollen.

Was in dem Film "A long way down" – wörtlich übersetzt "Der lange Weg nach unten" – den Beginn einer Komödie darstellt, bedeutet viel zu oft bittere Realität. Allein in Deutschland sind es jährlich mehr als 10.000 Menschen, die sich das Leben nehmen. Das sind mehr Tote als durch Verkehrsunfälle und Drogen zusammengenommen.

Die Geschichte vom Sterben Leanders

Eines dieser traurigen Schicksale gehört zu Leander. Lange kämpfte auch er mit dem Wunsch, sein Leben zu beenden und leider hat er diesen Kampf verloren. Seine Mutter, die hier nicht namentlich benannt wird, schildert, wie es zu der Situation kam:

"Bevor sich jemand das Leben nimmt, gibt es natürlich eine ganze, lange Zeit, wo schon was nicht in Ordnung ist. Und mein Sohn war schon über eine lange Zeit auch psychisch erkrankt. Aber das Thema Suizid, das kam so forciert auf, so etwa ein halbes Jahr, bevor er sich dann wirklich das Leben genommen hat."

Bei einer Person, die Suizid begeht, sind durchschnittlich sechs Angehörige unmittelbar mitbetroffen. Oft sind es Familienmitglieder oder Freunde, die ein enges Verhältnis zu dem betroffenen Menschen haben. Angehörige, die selbst Sorgen mitbringen, nicht geschult und emotional tief involviert sind. Sie wollen für die Person da sein, die sich im Leben nicht mehr zurechtfindet, und fühlen sich verantwortlich für das, was passiert. Sie wollen helfen, sind in dieser Situation jedoch oft selbst in Not.

"Mein Sohn lebte wieder in Hamburg zum Schluss. Da wo er auch geboren ist, da wo wir herkommen. Und wir, also mein Mann und mein jüngerer Sohn, wir hatten ihn besucht in der Psychiatrie und sind dann ein paar Tage auf die Insel gefahren. Pellworm, so eine kleine nordfriesische Insel. Und in dieser Zeit, in diesen Tagen, wurde mein Sohn entlassen. Und am Entlasstag noch rief er dann abends nach 23 Uhr an mit einer Suizidankündigung. Mein Mann sagte dann noch: 'Kann nicht das Handy einmal ausbleiben? Wir haben hier so wenige Tage. Wir sind so gestresst. Wir sind immer in Aufruhr.' Und ich habe das auch verstanden. Weil der Stress, dem man ausgesetzt ist als Angehöriger, gerade in einer Phase, wo immer wieder mit Suizid auch gedroht wird oder das angekündigt wird, der ist natürlich enorm. Aber gleichzeitig war für mich wichtig: Ich bin erreichbar. Ich bin da."

Leanders Mutter kämpft. Sie informiert Polizei und Rettungsdienst, spricht mit Freunden und Angehörigen. Diesmal gelingt es ihr noch, ihren Sohn aufzufangen. Doch die Fälle wiederholen sich und sie kann nur schwer einordnen, wie ernst es Leander wirklich ist.

"Ist das jetzt eine Androhung? Ist das jetzt ein ernst gemeinter Vorsatz? Das ist natürlich auch eine große Frage dann später gewesen. Wann war der Punkt, wo das so gekippt ist? Weil anfänglich war das mit Sicherheit so, dass er es nicht konkret vorhatte. Das kam erst später."

Empathie und Wertschätzung per Telefon

Oft kann das Umfeld nicht erkennen, was der konkrete Auslöser für die Selbsttötung ist. Neben psychischen Erkrankungen können auch äußere Einflüsse ursächlich sein. Um als außenstehender, neutraler Gesprächspartner begleiten zu können und die Krisensituation abzuwenden, kann die Frage nach den Gründen ein Schlüssel sein.

Die TelefonSeelsorge kennt sich hiermit gut aus. Ursprünglich wurde sie gegründet, um im Moment der tiefsten Verzweiflung ein Ansprechpartner für suizidale Menschen zu sein. Pater Chad Varah aus London hatte 1953 als erster die Idee und fand schnell Anhänger in ganz Europa. Mittlerweile gibt es über 100 ökumenische, katholische, evangelische oder christlich angelehnte Stellen in Deutschland. Dort bestreiten mehr als 7500 ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter rund um die Uhr, an allen Tagen im Jahr, den Dienst am Telefon.

Im Jahr 2021 waren es im Durchschnitt täglich 2700 Gespräche. Mail und Chat sowie eine Vor-Ort-Beratung in einigen Städten sind zusätzlich im Angebot. Die Ehrenamtlichen müssen ein Auswahlverfahren bestehen, bevor sie rund 100 Stunden eingearbeitet und fortwährend geschult werden. 

