Heute beginnt das neue Jahr mit der Datumsangabe: Erster Januar 2025. Genau genommen müsste es heißen: 2025 "nach Christus" oder präziser "nach Christi Geburt". Denn von diesem Punkt an zählen wir unsere Jahre. Eingeführt hat diese Zählung der Mönch Dionysius Exiguus vor nun genau 1500 Jahren. Das geschah damals im Zusammenhang der Berechnung der Ostertermine. Die vorige Übersicht war abgelaufen. So erarbeitete Dionysius 525 eine neue. Bis dahin war als Ausgangspunkt der Jahreszählung für die Osterterminberechnung der Beginn der Herrschaft des Kaisers Diokletian gewählt worden.
Beim Nachrechnen der für die Ermittlung der Ostertermine großen Mond- und Sonnenzyklen stellte Dionysius eine Verbindung zu den Regierungsjahren des Königs Herodes fest. Gegen Ende seiner Herrschaft in der damaligen römischen Provinz Palästina wurde Jesus geboren. Dessen ungefähres Geburtsdatum machte Dionysius nun zum neuen Ausgangspunkt der Osterberechnung. An die Stelle der Diokletianischen Ära trat damit die sogenannte "Inkarnationsära". Diese Entscheidung begründete Dionysius auch geistlich, wie der Politologe Hans Maier schrieb:
"Dionysius, der im Auftrag Papst Johannes I. die Osterzyklen neu berechnete, führte gegen die diokletianische Ära ins Feld, daß sie die Erinnerung an einen gottlosen Christenverfolger wachhalte – ausgerechnet bei der Suche nach dem richtigen Ostertermin müsse man der Zeitrechnung eines Tyrannen folgen! Da sei es vorzuziehen, meinte er, daß man das Zeitmaß der Jahre von der Menschwerdung Jesu Christi nehme."
Dionysius Exiguus hatte die Ermittlung der Ostertermine mit seinem neuen Ausgangspunkt von der bis dahin üblichen Orientierung an den Regierungsjahren römischer Kaiser befreit. Die komplizierte Berechnung des Osterdatums, das – abhängig von Mond- und Sonnenzyklen – auf 35 verschiedene Daten zwischen dem 22. März und dem 25. April fallen kann, stand nun unter christlichem Vorzeichen. So schrieb er in der Einleitung zur seiner Ostertafel, er habe entschieden, …
" ... zu Beginn die Zeit nach Jahren seit der Geburt unseres Herrn Jesus Christus zu notieren, damit der Ausgangspunkt unserer Hoffnung umso klarer hervorträte und die Ursache der Wiederherstellung des Menschengeschlechtes, das Leiden unseres Erlösers, umso sichtbarer erstrahle."
Mit dieser kleinen Formulierung "die Zeit nach Jahren seit der Geburt unseres Herrn Jesus Christus zu notieren" hatte Dionysius Exiguus eine neue Zeitrechnung, die christliche Zeitrechnung, eingeführt. Das war auch ein Ausdruck dafür, dass die Christen ein eigenes Zeitverständnis entwickelt hatten und Anspruch darauf erhoben, in der Welt wirksam zu werden. Ihre Zählung der Jahre vor und nach der Geburt Christi hat sich durchgesetzt und wird bis heute verwendet.
Die frühen Christen traten als gefährdete, verachtete Minderheit zunächst nicht auffällig in ihrer heidnischen Umwelt auf. Entsprechend beanspruchten sie auch nicht, den üblichen Zeitrechnungen nach Kaiser- oder Konsulatsjahren, nach Olympiaden oder gerechnet von der Gründung Roms an, eine eigene entgegenzusetzen. Sie bezogen sich auf die jüdische Zählung vom Beginn der Welt an.
Vor allem aber sahen sie die Zeit durch die Ankunft des Messias als erfüllt an und erwarteten das Ende der Welt und den Anbruch des Gottesreiches. Daher entwickelten sie keine eigene Zeitrechnung. Allerdings galt ihnen Christus als Herr über Raum und Zeit. So heißt es beim Apostel Paulus in dessen Brief an die Kolosser:
"Denn in ihm wurde alles erschaffen / im Himmel und auf Erden, / das Sichtbare und das Unsichtbare, / Throne und Herrschaften, Mächte und Gewalten; / alles ist durch ihn und auf ihn hin erschaffen." (Kolosserbrief 1, 16)
Die so ausgedrückte Herrschaft Christi relativierte den Absolutheitsanspruch irdischer Reiche und Herrscher. Das taten auch die frühchristlichen Märtyrer, die der Kaiserverehrung ihren Glauben entgegenstellten. In den Protokollen ihres Leidens, den Märtyrerakten, wurde zur Datierung erstmals neben den Zählungen nach den Jahren der amtierenden Kaiser und Konsuln Bezug genommen auf die Herrschaft Jesu Christi. So heißt es in der Märtyrerakte des Bischofs Polykarp:
"Der selige Polykarp erlitt den Martertod am Zweiten des Monats Xanthikus, am 23. Februar, an einem großen Sabbat, um die achte Stunde. Er wurde ergriffen von Herodes unter dem Oberpriester Philipps von Tralles, unter dem Prokonsulat des Statius Quadratus, unter der ewig währenden Herrschaft unseres Herrn Jesus Christus."
