"Im 4. Jahrhundert, als in Rom die Hand des Henkers wütete und das Christentum mit dem Schwert vernichten wollte, lebte in einer Höhle am Monte Soracte ein Eremit: Sein Name war Silvester. Eines Tages bemerkte er bewaffnete Männer, die auf den steilen Fußwegen zu ihm emporstiegen. Er fürchtete, dass sie ihn ergreifen und zum Martertod führen wollten. Doch es kam anders: Die Boten waren von Kaiser Konstantin gesandt und forderten Silvester auf, in Rom den Sitz des Bischofs einzunehmen."
Römische Legenden haben die Ereignisse rund um Bischof Silvester von jeher dramatisch ausgestaltet. Er lebte zu einer Zeit, als Zig-Tausende von Christen noch blutigen Verfolgungen zum Opfer fielen. Erst Kaiser Konstantin machte dem Grauen ein Ende und sicherte der jungen Kirche im „Mailänder Toleranzedikt“ Religionsfreiheit zu. Ein Jahr später, 314, übernahm Silvester das Amt des Bischofs von Rom. Der Volksmund jubelt:
"Neue Kirchen entstanden! Gottesdienste wurde nicht mehr in stiller Nacht sondern öffentlich gefeiert. Bischöfe und Priester, die der Heilige Silvester weihte, verkündeten fortan die wahre Lehre, und zahllose Heiden bekehrten sich."
Nach 21 Jahren Amtszeit starb Bischof Silvester gemäß vieler Überlieferungen am 31. Dezember 335. Schon bald darauf wurde er als Heiliger verehrt. Die Zahl der Erzählungen, die sich um sein Leben ranken, wuchs. Doch eine schriftliche Fassung dieser Texte, die "Acta Silvestri", ist erst aus dem 9. Jahrhundert bekannt.
Wie also verhalten sich Wahrheit und Legende? – Mit dieser Frage wandere ich auf einen der Hügel Roms: den Aventin. Hier liegt zwischen Gärten die internationale Benediktiner-Hochschule Sankt Anselmo. In ihr unterrichtet Prof. Pius Engelbert mittelalterliche Kirchengeschichte. Skeptisch runzelt er die Stirn:
"Über Silvester weiß man ganz wenig. Es scheint so, dass er noch in der Diokletianischen Verfolgung gelitten hat, aber eben nicht Märtyrer wurde, und als die Kirche frei wurde unter Kaiser Konstantin, dann die Kirche weiter entwickeln konnte. Was sicher ist, ist der Todestag und das ist der 31. Dezember. Eine Heiligsprechung hat es nie gegeben, er wurde einfach verehrt, so wie viele andere auch. Die Heiligsprechungen beginnen ja erst im Hochmittelalter. Also das Datum, 31. Dezember ist richtig, und da er als Heiliger verehrt wird, ist das sein Festtag."
Der Volksmund berichtet, dass die enge Beziehung zwischen Konstantin und Silvester nicht zuletzt auf einer wundersamen Heilung basierte, die der an Lepra erkrankte Kaiser durch den Heiligen erfuhr. Pius Engelbert schüttelt den Kopf:
"Gerade weil man nichts wusste über ihn, entstanden Legenden. Die Legende ist hoch dramatisch: Konstantin ist zum Monte Soracte geritten und hat den Papst da getroffen, und der hat ihm gesagt: Er kann von der Lepra gerettet werden, wenn er in einem Wasser-Bad dreimal untertaucht und den Namen Jesu Christi anruft. Und daraufhin hat Konstantin zur Belohnung dem Papst den Lateran-Palast geschenkt - das war die kaiserliche Residenz – und hat seinen Wohnsitz von Rom nach Konstantinopel verlegt, damit der Papst in Rom frei agieren konnte und hat ihm die Oberherrschaft über das Weströmische Reich gegeben und ein Gebiet, das nicht immer in den Quellen klar begrenzt ist, in Mittelitalien als speziellen Kirchenstaat."
Dieser letzte Teil der Legende wurde als "Donatio Constantini", als "Konstantinische Schenkung" weltberühmt. Doch das dazu gehörende Dokument, so Prof. Engelbert, habe man bereits im Mittelalter als Fälschung entlarvt.
Das ist nur Legende. Das hat historisch überhaupt kein Fundament, weil man eben eine so enge Verbindung von Papst Silvester – dem "Bischof von Rom", der Ausdruck "Papst" legt etwas Falsches nahe, er war einfach Bischof von Rom – und Kaiser Konstantin nicht belegen kann. Das ist eine Legende, die wahrscheinlich erst im 5. Jahrhundert entstanden ist, also lange nach dem Tod des Silvester und des Konstantin. Man weiß ja, dass Konstantin gar nicht von Silvester getauft worden ist, wie die Legende das nahe legt, sondern erst auf seinem Totenbett.
