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"Dieser Ort ist von Gott geschaffen …!" Zum 200. Geburtstag von Anton Bruckner

Feiertag, 01.09.2024

Joachim Opahle, Berlin

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Wie kann man das Heilige musikalisch darstellen? Viele berühmte und weniger bekannte Komponisten haben sich dieser Aufgabe gestellt, von der Gregorianik, über die großen Komponisten der Klassik bis zu Zeitgenossen unseres Jahrhunderts. Fast immer haben sie versucht, das Ehrfurchtgebietende und das zugleich faszinierende und magisch Anziehende des Heiligen mit stimmungsvollen Harmonien darzustellen. Manchmal leise, manchmal laut.

Dabei sind Stücke von betäubender Eindringlichkeit entstanden, mit großen Orchestern, mit eindrucksvollen Soloinstrumenten oder auch bevorzugt mithilfe der menschlichen Stimme. Beim Hören schöner Stimmen werden bekanntlich Glückshormone ausgeschüttet. Eine gute Voraussetzung für eine Annäherung an das Jenseitige, das Andere, an das, was wir mehr erahnen als begreifen können.

Einer, der zeitlebens leidenschaftlich für den Zugang zum Heiligen über die Musik gelebt und gearbeitet hat, ist der österreichische Komponist Anton Bruckner, ein prominenter Vertreter der Romantik im 19. Jahrhundert. In wenigen Tagen, am 4. September, jährt sich sein Geburtstag zum 200. Mal. Für Chöre und Orchester ein willkommener Anlass, seine Stücke erneut aufzuführen. Vor allem ein Werk ist hoch im Kurs, eines der andächtigsten Stücke der Chorliteratur, das weltweit Karriere gemacht hat: die berühmte Motette mit den Anfangsworten "Locus iste", zu deutsch: "dieser Ort".

Es ist ein gesungenes Gebet, für vierstimmigen Chor ohne Instrumentalbegleitung. In der schwebenden melodischen Schönheit, die es entfaltet, gelingt es diesem Chorstück, eine Ahnung der Unendlichkeit zu vermitteln, vielleicht sogar die Gegenwart des Göttlichen spürbar zu machen.

"Dieser Ort ist von Gott geschaffen,
ein unschätzbares Geheimnis,
kein Fehl ist an ihm."

Die Motette Locus Iste entstand im Jahr 1869. Anlass war die Einweihung der Votivkapelle des Linzer Doms. Bruckner hatte dem damaligen Bischof versprochen, dem Ereignis eine Komposition zu widmen. Der Text beschreibt eine Gottesbegegnung; er geht zurück auf eine Begebenheit, die in der Hebräischen Bibel, dem Alten Testament, geschildert wird.

"Jakob ging nach Haran. Er kam an einen bestimmten Ort und übernachtete dort. … Da hatte er einen Traum: Eine Treppe stand auf der Erde, ihre Spitze reichte bis zum Himmel. Auf ihr stiegen Engel Gottes auf und nieder. Und siehe, der HERR stand vor ihm und sprach: 'Ich bin der HERR, der Gott deines Vaters Abraham und der Gott Isaaks. … Siehe, ich bin mit dir, ich behüte dich, wohin du auch gehst.' … Jakob erwachte aus seinem Schlaf und sagte: 'Wirklich, der HERR ist an diesem Ort und ich wusste es nicht.' Er fürchtete sich und sagte: 'Wie Ehrfurcht gebietend ist doch dieser Ort! Er ist nichts anderes als das Haus Gottes und das Tor des Himmels.'" (Einheitsübersetzung, Genesis 28, 10 – 13, 15 –17)

Ein Sonderling aus der Provinz

Wer sich mit Anton Bruckner befasst, taucht ein in eine sehr katholische und provinzielle österreichische Kirchenwelt, und stößt darin auf eine vielschichtige Persönlichkeit, die von Gegensätzen bestimmt ist. Zeitlebens gilt der Komponist als Einzelgänger, ist voller Selbstzweifel. Er leidet unter seinem geringen Selbstwertgefühl und darunter, als Sonderling verspottet zu werden. Immer wieder schreibt er seine Stücke um, so als wolle er seinen Kritikern Recht geben. Trotz dieser Unsicherheit entfaltet er in seinen Kompositionen eine visionäre und Grenzen überschreitenden Kraft.

