"In dieser Woche habe ich dreimal die Matthäuspassion gehört, jedes Mal mit demselben Gefühl der unermesslichen Verwunderung. Wer das Christentum völlig verlernt hat, der hört es hier wirklich wie ein Evangelium." [1]
So schrieb Friedrich Nietzsche im April 1870 seinem Freund Erwin Rohde. Der Philosoph, der dem Gott der Christen unerbittlich den Kampf angesagt hatte, war berührt von der Matthäuspassion Bachs. Wie noch viele ungläubige und dem Christentum Fernstehende nach ihm bis heute. Einer von ihnen war der Philosoph Hans Blumenberg.
In seinem Spätwerk "Matthäuspassion" untersuchte er Ende der 1980er Jahre, was diese Hörer auszeichnet. Warum sie von der Matthäuspassion ergriffen werden – dieser musikalischen Darstellung der Passion des Jesus Christus, seines Leidens und Sterbens am Kreuz, wie sie vom Evangelisten Matthäus aufgeschrieben wurde – und zugleich Befremden für den christlichen Glauben empfinden. Gleich zu Beginn nennt Blumenberg den stärksten Grund dafür:
"Nichts ist für den glaubensarmen Zeitgenossen an den Voraussetzungen der Matthäuspassion widerständiger und unzugänglicher als der Gott, der zu beleidigen ist: von seinem Geschöpf und bis zur erbitterten Forderung nach einer ebenso unfaßlichen Sühne." [2]
"... daß er für uns geopfert würd, trüg unsrer Sünden schwere Bürd wohl an dem Kreuze lange."
So heißt es im Choral über Jesus nach seiner Verhaftung. Vom beleidigten Gott ist hier nicht die Rede, wohl aber vom Opfertod seines Sohnes, der Blumenberg so anstößig ist. Er ist für ihn der schärfste Ausdruck für die Widersprüchlichkeit und Ungerechtigkeit Gottes. Blumenberg treibt die alte Frage der Theodizee um, die Frage nach dem Verhältnis zwischen Gottes Güte und Allmacht und dem Elend der Welt.
Die großen Fragen nach dem Warum
Davon ausgehend, befragt er in seinem Buch Theologie, Philosophie, Literatur und Kunst zur Matthäuspassion, analysiert und kommentiert Bachs großes Werk. All dies, um Fragen und Anfragen heutiger skeptischer und eher ungläubiger Hörer zu erfassen. Aber auch, um Antworten zu suchen und herauszufinden, warum sie die Matthäuspassion trotzdem so in den Bann schlägt. Auch sie könnten der Menschwerdung Gottes und der Auslieferung seines Sohnes an die leiderfüllte Welt etwas abgewinnen, meint er vorsichtig:
"Was für den Menschen gewonnen ist, muß verständlich sein auch für den, der nicht versteht, daß er Sünder sein soll in einer Welt, die ihm nichts anderes übriggelassen hat als sich zu erhalten. Dann mag er dennoch verstehen, daß er nach der Passion einen anderen Gott als zuvor haben könnte, sofern er es wollte: einen Gott, der ihn endlich begriffen hätte und ihn die 'Folgen' der göttlichen Weltverstrickung nicht nach Art der Paradiesaustreibung allein tragen lassen will. Anders ausgedrückt: Nun wüßten sie beide, der Schöpfer und sein Geschöpf, welche Sorge der Tod in das Leben gebracht hatte." [3]
Blumenberg integriert in seine Auseinandersetzung mit der Matthäuspassion philosophische, theologische und bibelkritische Befunde. Gründlich beleuchtet er den zugrunde liegenden Text des Matthäusevangeliums, der für ihn an manchen Stellen ungelöste Spannungen und Widersprüche enthält. Umso erstaunter und auch fasziniert ist er, wie Bach damit umgegangen ist:
"Was der Text, wie es scheint, nicht beieinander halten kann, homogenisiert die Musik, die keine Logik wider sich haben kann. (…) Die Musik allein stiftet eine Identität, die im Text auch dann nicht da sein könnte, wenn der eine Evangelist mit aller Intensität des Scharfsinns auf sie geachtet hätte und nicht stattdessen so viel Heterogenes zueinander gekommen wäre." [4]
Das "Mehr" Gottes klingt mit