Der römische Volksmund kommentiert kurz und bündig:
"Zeit seines Lebens hatte Silvester für das Heil der Kirche gearbeitet – mit himmlischer Weisheit und großer Liebe zu den Armen. Als am 31. Dezember 335 sein Leben friedlich endete, wurde er in der römischen Priscilla Katakombe begraben."
Die unterirdische Grabanlage der Priscilla Katakombe liegt im Norden Roms. Hier besuche ich die Römerin Maria Francesca. Sie gehört zu einer Gemeinschaft von Benediktinerinnen, der die Katakombe anvertraut ist. Der 31. Dezember, meint sie strahlend, sei für sie einer der schönsten Tage des Jahres:
"Ja, denn am diesem Tag feiern wir den Heiligen Silvester. Unser Fest hat eine lange Tradition und war stets ein großes Ereignis mit einer feierlichen Messe und wunderbaren Gregorianischen Chorälen. Wir erhalten diese Tradition bis heute aufrecht."
Wir schließen uns einer Prozession an, die singend und betend durch die dunklen Gänge der Katakombe zieht. Nur einige Fackeln spenden etwas Licht. Man fühlt sich in die Zeit vor 2000 Jahren zurück versetzt. Viele der verfolgten Christen, die damals grausam zu Tode kamen, wurden hier beigesetzt. Zu beiden Seiten der endlosen Gänge sieht man zahllose Grab-Räume.
"Als Silvester starb, hat man auch ihn hier begraben. Die antiken Rom-Führer überliefern das eindeutig. Sie geben dieser Katakombe den Beinamen 'ad sanctum Silvestrum', zum Heiligen Silvester. Wo genau das Grab war, wissen wir allerdings nicht mehr."
Über eine steile Treppe steigen wir aus dem unterirdischen Labyrinth wieder ans Tageslicht und betreten eine schlichte frühchristliche Kirche. Sie ist zwei jungen Christen gewidmet, die einst zusammen mit ihren Geschwistern und ihrer Mutter das Martyrium erlitten. Die Botschaft all dieser Legenden, versichert Maria-Francesca, präge bis heute den Glauben vieler Römer:
"Ich lebe hier jeden Tag mit der Katakombe und es kommt mir so vor, als würden all die Christen von damals uns bis heute viel zu sagen haben. Denn sie erzählen davon, dass es noch ein anderes Leben gibt. Jene, die hier begraben sind, haben so fest auf Christus vertraut, dass sie dafür alles einsetzten. Wie hätten sie den Tod akzeptieren können, ohne den Glauben, dass sie danach etwas Besseres erwartet?"
Auf den Spuren Silvesters führt mich der Weg zurück in das historische Zentrum Roms, zur Piazza San Silvestro unweit der Spanischen Treppe. Dort komme ich in der kleinen Kirche "San Silvestro in Capite" ins Gespräch mit Father John Fitzpatric. Er gehört zu den Pallottiner Patres, die hier englischsprachige Christen aus aller Welt betreuen.
In einem Rom-Führer habe ich gelesen, dass die Gebeine Silvesters heute in dieser Kirche liegen. Father John nickt. Im 8. Jahrhundert, als sich plündernde Langobarden Rom näherten, habe man die Reliquien aus der Priscilla Katakombe zu ihrer Sicherheit in die Stadt hinein geholt.
"Sehen Sie die Platte im Boden vor dem Haupt-Altar? Hier ist der Heilige Silvester heute begraben. Sein Haupt, das aus irgendeinem Anlass von seinem Körper getrennt wurde, wird allerdings in einem Reliquienschrein in der Sakristei aufbewahrt. Dieser Schrein steht nicht in der Kirche, weil er 1969 einmal gestohlen wurde. Wenige Tage später hat man ihn zwar zurück gebracht und im Beichtstuhl einem Priester übergeben, aber seither bewahren wir ihn aus Sicherheitsgründen in der Sakristei auf."
Der Schrein stammt aus dem 18. Jahrhundert und ist mit goldenen Lettern verziert: "Caput Sancti Silvestri Papae" – Das Haupt des heiligen Papstes Silvester.
Während der Messe am 31. Dezember tragen wir diesen Schrein feierlich in die Kirche. Dort stellen wir ihn auf den Hochaltar, wo die Leute ihn gut sehen können. Denn zu der Messe kommen stets viele Besucher, um die Reliquien des Heiligen zu verehren.