Manchmal, wird er später sagen, seien ihm die Ideen für seine Stücke im Traum gekommen. Es dauert lange, bis er öffentliche Anerkennung erfährt. Die etablierten und prominenten Wiener Musikerzeitgenossen urteilen anfangs wenig schmeichelhaft über den Sonderling aus der Provinz. Erst spät gelingt ihm der künstlerische Durchbruch, die Anerkennung als genialer Orgelvirtuose, Schöpfer geistlicher Chorwerke und empfindsamer Komponist großer Symphonien, der den Vergleich mit Beethoven nicht zu scheuen brauche.

Anton Bruckner wird 1824 im oberösterreichischen Ansfelden geboren, als ältestes von 11 Kindern. Vom Vater erhält er Musikunterricht; sein Talent und seine Liebe zur Orgel zeichnen sich früh ab. Doch dann stirbt der Vater als Anton gerade einmal 13 Jahre alt ist. Die Mutter, die die Familie über Wasser halten muss, bringt ihn bei den Chorknaben im unweit gelegenen St. Floriansstift bei Linz unter. Dort herrschen strenge Disziplin und eine dogmatische katholische Frömmigkeit. Jeden Morgen werden die Chorknaben früh zur Messe erwartet. Dem jungen Anton scheint es nicht zu schaden. Nach dem Schulabschluss ist er perfektioniert in Orgelspiel und Harmonielehre und arbeitet als Aushilfslehrer und Provinzmusiker.

Im Alter von 31 Jahren wird er schließlich Domorganist in Linz, wo man ihn wegen seiner kühnen Orgelimprovisationen rühmt. Gleichzeitig entstehen erste Meisterwerke, vor allem Messen und Symphonien. Auch der Gesangsverein der "Liedertafel Frohsinn" blüht unter seiner Leitung auf und erreicht Ruhm über die Landesgrenzen hinaus.

Im Jahr 1868 wechselt Bruckner schließlich nach Wien, wo er am Konservatorium und an der Universität unterrichtet und Organist an der Hofkirche wird. Aus dieser Zeit stammt eine oft zitierte Anekdote, die viel über das Talent Bruckners als Orgelvirtuose aussagt. Als er an der dortigen Piaristenkirche eine sogenannte "Kommissionsprüfung" ablegt, ist einer der Prüfer dermaßen angetan, dass er ausruft: "Er hätte uns prüfen sollen!"

Doch Anton Bruckner bleibt ein von Zweifeln, Eigensinn und psychischen Krisen gebeutelter Mensch. Immer wieder verändert er nachträglich seine Kompositionen, wenn wieder einmal die Kritik von Gegnern auf ihn niedergeht. Über der Partitur seiner C-Moll-Symphonie steht handschriftlich geschrieben: "Diese Symphonie ist ganz ungültig… Nur ein Versuch!"

Mal hält man seine Kompositionen für wirr und für unspielbar, sodass sich die Musiker weigern zu spielen; mal verlässt das Publikum unter Protest den Saal. Die Wiener Musikkritiker haben wenig übrig für den Eigenbrötler aus der Provinz, der immer wieder versucht, die engen Grenzen der damaligen Musikmode von innen heraus zu erweitern. Dennoch entstehen in der Wiener Zeit die meisten seiner Werke: Chor-Motetten, Messen und insgesamt neun Symphonien. Das epische Finale der 5. Symphonie mit seinen donnernden Klangwolken wird ein Kritiker später als "das monumentalste Ende der musikalischen Weltliteratur" bezeichnen.

Bruckner trifft Wagner und schafft den Durchbruch

Zu einem bedeutenden Einschnitt in Bruckners Biografie wird die Begegnung mit Richard Wagner in Bayreuth, den der fromme Oberösterreicher fast schon abgöttisch verehrt. Vor allem dessen Oper "Tannhäuser" hat es ihm angetan. Bruckner widmet seinem Vorbild seine 3. Symphonie und hofft auf Anerkennung im Kreis der Wagnerianer, was ihn bei den Wienern eher noch mehr verdächtig macht. Doch der Durchbruch zeichnet sich ab. Bruckners Werke werden in Wien, Leipzig und München aufgeführt und finden triumphale Aufnahme.

