Die Barockbildhauer gaben ihm ein aufdringlich verzücktes Puppengesicht. Armer Johannes Ciudad Duarte, wie er mit seinem portugiesischen Taufnamen hieß. Juan de Dios, Johannes von Gott, nannte man ihn später in Spanien.
Er war alles andere als ein geborener Heiliger. 44 Jahre lang führte er ein wildes Abenteurerleben, bis ihn eine blitzartige religiöse Erfahrung buchstäblich umwarf. Er sammelte Gefährten um sich, holte Schwerkranke und Arme, um die sich keiner kümmerte, von der Straße, gründete aus dem Nichts ein Hospiz, das die ganze europäische Krankenhausgesellschaft revolutionierte. Und so nebenbei entstand ein Orden: die Barmherzigen Brüder. Doch bis dahin, war es ein weiter Weg.
Im schwachen Licht des Mondes schleicht sich ein kleiner Junge aus dem Haus seiner Eltern, ein Bündel mit Proviant und Wäsche in der Hand. Auf Zehenspitzen tappt er am Ziegenstall vorbei, huscht zum nahen Wald und freut sich auf die weite Welt, die er jetzt gleich entdecken wird.
Das ist tatsächlich geschehen, um die Wende zum 16. Jahrhundert im portugiesischen Landstädtchen Montemar-o-Novo. Während draußen auf den Weltmeeren Kolumbus eher durch Zufall Amerika entdeckte und Vasco da Gama den Seeweg nach Indien fand, wollte der achtjährige Juan seinen Anteil an der Abenteuerlust der Epoche haben. Bei Nacht und Nebel riss er von zu Hause aus, verließ Montemar, wo die Eltern eine kleine Obsthandlung betrieben, und gelangte irgendwie nach Spanien. Am Ende der Irrfahrt stand im spanischen Oropesa wirklich ein Grafenschloss. Doch statt der erhofften Abenteuer und Reichtümer fand Juan hier nur ein paar Schafe und Ziegen, die er für den Grafen hüten durfte.
Bitter enttäuscht, ließ er sich im Krieg gegen französische Invasionstruppen als Söldner anwerben – einer der größten Fehler seines Lebens, wie sein erster Biograf Francisco de Castro mit erhobenem Zeigefinger feststellt:
"Erfasst vom Verlangen, die Welt zu sehen und jene Freiheit zu genießen, die sich gewöhnlich jene nehmen, die in den Krieg ziehen, indem sie mit losem Zügel auf dem breiten, aber bitteren Weg der Laster dahineilen, begegnete Johannes vielen Schwierigkeiten und sah sich inmitten zahlreicher Gefahren."
Gleich zu Beginn seines militärischen Intermezzos zog er sich böse Verletzungen zu, als ihn ein gerade konfisziertes französisches Pferd abwarf. Wieder genesen, wäre er um ein Haar an irgendeinem Baum aufgeknüpft worden, weil er einen erbeuteten Juwelenschatz hätte bewachen sollen und der Schatz plötzlich verschwunden war. Juan, der Träumer, hatte nicht aufgepasst. – Mit knapper Not war er dem Tod entronnen. Wie der Biograf vermerkt, ging Juan in sich und fand ein ruhiges Leben plötzlich gar nicht mehr so langweilig:
"Als Johannes sich bewusst wurde, in welche Gefahr er sein Leben gebracht hatte, und merkte, wie schlecht die Welt die belohnt, die ihr folgen, entschloss er sich, nach Oropesa zu seinem Herrn zurückzukehren und wieder das geruhsame Leben eines Hirten zu führen, wie er es vorher getan hatte; das schien ihm viel sicherer als der Krieg. Sein Herr freute sich sehr über das Wiedersehen, denn er liebte Johannes wie einen Sohn."
Nach vier Jahren war es vorbei mit dieser beschaulichen Existenz. Juans geliebter Padrone zog 1532 mit Kaiser Karl V. nach Ungarn, um den Vormarsch des Sultans Soliman auf Budapest und Wien aufzuhalten. Da konnte den heißblütigen Juan nichts mehr im idyllischen Oropesa halten. Der Feldzug war erfolgreich, die Türken zogen sich zurück und auch die kaiserlichen Truppen kehrten heim in ihre Länder, aber Juan hatte wieder einmal den Geschmack des Abenteuers erfahren. Dass ihn damals schon die Sehnsucht nach einem Leben voll frommer Spiritualität und tätiger Nächstenliebe umtrieb, dürfte dem Wunschdenken des Biografen entsprechen:
"Johannes sagte, er leide sehr darunter, dass im Haus des Grafen von Oropesa die Pferde wohlgenährt, glänzend herausgeputzt und in warme Decken gehüllt im Stall stünden, während die Armen schwach, nackt und der schlechten Behandlung ihrer Mitmenschen ausgesetzt seien. Deshalb sagte er sich selbst: 'Johannes, wäre es nicht besser, du würdest die Armen Jesu Christi nähren und pflegen?' Dann seufzte er und rief aus: 'Gott gebe, dass ich dies eines Tages tun kann!"