Die Liebe der Römer zum Heiligen Silvester lässt sich nicht zuletzt mit der Liebe zu ihrer Stadt erklären. Entstanden doch unter seiner Amtszeit die ersten prachtvollen Kirchen, die Rom bis heute prägen. Eine von ihnen wurde zu Ehren des "Salvator Mundi" errichtet – des "Erlösers der Welt". Später erhielt sie den Namen "San Giovanni in Laterano". Sie ist die nächste Station auf meinem Rundgang.
In ihrem rechten Seitenschiff befindet sich das Grabmal eines Mannes, der Silvester zu seinem Vorbild wählte: Gebert von Aurillac. Der gelehrte Benediktiner war Berater des ehrgeizigen jungen Kaisers Otto III, der Rom 998 mit seinen Truppen besetzte. Schon im darauffolgenden Jahr bestieg Gebert den Stuhl Petri als Papst Silvester II, erläutert Pius Engelbert:
"Kaiser Otto III wollte das Römerreich wieder herstellen, in einer romantischen Art. Er hat dafür gesorgt, dass Gerbert von Aurillac Papst wurde. Und der hat sich bewusst nach Silvester I genannt, weil für ihn Otto III so etwas war wie Konstantin der Große. Er hat nichts getan ohne ständige Absprache mit Otto III."
Doch die ehrgeizigen Pläne des Kaisers scheiterten. Er war bei den Römern ebenso unbeliebt wie sein Protegé, der Franzose Gebert. Im Jahr 1001 wurden beide aus der Stadt vertrieben und starben bald darauf. Danach sollten mittelalterliche Päpste noch zweimal den Namen "Silvester" wählen. Aber weder Silvester III noch Silvester IV konnten sich inmitten der Machtkämpfe zwischen den Kaisern und dem römischen Adel behaupten.
Erst im 13. Jahrhundert belebte ein Mann namens Silvester die christlichen Ideale der Demut und Einfachheit neu, die am päpstlichen Hof des Mittelalters längst verloren schienen: Silvestro Guzzolini. Er ist in die Geschichte als San Silvestro Abate ein-gegangen – als heiliger Abt Silvester.
Unweit des Pantheons liegt in Rom das Generalat der Sylvestriner Patres, einer von ihm gegründeten Mönchsgemeinschaft. Dort treffe ich den langjährigen Generalabt Don Antonio Jacovone:
"Im 12. und 13. Jahrhundert entstanden viele neue monastische Bewegungen. Der heilige Franziskus, Dominikus und San Silvestro Abate sind im Grunde Zeitgenossen. Sie alle suchten nach einer neuen Lebensform, ja, nach einer Rückkehr zum wahren Christentum. Silvestro Guzzolini wurde 1177 geboren. Er war Geistlicher in der Diözese von Osimo, in den heutigen Marchen und 50 Jahre alt, als er sich zurückzog, um in der Einsamkeit Gott zu suchen."
Wie sein Namenspatron lebte Silvestro Guzzolini einige Jahre in einer Berghöhle als Eremit und widmete sich dem Gebet. Schüler schlossen sich ihm an. 1231 gründete er am Monte Fano bei Fabbriano sein erstes Kloster und wählte dafür die Regel Benedikts.
"Aber Silvestro hat seine eigenen Akzente gesetzt. Anders als damals oft üblich, wollte er in keinen reichen Klöstern wohnen, sondern bevorzugte einsame, bescheidene Orte. Die Armut und Einfachheit des Lebensstils wurden Kennzeichen unserer Bewegung."
Dem schlichten Mönch aus Fabbriano gelang es, seine Ideale zukunftsfähig zu leben. Heute gehören zu den Sylvestriner Patres über 200 Mönche, die auf fünf Kontinenten für die Ärmsten arbeiten.
In der kleinen Kirche der Sylvestriner endet mein Spaziergang auf den Spuren des Heiligen Silvester. Wie in Rom üblich, wird hier am Abend des 31. Dezember das "Te Deum" gesungen.
"Dich, Gott, loben wir…
Dich, ewiger Vater, verehrt der ganze Erdkreis."
Der alte Hymnus drückt beides aus: Dank für den Segen des vergangenen Jahres und Hoffnung auf eine gute Zukunft. Eine süddeutsche Volksweise, die oft zum Jahresende erklingt, bringt diese Haltung in Verbindung mit dem Heiligen Silvester:
"Sankt Silvester, Schutzpatron:
Bitt für uns um Gottes Segen, steh uns bei in der Gefahr.
Bitt für uns in allen Nöten, steh uns bei im Neuen Jahr.
Gottes Frieden komm zu uns! Gottes Segen bleib bei uns!"
Die redaktionelle Verantwortung für die Sendung hat Norbert Wichard.
Bei dieser Sendung handelt es sich um eine Wiederholung aus dem Jahr 2017.