Professor Dieter Wälte von der Akademie für Verhaltenstherapie in Köln ist einer der Referenten:

"In der suizidalen Krise verengt sich der Blickwinkel. Und Ressourcen, die früher da waren, die können nicht mehr genutzt werden. Und darum stellt sich die Frage, wie Ressourcen wieder wach gerufen werden können. Welcher Anlass hat dazu geführt, dass Ihre Lebenssituation sich so zugespitzt hat? Da gehen Sie also ganz direkt auf die Leute ein. Worauf führen Sie selber ihre Probleme zurück? Damit machen Sie den Anfragenden auch wiederum zum Experten. Der sich ja nicht als Experte fühlt. Welche Folgen hat ihr Problem eigentlich?"

Empathie und Wertschätzung sind für Professor Dieter Wälte die tragenden Grundsäulen für ein erfolgversprechendes Krisengespräch. Er ist davon überzeugt, dass die rund 7500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der TelefonSeelsorge zwar keine fertigen Lösungen anbieten, aber die Probleme von seelsorgesuchenden Menschen lindern können. Wichtig sei, sich der eigenen Rolle als Begleiter bewusst zu sein und die Entscheidungsverantwortung bei der seelsorgesuchenden Person zu belassen.

Zuhören und die Sichtweise umlenken

Eine sehr erfahrene Begleiterin ist Ute. Ihr vollständiger Name bleibt anonym, wie es bei der TelefonSeelsorge zumeist üblich ist. Sie berichtet über einen jungen Mann, der morgens noch in der Psychiatrie war, weil er seine Medikamente nicht vertrug und nachmittags keinen Ausweg mehr sah. Durch aktives Zuhören, dem Schlüssel für die erfolgreiche Suizidprävention, erreichte sie ihn.

"Ich hab‘ versucht, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Was sich ganz schwierig gestaltete. Alles, was ich angesprochen habe, oder versucht habe, dass er mir etwas von seinem Leben erzählt, das hat er relativ schnell wieder beendet. Also er war so Mitte 20 vielleicht, und schon ganz lange Zeit in einer Depression. Dass er sich niemandem mitteilen konnte. Dass er also eine Fassade errichtet hat. Den Fröhlichen gespielt hat. Auch in seiner Familie, mit seinen Arbeitskollegen. Und regelmäßig zuhause oder am Wochenende, dass dann der Zusammenbruch kam und er sich ganz kraftlos fühlte. Und dann jetzt an dem Punkt war, wo er wirklich sagte: Ich kann jetzt auch nicht mehr und ich will nicht mehr."

Ute spricht an, so wie sie es gelernt hat, fragt ihn nach den Gründen für seine Situation. Sie will wissen, wer ihn vermissen würde, wenn er nicht mehr da wäre. Sie scheut sich nicht nachzufragen und die Sorgen zu spiegeln. Ungeschönt und offen, dennoch empathisch und wertschätzend, geht sie in der Krise vor. Für einen Moment schafft sie es, den jungen Mann auf seinen Traum – ein altes Bauernhaus – zu lenken.

"Er hat sich dann ein bisschen darauf eingelassen. Aber nicht wirklich, weil er dann immer wieder sagte: 'Ich kann das sowieso nicht. Ich schaff das nicht. Und ich bin sowieso der Bekloppte. Warum soll ich das schaffen?' Das war so die Erfahrung, die er seit seiner Kindheit gemacht hat; anders zu sein, nicht anerkannt. Und ich hab‘ dann gespürt und gehört, wie schwer das ganze Leben für ihn ist. Und das habe ich ihm dann gespiegelt. Ich hab gesagt: 'Es ist ganz schwer, jeden Morgen aufzustehen, ne? Und wieder ins Leben zu gehen. Und den anderen nicht zu zeigen, wie schwer es ist und wie schlecht es Ihnen geht.' – 'Ja', sagt er."

Für einen wichtigen Moment erreicht Ute ihn. Mit schonungsloser Offenheit und einer neuen Sichtweise kann sie ihn von seinem finalen Tun abbringen.

"Und dann habe ich gesagt: 'Ja, das kostet doch viel Kraft. Und Sie haben ja diese Kraft, sonst hätten Sie es nicht geschafft, sonst wären Sie ja jetzt schon nicht mehr am Leben. Sie haben also ganz viel Kraft da rein investiert, den Leuten eine Fassade zu zeigen, jeden Tag aufzustehen, weiter zu machen.' Ich sagte: 'Können Sie sich denn vorstellen, diese Kraft in ihre Heilung... umzusetzen, anstatt so weiterzumachen? So wollen Sie ja nicht mehr weiter. Das geht ja nicht mehr weiter. Eine Chance noch. Eine Chance, die Kraft zu nehmen und mal einen anderen Weg zu gehen.' Also ich hab‘ dann auch gespürt, dass er mir zuhörte. Und hab dann noch gesagt: 'Und wissen Sie was, umbringen können Sie sich immer noch.'"