Bachs Musik homogenisiert nicht nur die für Blumenberg sich widerstreitenden Textstellen bei Matthäus, sie leistet weit mehr. Neben mitfühlender und inhaltlich vertiefender Anteilnahme macht sie auch die Härte des Passionsgeschehens erträglich und tröstet. So bei Jesu Ringen um die Annahme seines Sterbens im Garten Gethsemane kurz vor der Gefangennahme. Die Jünger entziehen sich dem Schrecklichen durch Schlaf. Anders die Hörer der Matthäuspassion. Blumenberg schreibt:
"Noch einmal vertieft sich der Sinn der Musik: Sie läßt das Unerträgliche ertragen und setzt an die Stelle der Gnade des Schlafes die jenen Schläfern unerreichbare Gunst ihrer Schönheit." [5]
Die Schönheit der Bachschen Musik, ihr ästhetischer Reiz, ermöglicht vielen heutigen Hörern den Zugang zur Matthäuspassion. Zugleich ist es nach Blumenberg auch die Musik, die über die Gründe für eine skeptische bis ablehnende Haltung gegenüber der Passion des Gottessohnes hinweghilft. Denn, was immer an Ablehnung und Zweifel vorgebracht werden mag, Blumenberg gesteht ein:
"Es muß um mehr gegangen sein. Dieses Mehr macht in Bachs Passion die Differenz zwischen dem Wort und der Musik aus. Läßt man den 'kanonischen' Rang des Textes auf sich beruhen, transzendiert der Ton alles, was ihm 'unterlegt' wird. Das Mehr selbst tönt in der Passion. Es zu erfassen wird immer vergeblich sein; ihm eine Fassung zu geben, mag schon ein Äußerstes erfordern, an das nur Annäherungen zu versuchen sind." [6]
Musik von Beistand, Vergebung und Menschlichkeit
Die Matthäuspassion beginnt nach dem Eingangschor und dem Beschluss der Hohepriester, Jesus gefangen nehmen und töten zu lassen, mit der Szene in Bethanien im Haus Simons des Aussätzigen. Dort gießt eine Frau wohlriechendes Öl über Jesu Kopf. Sehr zum Unwillen der Jünger, die meinen, man hätte das wertvolle Öl besser verkaufen und den Erlös den Armen geben sollen. Jesus weist sie zurecht und deutet die Handlung der Frau auf seinen bevorstehenden Tod. Sie habe ihn im Voraus gesalbt, wie die Toten gesalbt werden. Und das werde – ihr zu Ehren – in der ganzen Welt bekannt werden. Bach trug dazu auf besondere Weise bei, sagt Blumenberg:
"Die Geschichte war durch den Größten seiner Kunst endgültig zur Huldigung an sie in der ganzen Welt geworden. Sie war zur archaischen Figur des christlichen Herzens geworden, dem Bach im folgenden Rezitativ zu sagen gibt, es wolle gegen die streitenden Jünger die Partei des Weibes ergreifen: So lasse mir inzwischen zu, / Von meiner Augen Tränenflüssen / Ein Wasser auf dein Haupt zu gießen!" [7]
Neben der Frau stehen in der Bethanienszene die über sie unwilligen, unverständigen Jünger. Sie wollen das bevorstehende Leiden Jesu nicht annehmen, sie verstehen es nicht. Überhaupt verstehen sie oft nicht, worum es Jesus geht. In diesem permanenten Unverständnis der Jünger sieht Blumenberg so etwas wie das komische Element in der Tragödie der Passion. Gerade Petrus liefert hierfür manchen Anhaltspunkt mit seinem oft voreiligen und prahlerischen Agieren bis hin zur Gefangennahme, wo er einem Knecht des Hohepriesters ein Ohr abschlägt, danach aber wie alle anderen flieht und Jesus schließlich dreimal verleugnet. Aber Blumenberg fragt:
"Warum erschüttert uns sein falscher Schwur. Ich kenne des Menschen nicht, wenn wir doch wissen, wie wenig er für seine großen Worte einstehen konnte, da auch er nicht wußte, worum es ging. Für ihn wie für den Gläubigen hat Bach den Trost des Chorals: Bin ich gleich von dir gewichen, / Stell ich mich doch wieder ein … Warum sollte zu solcher Treuherzigkeit der verspätete Hörer nicht lächeln dürfen?" [8]
Die Jünger in ihrem Schwanken stehen auch für die Gläubigen und ihre Verhaltensweisen. Sie werden ihnen bei Bach zugleich als Mahnung vor Augen gestellt, dass sie so nicht nur der eigenen Seele schaden, sondern auch Teil haben am Leiden Jesu. Zugleich werden sie anhand der Jünger getröstet in ihrem eigenen Schwanken und in ihren Glaubenszweifeln. Im Choral, der auf Petrus’ Verleugnung folgt, heißt es mitfühlend mit dessen Reue: "Bin ich gleich von dir gewichen, stell ich mich doch wieder ein."