Im österreichischen Kaiser Franz Josef findet er einen Gönner, das Publikum wird zunehmend aufgeschlossen für seine Kompositionen. Einladungen machen Bruckner über die Landesgrenzen hinaus bekannt. In Nancy wird ihm die Ehre zuteil, die neue Domorgel einzuweihen. Auch in Paris und London feiert man sein Orgelspiel und sein, wie es heißt, "bis zur Ekstase" reichendes Talent zur Improvisation.

Es sind vor allem seinen stillen Chorstücke ohne Instrumentalbegleitung, die zur spirituellen Betrachtung einladen. Ein Beispiel für diese hingebungsvollen Andachtsstücke ist die Chormotette "Os Iusti", zu deutsch: "Der Mund der Gerechten". Hier mischt er eine klassische Dur-Tonart mit Elementen der Gregorianik. Die Motette entstand als Geschenk für den damaligen Chorleiter von Sankt Florian, wo Bruckner regelmäßig seine Ferien verbrachte. Der Text entstammt dem Psalm 37:

"Der Mund des Gerechten bedenkt Weisheit
und seine Zunge redet Gerechtigkeit.
Das Gesetz seines Gottes trägt er im Herzen
und seine Schritte wanken nicht.
Halleluja."

Mystische Frömmigkeit spricht auch aus Bruckners Motette "Ave Maria", ein gefühlsbetontes, ausdrucksstarkes Chorstück für sieben Stimmen, das bei kleinen und großen Chören sehr beliebt ist. Ein Stück für stille Besinnung und Kontemplation Himmlisch süß klingen die Engel, die den Gruß an die Gottesmutter intonieren: "Sei gegrüßt, Maria, du bist voll der Gnade und der Herr ist mit dir."

Wenige Takte später kommen die vier tiefen Stimmen hinzu, mit den Worten: "und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes". Der musikalische Höhepunkt gilt dann jedoch überraschenderweise gar nicht Maria, sondern Jesus. Gleich drei Mal erklingt der Ruf an ihn, in größtmöglicher Steigerung von pianissimo bis fortissimo. So deutet er an, dass der Weg von Maria zu Jesus führt.

"Te Deum": Ein Werk, das Gott gewidmet ist

Ein berühmtes Chor-Werk fehlt noch in der Würdigung des großen österreichischen Komponisten Anton Bruckner: Das "Te Deum", ein furioser Hymnus, der herausfordernd schwierig zu singen ist und das Publikum fast immer überwältigt und manchmal wie betäubt zurücklässt. Der Chor entfaltet wuchtige und heroische Klangtreppen. Im Wechsel dazu singen Solisten von den Engeln und erflehen göttlichen Beistand. Mit hellen Fanfarenstößen öffnen Chor und Orchester einen musikalischen Himmel; und der Sopran fliegt hinauf bis zum Hohen C.

Der Text entstammt einem lateinischen Hymnus aus dem vierten Jahrhundert, eine Abfolge aus Lobpreis, Fürbitten und Psalmversen. 1886 wurde das Chorstück mit großem Zuspruch in Wien uraufgeführt. Selbst die notorischen Kritiker Bruckners übertrafen sich in Lobeshymnen, die auch bei heutigen Zuhörern noch anhalten: Sie nennen es einen "Reisepass in den Himmel", sehen darin eine "Darstellung der himmlischen Heerschaaren", schwelgen von der Gänsehaut, die es hinterlässt und fühlen sich in höchste Gefilde der himmlischen Musik enthoben.