Der Todestage der Märtyrer wurde in den Gemeinden gedacht. Die Christen schufen sich so ihre eigene Jahresgestaltung, geprägt durch Heiligentage, Sonntage und die großen Herrenfeste, allen voran das Osterfest. Da sie sich bezüglich des Termins aus der Anlehnung an das jüdische Pessachfest lösten und sich an der Frühjahrstagundnachtgleiche orientierten, wurde Ostern eine Zeitlang in den Gemeinden an verschiedenen Tagen gefeiert. Dem machte das Konzil von Nizäa unter Kaiser Konstantin im Jahr 325 ein Ende. Es legte Ostern auf den ersten Sonntag nach dem Frühlingsvollmond fest. Die Berechnung des jeweiligen Termins sollte in Alexandria erfolgen, weil die dortige Wissenschaft als die am besten geeignete für mathematisch-astronomische Berechnungen galt.
Mit dem Bezug auf die immerwährende Herrschaft ihres Herrn Jesus Christus in den Märtyrerakten hatten die Christen noch keine eigene Zeitrechnung ins Leben gerufen. Erst die Fixierung des Ostertermins vollzog hierfür den entscheidenden Schritt. Dionysius Exiguus vollendete dann den Ansatz, indem er die Einordnung des Ostertermins in kaiserliche Regierungszeiten aufgab und die Jahre fortan nach der Geburt Christi rechnete. Er schuf damit eine "Weltzeit", die an die Stelle der vielen vorigen Zeitangaben treten konnte. Der Theologe und Spezialist für Antikes Christentum Christoph Markschies erklärt an einem Beispiel, wie sich das Nebeneinander verschiedener Datierungen seinerzeit auswirken konnte:
"Es gibt so wunderbare antike Handschriften, da werden die Monatsdatierungen großer antiker Großstädte synchronisiert, denn in der Antike war es teilweise auch noch üblich, dass einzelne Städte eigene Zählungen und eigene Monatsnamen hatten, sodass sie ein Handbuch zuhause brauchten, wenn Sie beispielsweise Kaufmann waren und jetzt irgendwie versprochen hatten, für einen bestimmten Monat in Gaza zu liefern und aber in Beirut saßen und eine völlig andere Datierung hatten."
Die Vereinheitlichung der Zeitrechnungen durch die christliche setzte sich erst allmählich durch. Mit seinem Bezug auf die Geburt Christi hatte Dionysius Exiguus mit einem Ereignis mitten in der Geschichte den Punkt definiert, von dem aus die Zeit vorwärts und rückwärts bestimmt werden konnte: als vor der Geburt und nach der Geburt Christi. Der erste, der die Zeitangabe "vor Christus" verwendete, war im siebten Jahrhundert der Benediktiner Beda Venerabilis. Der große Gelehrte und Geschichtsschreiber schrieb in seiner "Kirchengeschichte des englischen Volkes":
"Bis Gaius Julius Caesar im Jahr 693 nach Gründung der Stadt, das ist im Jahr 60 vor Christus mit Lucius Bibulus die Position eines Konsuls einnahm, war Britannien von den Römern nie betreten worden."
Neben der retrospektiven Datierung verwandte Beda Venerabilis auch die prospektive, die er jeweils mit "im Jahre des Herrn" oder "nach Christi Geburt" bezeichnete. Er hatte so als erster das Weltgeschehen mit Hilfe der christlichen Zeitrechnung geordnet und beschrieben. Außer dieser bestanden weiterhin Zählungen nach der Gründung Roms, nach Olympiaden und Steuerzyklen, nach Herrscher- und Papstjahren. Manche davon hielten sich noch Jahrhunderte. Aber die sogenannte Inkarnationsära, also die christliche Rechnung nach der Menschwerdung Gottes, setzte sich daneben immer mehr durch. Und mit ihr das Bedürfnis, die ganze Welt und Geschichte in diesem Schema zu erfassen. So in den Weltchroniken des hohen Mittelalters, die immer größere Zeiträume auch vor der Geburt Christi in den Blick nahmen. In den "flores temporum" (den "Blüten der Zeit") aus dem Ende des 13. Jahrhunderts ist zu lesen:
"David herrschte vom Jahr 4124 an, das heißt vom Jahr 1068 vor Christus, das heißt vom Jahr 360 vor Gründung der Stadt Rom."