Das sagt gewissermaßen an seiner Stelle die gläubige Seele und auch zu ihrem Trost wird es gesungen. Der Zuspruch durch das Beispiel der Jünger gilt nicht für Judas. Auch, nachdem er, erschüttert über das, was sein Verrat ausgelöst hat, die dreißig Silberlinge zurückgibt und sich darauf erhängt. Blumenberg erklärt:
"Die 'Aria' fordert, ohne jede Identifikation mit dem reuig Selbsterhängten, vom Rat der Hohenpriester den Ausgelieferten zurück, als sei der Pakt durch Rückgabe des Blutgeldes hinfällig und Wiederherstellung des vorigen Zustandes zu verlangen: Gebt mir meinen Jesum wieder! / Seht das Geld, den Mörderlohn, / wirft euch der verlorne Sohn / Zu den Füßen nieder. / Gebt mir meinen Jesum wieder! Was Judas nicht gefordert hatte, der nur sein Unrecht beteuerte, das klagt der Sänger ein." [9]
Klingt da nicht doch so etwas wie Mitgefühl mit Judas an, von dem Jesus im Evangelium nach Matthäus und der Passion von Bach das unerbittliche Wort sagt, es wäre besser für ihn, nicht geboren zu sein? Das Verhalten der Jünger jedenfalls – gerade ihr Schwanken, ihr Unverständnis gegenüber Jesus – ermöglicht es nach Blumenberg für skeptische Hörer wie ihn, die Passion in ihrer ganzen Härte als eine Provokation ernstzunehmen. Das hat Bach, findet er, nicht durchgängig getan. Vor allem in der Gethsemane-Szene nicht, in der Jesus mit seinem göttlichen Vater darum ringt, seinem Leiden entgehen zu können und schließlich einwilligt.
"Die Gethsemane-Szene ist die inhaltlich wie musikalisch schwächste der Matthäuspassion. Der Heiland fällt vor seinem Vater nieder …, setzt der Baß zum Rezitativ ein, nachdem der Evangelist die erste der drei Unterwerfungen unter den Vaterwillen berichtet hat. Da könnte die meditierend-auslegende Komposition das große Drama entwickeln, das sich unmittelbar vor dem Eintritt in die Passion abspielt und nicht weniger als die Einwilligung in die Gefangennehmung zum Ende hat. (…) Leichtfüßig wendet sich der Baß im Rezitativ mit Blick auf die Gefolgstreue des gläubigen Hörers, den er vertritt: Gerne will ich mich bequemen, / Kreuz und Becher anzunehmen, / Trink ich doch dem Heiland nach. So bläßlich ist kein anderer Topos der imitatio Christi in der ganzen Passion." [10]
Hatte Gott Jesus verlassen?
Nach Blumenbergs Ansicht ist das Aufbäumen Jesu gegen sein Geschick von den Theologen und den Christen bisher nicht ernstgenommen geworden. Das sieht er auch für Bachs Passionsmusik so. Jesus, der in Gethsemane sich fügt, stößt am Kreuz den Ruf aus: "Mein Gott, warum hast du mich verlassen?" Für Blumenberg ist er das Scheitern Gottes, der sich in Jesus selbst verlässt. Nachdem er dem Menschen im Paradies verwehrt habe, ihn zu erkennen und ewig zu leben.
Nachdem er ihm das ewige Leben genommen und ihn dem Tod und den Leiden in der Welt ausgeliefert und ihn so zum Sünder gemacht habe, wie Blumenberg in Umkehrung der christlichen Lehre behauptet. Zum Ausgleich für den Mangel seiner Schöpfung und zur Wiederherstellung seiner eigenen Würde habe Gott das menschliche Geschick angenommen und die Passion seines Sohnes veranlasst. Und das sei ihm fehlgeschlagen.
Bach liest die Geschichte anders. Er lässt Jesu Ruf die Bitte um Beistand im Sterben nach einem Gedicht Paul Gerhardts folgen. Und unmittelbar zuvor beklagt ein Alt-Rezitativ die grausige Stätte der Hinrichtung mit den Worten: "Ach Golgatha, unselges Golgatha."