Eine Reihe von Anekdoten rankt sich um das berühmte Chorstück. Gustav Mahler soll auf seiner Abschrift der Partitur die ursprüngliche Anweisung "für Chor, Soli und Orchester" durchgestrichen und an deren Stelle geschrieben haben: "für Engelzungen, Gottsucher, gequälte Herzen und im Feuer gereinigte Seelen!“ Für Anton Bruckner ist das "Te Deum" denn auch, wie er selbst sagte: "der Stolz seines Lebens". Er widmet es dem himmlischen Vater höchstpersönlich, indem er darüberschreibt: "Ad majorem Dei gloriam", zur höheren Ehre Gottes. "Wenn mich der liebe Gott einst zu sich ruft und fragt: 'Wo hast du die Talente, die ich dir gegeben habe?', dann halte ich ihm die Notenrolle mit meinem Te Deum hin, und er wird mir ein gnädiger Richter sein“, so überliefern es die Biografen.

Seine letzten Lebensjahre verbringt Bruckner in Wien, in einer Dienstwohnung im Oberen Schloss Belvedere. Der Kaiser höchstpersönlich hatte sie ihm auf Lebenszeit zuerkannt. Und als Bruckner spürt, dass seine Kräfte zu Ende gehen, und er seine letzte, die 9. Symphonie vielleicht nicht mehr würde vollenden können, empfiehlt er sein triumphales "Te Deum" als deren Finalsatz. Als eine Art allerletztes und endgültiges Wort des Komponisten. Ein Bekenntnis zu unerschütterlichem Gottvertrauen, geboren aus tiefer Frömmigkeit:

"Wir loben Dich, o Gott,
wir preisen Dich, o Herr,
Dir, dem ewigen Vater, huldigt das Erdenrund.
Dir rufen alle Engel, Dir Himmel und Mächte allesamt,
die Kerubim und die Serafim, mit niemals endender Stimme zu:
Heilig, heilig, heilig, der Herr, der Gott der Scharen.
Himmel und Erde sind voll von Deiner hohen Herrlichkeit.
In der ewigen Herrlichkeit zähle uns zu Deinen Heiligen
Auf Dich, o Herr, habe ich gehofft,
dass ich in Ewigkeit nicht vergehe."

Die redaktionelle Verantwortung für die Sendung hat Martin Korden.

Musik:

Anton Bruckner: Sanctus aus der Messe in e-Moll; CD: Bruckner, Te Deum; 9 Motets; Mass in E Minor; Schütz Choir of London/Philip Jones Wind Ensemble, Roger Norrington.

Anton Bruckner: Motette Locus Iste ¸CD: Bruckner, Te Deum; 9 Motets; Mass in E Minor; John Alldis Choir/ John Alldis, Decca.

Anton Bruckner: Aequale Nr. 1, WAB 114; CD: Music for brass septet; Brahms, Bruckner, Mendelssohn, Schumann; Septura, NAXOS.

Anton Bruckner, Symphony No. 6 in A Major, Wab 106 (1881), IV. Finale; CD: Anton Bruckner, The Symphonies, Organ Transcriptions, Vol 6, Hansjörg Albrecht (Organ), Oehms Classics.

Anton Bruckner, 5. Sinfonie; CD: Bruckner, Symphonie No 5, Günter Wand, NDR-Sinfonieorchester, BMG.

Anton Bruckner: Os justi, Graduale für achtstimmigen gemischten Chor a cappella; CD: Voces8. Eventide, Christian Forshaw (Saxophon e), Matthew Sharp (Cello), Lavinia Meijer (Harfe), Decca 2014.

Anton Bruckner, Motette Ave Maria; CD: Bruckner, Te Deum; 9 Motets; Mass in E Minor; John Alldis Choir/ John Alldis, Decca.

Anton Bruckner, Te Deum; CD: Bruckner, Te Deum; 9 Motets; Mass in E Minor; Wiener Staatsopernchor/Wiener Philharmoniker, Zubin Mehta; Decca.

Über den Autor Joachim Opahle

Joachim Opahle, geboren 1956, ist verheiratet und hat drei Kinder. Er studierte in Freiburg im Breisgau, in Wien, Tübingen und Bamberg Katholische Theologie und Kommunikationswissenschaften. Seit 1993 ist er im Erzbistum Berlin tätig als Leiter der kirchlichen Hörfunk- und Fernseharbeit.

Kontakt: rundfunk@erzbistumberlin.de und www.erzbistumberlin.de