"Reiß dich zusammen" ist keine Hilfe

Warum ruft jemand in einer verzweifelten Situation, wenn der Lebensweg am Ende scheint, bei der TelefonSeelsorge an und sucht nicht stattdessen das Gespräch beim Ehepartner, den Eltern oder Kindern? Viele möchten ihren Angehörigen nicht zur Last fallen, ihnen die dunklen Gedanken nicht aufbürden. Einige sind so angegriffen in ihrem Selbstwertgefühl, dass sie die Betroffenheit der Familienmitglieder als weiteren Beweis der eigenen Unzulänglichkeit werten.

Anderen fehlt das Vertrauensverhältnis, um ihren verlorenen Lebensmut zu offenbaren oder sie haben Angst, nicht ernst genommen zu werden. Die Angst als Versager zu gelten ist leider nicht unbegründet. Suizidalität ist noch immer ein Tabuthema, das mit Irrtümern, Schuldzuweisungen und Bagatellisierungen einhergeht.

Die Stiftung Deutsche Depressionshilfe legte in einer Studie 2017 offen, dass ein Fünftel der deutschen Bevölkerung "Zusammenreißen" oder "Schokolade essen" als probates Mittel gegen Depression ansieht. Ein fatales Zeichen und nicht gerade eine Ermutigung, sich einem anderen Menschen zu offenbaren. So bleibt die gefühlte Ausweglosigkeit im Kopf. Die Spirale aus Scham, mangelndem Selbstwertgefühl und Seelenschmerz kann sich ungehindert weiterdrehen.

Die vier Protagonisten des eingangs erwähnten Kinofilms "A long way down" haben Ähnlichkeit mit der Situation in der TelefonSeelsorge. Frei von aller Hemmnis können Sie sich auf das urteilsfreie Ohr ihres Gegenübers verlassen. Utes Gesprächspartner vertraut ihr auch. Sogar, als sie ihm anrät, doch noch mal in die Psychiatrie zu gehen.

"'Boah, Sie sind gut. Sind Sie eine richtige Psychologin?' Ich sag: 'Nein, ich bin aber eine ausgebildete Beraterin bei der TelefonSeelsorge.' Und dann sagt er: 'Ja, ich versuche das. Ich gehe noch mal in die Psychiatrie.'"

Im Zwiegespräch am Telefon braucht es diese Offenheit, um eine Chance auf Suizidprävention zu haben. Sie verhindert Bagatellisierung und ermöglicht ein Gespräch auf Augenhöhe. In der Presse, wo viele Menschen gleichzeitig angesprochen werden, geht das nicht. Hier wird der Umgang in der Richtlinie 8.7 des Pressekodexes, herausgegeben vom deutschen Presserat, geregelt:

"Die Berichterstattung über Selbsttötung gebietet Zurückhaltung. Dies gilt insbesondere für die Nennung von Namen, die Veröffentlichung von Fotos und die Schilderung näherer Begleitumstände."

Eine gute Regelung, die verhindert, dass Sensationslust befriedigt oder der Werther-Effekt ausgelöst wird. Dieser Effekt geht zurück auf Goethes Werk "Die Leiden des jungen Werther", in dem der Suizid so romantisch und plastisch beschrieben wurde, dass Nachahmer sich das Leben nahmen. Trotz der starken Zurückhaltung in der Berichterstattung, ist es wichtig, nicht zu schweigen. Nur wenn über Suizide und Suizidprävention gesprochen wird, können Tabus fallen und Stigmatisierungen verhindert werden.


Die redaktionelle Verantwortung für die Sendung hat Martin Korden

Musik:

Ludovico Einaudi – Una Mattina
Ludovico Einaudi – A Fuoco
Ludovico Einaudi – Dolce Droga

Über die Autorin Astrid Fischer

Astrid Fischer, geboren 1975, ist selbständige Beraterin für Online-Kommunikation. Sie hat Sprachen und Recht in Bonn, Köln und Tilburg studiert, sowie aktuell zum MBA in Remagen. Schon während des Studiums hat sie ihre Liebe zur Öffentlichkeitsarbeit entdeckt. Die Spannbreite ihrer Einsatzfelder reicht von Versicherung, Personalvermittlung und Webshop bis hin zu NGO's. Fischer ist verheiratet und lebt mit Hund am Rhein.