Blumenberg stellt sich der Grausamkeit der Passion Jesu. Anders als Rilke, einer der Schriftsteller, auf die er in seinem Buch Bezug nimmt. Rilke hatte die Matthäuspassion im März 1920 im Baseler Münster gehört. In Furcht vor der Drastik und Tiefe des Leidens Jesu empfand er die Musik vor der Verurteilung zur Kreuzigung wie eine Schonfrist für den Hörer. Nachdem Pilatus die Menge gefragt hat, was Jesus Böses getan habe, fügt Bach vor dem nochmaligen Ruf "Kreuzige ihn!" ein Rezitativ ein, in dem gewissermaßen der Gläubige singt: "Er hat uns allen wohlgetan … Sonst hat mein Jesus nichts getan." Blumenberg merkt an:
"Von diesem Aufenthalt schreibt Rilke, als sei es die Gnadenfrist seiner Empfindung, da sei man in einem Musik-Thal von solcher Milde des Klima’s, daß, drin noch verweilen zu müssen, fast über die Kraft geht, wo man doch nichts als Härten und Schrecknisse vor sich sieht, bis zu jenem steilen Gipfel im ewigen Schnee des Opfers. Man sieht, wie das Dilemma des Hörers darin besteht, daß er zu genau weiß, was auf ihn zukommt." [11]
Bach lässt seine Hörer nicht mit der Kälte des Leidens des Gottessohnes, dem "ewigen Schnee des Opfers", wie es Rilke ausgedrückt hatte, zurück. Für die Leipziger Gottesdienstgemeinde zu seiner Zeit folgte einer nur kurzen liturgischen Trauerphase zwei Tage darauf schon Bachs Osterjubel. Aber auch die Hörer der Passion – damals wie heute – werden von ihm nicht mit dem elenden Tod Jesu zurückgelassen. Das darüber Hinausreichende, das "Mehr", das auch Blumenberg finden wollte und wohl auch in Ansätzen empfunden hat, drückt am Ende der Matthäuspassion der zu Herzen gehende Klagegesang der gläubigen Seele aus:
Diesem wehmütigen "Mein Jesu, gute Nacht!" folgt der abschließende Klagesang der gläubigen Gemeinde. Der Philosoph Hans Blumenberg sah darin eine Erleichterung, einen Trost nach den durchlittenen Schrecken. Trotz seiner scharfsinnigen und unerbittlichen Durchleuchtung der Passion und seiner Fassung durch Bach, trotz all seiner Fragen und all seiner Skepsis mag es ihm mit der Matthäuspassion ähnlich gegangen sein wie dem Bachspezialisten John Eliot Gardiner mit Bach allgemein, von dem der Dirigent und Chorleiter sagte:
"Von meinem Kopf her bin ich definitiv ein Atheist, aber ich sage das nicht laut, denn wenn ich mir Bach anschaue, dann kann ich einfach kein Atheist sein. Dann muss ich einfach akzeptieren, was der Glaube für ihn bedeutet hat. Seine Musik ist ein einziges nicht endendes Gebet."
Die redaktionelle Verantwortung für die Sendung hat Martin Korden.
Musik:
J. S. Bach: Matthäuspassion, Instrumentaleinstieg
J. S. Bach: Matthäuspassion, 29. Choral: O Mensch, bewein dein Sünde groß
J. S. Bach: Matthäuspassion: 20. Chor und Arie: Ich will bei meinem Jesu wachen
J. S. Bach: Matthäuspassion, 5. Rezitativ: Du lieber Heiland du
J. S. Bach: Matthäuspassion, 40. Choral: Bin ich gleich von dir gewichen
J. S. Bach: Matthäuspassion, 42. Arie: Gebt mir meinen Jesum wieder!
J. S. Bach: Matthäuspassion, 59. Rezitativ: Ach Golgatha, unselges Golgatha
J. S. Bach: Matthäuspassion, 48. Rezitativ: Er hat uns allen wohlgetan
J. S. Bach: Matthäuspassion, 67. Chor und Rezitativ: Nun ist der Herr zur Ruh gebracht
J. S. Bach: Matthäuspassion, 68. Chor: Wir setzen uns mit Tränen nieder
[1] aus Nietzsches Brief an Erwin Rohde vom 30. April 1870
[2] aus Hans Blumenberg: Matthäuspassion, Ss. 14 - 15
[3] aus Hans Blumenberg: Matthäuspassion, Ss. 127 - 128
[4] aus Hans Blumenberg: Matthäuspassion, Ss. 46 - 48
[5] aus Hans Blumenberg: Matthäuspassion, S. 48
[6] aus Hans Blumenberg: Matthäuspassion, S. 48
[7] aus Hans Blumenberg: Matthäuspassion, S. 154
[8] aus Hans Blumenberg: Matthäuspassion, S. 154
[9] aus Hans Blumenberg: Matthäuspassion, S. 183
[10] aus Hans Blumenberg: Matthäuspassion, S. 195
[11] aus Hans Blumenberg: Matthäuspassion, S. 183