Die älteren und parallelen Zeitrechnungen neben der christlichen hatten an Bedeutung verloren. Hartnäckiger hielt sich die Zählung vom Termin der angenommenen Erschaffung der Welt an. Eine jüdische Auffassung, die von den Christen übernommen und mit eigenem Akzent versehen worden war. Einer der Gründe für deren Wertschätzung wurde mit dem Zeitalter der Entdeckungen erschüttert. Durch das Kennenlernen bis dahin unbekannter alter Kulturen war die Annahme, die jüdische sei die älteste und das jüdische Volk markiere als das älteste den Beginn der Weltgeschichte, nicht mehr ohne weiteres aufrechtzuerhalten. Hinzu kam, dass sich im Laufe der Zeit nimmer mehr und extrem voneinander abweichende Berechnungen des Weltanfangs ergeben hatten. So erwies sich die Zählung der Jahre, ausgehend von Christi Geburt, als präziser als die unter Bezug auf einen kaum zu fassenden Zeitpunkt des Beginns der Welt, wie der Politikwissenschaftler Hans Maier feststellt:
"Ein Grund für den Sieg der christlichen retrospektiven Zeitrechnung über die biblizistische war ihre größere Genauigkeit. Während über den Beginn der Weltschöpfung weder zwischen Juden und Christen noch unter Christen Einigkeit bestand, (…) erlaubte ein Datum in der Mitte der Geschichte präzisere Datierungen, wie sie vor allem von der aufsteigenden historischen Wissenschaft immer dringender verlangt wurden. Deshalb setzte sich die 'neue' Zeitrechnung (…) gerade in der Zeit der Aufklärung durch, in einer Zeit also, die dem Christentum sonst in vielem kritisch gegenüberstand."
So verwendete Voltaire 1756 in seinem geschichtsphilosophischen Werk "Über den Geist und die Sitten der Nationen" durchgehend die Zählung "nach" und "vor Christus". Der katholische Publizist und Prinzenerzieher Jacques Bénigne Bossuet hingegen hatte 75 Jahre zuvor in seinem geschichtstheologischen Werk "Abhandlung über die Weltgeschichte" neben dieser noch die Zählung vom Anfang der Welt und seit der Gründung Roms verwendet. Er bemerkte aber zur Epoche ab Christi Geburt:
"Diese Epoche ist die wichtigste von allen, nicht nur wegen der Bedeutung, die diesem großen Ereignis zukommt, sondern auch deshalb, weil seit vielen Jahrhunderten die Christen danach ihre Jahre zählen."
Kurz nachdem sich die christliche Zeitrechnung endgültig durchgesetzt hatte, wurde ihr eine harte Kampfansage gemacht. Die Akteure der Französischen Revolution wollten nicht nur alle Erinnerung an die Kirche und ihre Traditionen auslöschen. Auch die christliche Zeitrechnung sollte abgeschafft und durch eine neue ersetzt werden. Die Umwandlung der Kathedrale Notre Dame de Paris in einen "Tempel der Vernunft" brachte den Kampf gegen die Kirche symbolisch zum Ausdruck. Über die christliche Zeitrechnung äußerte sich der Mathematiker Gilbert Romme im Erziehungsausschuss des Nationalkonvents:
"Die alte Zeitrechnung war die Ära der Grausamkeit, der Lüge, der Perfidie und des Sklavengeistes, sie ist mit dem Königtum, dieser Quelle aller unserer Übel, untergegangen. (…) Die Zeit schlägt ein neues Buch in der Geschichte auf, und in ihren neuen, majestätischen, einfach-gleichmäßigen Ablauf gilt es mit kraftvollem Meißel die Annalen des wiedergeborenen Frankreich einzutragen."
"Einfach-gleichmäßig" in Bezug auf die Zeit meinte vor allem eine am Dezimalsystem orientierte Neuordnung des Jahres, der Monate, der Tage und der Wochen. An die Stelle des Sonntags trat der Décadi, der Zehntag des dreigeteilten Monats. Die Sieben-Tage-Woche fiel weg. Weil das Ganze aber doch zu rechnerisch-kalt klang, benannte man die Tage wenig später nach Pflanzen, Tieren und Mineralien. Die Monate trugen Namen wie "Weinmonat", "Regenmonat", "Blütenmonat", "Erntemonat". Dem Sonntagsersatz Décadi wurden ländliche Ackergeräte zugeordnet. Die Umsetzung der neuen revolutionären Zeitrechnung beschloss der Erziehungsausschuss des Nationalkonvents am 24. November 1793. Er verfügte:
Artikel 1, 7 & 8 des Beschlusses vom 24. November 1793 im Erziehungsausschuss des Nationalkonvents
"Die Ära der Franzosen zählt von der Gründung der Republik an, die am 22. September 1792 der alten Zeitrechnung stattfand, an dem Tag, an dem die Sonne mit dem Eintritt in das Zeichen der Waage die wahre Herbst-Tagundnachtgleiche erreichte. Das Jahr wird eingeteilt in zwölf gleiche Monate von je dreißig Tagen. Auf die zwölf Monate folgen fünf Tage, die das Jahr vervollständigen, sie werden keinem Monat zugerechnet. Jeder Monat wird eingeteilt in drei gleiche Teile zu je zehn Tagen, die Dekaden genannt werden."
Zwölf Jahre währte die Revolutionsära in Frankreich, bis zum Jahr 1805. Napoleon schaffte sie ab - vielleicht, weil er für seine Rolle als Kaiser zumindest vordergründig die Nähe zur Kirche benötigte. Mindestens ebenso entscheidend für das Scheitern des Revolutionskalenders war aber auch die Verlängerung der Woche auf zehn Tage und die Abschaffung des Sonntags, weil so den Menschen ein erheblicher Teil ihrer Freizeit genommen wurde. So kehrte Frankreich zur christlichen Zeitrechnung zurück. Der Hochmut der Revolutionäre wurde eines besseren belehrt. Sie hatten die gesamte Geschichte vor ihnen für nichtig, verlogen und grausam erklärt und die eigene Epoche absolut gesetzt. Die christliche Zeitrechnung hingegen kennt keine Bevorzugung einer Epoche. Vor Gott, das ist ihre Botschaft, sind alle Epochen und Zeiten gleich. Eine Einsicht, die der große Historiker Leopold von Ranke in einem Vortrag vor König Maxmillian II. von Bayern im Herbst 1854 so formulierte:
"Jede Epoche ist unmittelbar zu Gott, und ihr Wert beruht gar nicht auf dem, was aus ihr hervorgeht, sondern in ihrer Existenz selbst, in ihrem Eigenen selbst."
Versuche, die christliche Zeitrechnung abzuschaffen, gab es nach der Französischen Revolution auch im nationalsozialistischen Deutschland, in Italien unter Mussolini und in Sowjetrussland. Sie waren alle nicht von langer Dauer. Dennoch lässt sich fragen: Wird die christliche Zeitrechnung weiteren solchen Versuchen ausgesetzt sein? Der Politologe Hans Maier bemerkt dazu:
"Zunächst muss man feststellen, dass sich die christliche Zeitrechnung zwar weltweit durchgesetzt hat, jedoch in vielen Ländern nur als Zweitzählung. Von den mehr als sechs Milliarden der Weltbevölkerung sind etwa vier Milliarden solche Zweitrezipienten. Sie nutzen zwar die christliche Zeitrechnung und können sie als Mittel globaler Vernetzung kaum entbehren, aber sie halten auch an ihren eigenen Zählungen fest – das gilt für Buddhisten, Hindus, Muslime, es gilt auch für die Juden, für welche die alte Schöpfungschronologie nie ihre Gültigkeit verloren hat. Es wäre also denkbar, dass sich eines Tages neue Ären und Periodisierungen bildeten mit entsprechender globaler Wirkung. Es wäre sogar möglich, dass es ihnen gelänge, die christliche Zeitrechnung zurückzudrängen und durch andere Zählungen abzulösen."
Das wäre ein schwerer Verlust, für die Christen, aber vermutlich auch für die übrige Welt. Nicht nur, weil die christliche Zeitrechnung eine für Verkehr, Handel, Technik, Geschichtsschreibung und Medien verbindliche Welt-Chronologie bereitstellt. Der Theologe Christoph Markschies gibt zu bedenken:
"Eine einheitliche Zeit zu haben, ist angesichts einer in so viele Blasen zerteilten Gesellschaft fast schon ein Wunder. Das hat, glaube ich, noch niemand in Frage gestellt in den vielen Debatten unserer Zeit, dass es gut ist, eine einheitliche Zeitmessung zu haben."
Die redaktionelle Verantwortung für die Sendung hat Martin Korden.