Ein klassisches Stück Heiligenlegende. Um die Armen und Kranken machte Juan de Dios damals noch einen großen Bogen. Stattdessen begann er ein unstetes Wanderleben.
Andalusien, Nordafrika, Portugal. Juan schlug sich als Hirte und Viehhändler durch und als Hilfsarbeiter beim Festungsbau der Portugiesen an der nordafrikanischen Küste. Schließlich finden wir ihn als Hausierer und Buchhändler im zauberhaften Granada, der von islamischer Kunst und religiöser Toleranz geprägten einstigen Hauptstadt der Maurenherrschaft in Spanien.
Die sogenannten "katholischen Könige" Ferdinand und Isabella haben die Stadt gerade erst, nach 800 Jahren, von den Mauren zurückerobert. Juan verkauft in seinem kleinen Laden andalusische Liebeslieder, aber auch eine Sammlung frommer Legenden mit dem schönen Titel "Flores de los santos", "Blüten der Heiligen".
Am 20. Januar 1539 – Juan steht im 44. Lebensjahr – dann das Schlüsselerlebnis: Der Reformprediger Johannes von Ávila, ein Feuerkopf mit Charisma und psychologischem Talent, spricht in Granada über Leben und Martyrium des heiligen Sebastian. Juan ist wie vom Donner gerührt. Das ist es, was einem Menschenleben Sinn zu geben vermag und jede Enttäuschung, ja den Tod überdauert: Sich radikal auf die Kraft einlassen, die den Erdball trägt. Alles auf die Karte Gottes setzen und ein Stück von seiner Güte an Menschen weitergeben, die an ihrer Verzweiflung ersticken.
Juan rennt wie von Sinnen aus der Kapelle, weint vor Scham und Reue und Freude zugleich, wälzt sich auf dem Boden, sprudelt seine Schuld und seinen Glauben heraus und hört nicht auf, sich wie ein Rasender zu gebärden. Am Ende landet er in der geschlossenen Abteilung für Geisteskranke im Königlichen Hospital.
Dort in der Anstalt verbringt er ein überaus fruchtbares halbes Jahr. Psychisch Kranke und geistig Behinderte „behandelte“ man zu jenen Zeiten, indem man sie in Dunkelzellen ankettete und regelmäßig tüchtig durchpeitschte. Keine Gespräche, keine Medikamente, keine menschliche Zuwendung. Juan nahm sich vor, das zu ändern. Wie, das wusste er noch nicht. Nach einem halben Jahr aus dieser Hölle entlassen, schloss er sich den Bettlern an. Er begann gesammeltes Holz zu verhökern und bei den Vornehmen betteln zu gehen. Vom Erlös kaufte er Essen für klapperdürre Greise. Viele in Granada hielten ihn für übergeschnappt. Eine fromme Adelsfamilie aber ließ ihn in ihrem Hausgang übernachten und duldete es, dass er ihnen immer mehr Habenichtse und Schwerkranke ins Haus schleppte.
Noch im selben Jahr 1539 gelang es Juan, im wenig vornehmen Fischhändlerviertel von Granada ein bescheidenes zweistöckiges Haus zu mieten und hier ein Konkurrenzunternehmen zum Königlichen Hospital zu etablieren. Die Inneneinrichtung bestand zunächst nur aus Rohrmatten und zusammengebettelten Decken, aber bald galt die armselige Anstalt als Modellprojekt, das die gesamte europäische Krankenhauslandschaft prägen und verändern sollte.
Das lag einmal am hier herrschenden Geist: Respekt vor der Menschenwürde auch der heruntergekommensten Elendsgestalt und liebevolle Zuwendung zu jedem einzelnen Patienten. Zum andern hatte man bisher Fieberkranke und Frischoperierte, dahinsiechende Alte und Unfallopfer, Lungenleidende und von Krätze oder Läusen Befallene in denselben überfüllten Sälen zusammengepfercht. Johannes verteilte seine Patienten auf verschiedene Abteilungen und gab – was ebenfalls eine unerhörte Neuerung war – jedem Kranken ein eigenes Bett. Neu war außerdem der, wie man heute sagen würde, psychosomatische Ansatz: Körper, Geist und Seele bilden eine Einheit, Ziel der Behandlung ist die Heilung des ganzen Menschen und das Gespräch über Lebensumstände oder Seelenängste deshalb genauso wichtig wie eine gute Medizin.
Die Leute wussten nicht, worüber sie mehr staunen sollten: über die neuartigen Behandlungsgrundsätze in dem winzigen Krankenhaus oder über seinen Leiter, der todkranke Bettler von Kirchentreppen und Straßenecken aufklaubte, die nicht gehfähigen Patienten auf seinen Schultern ins Spital schleppte und den halben Tag durch Granada lief, mit einem Korb auf dem Buckel und zwei Töpfen, die er an einer Stange über den Schultern balancierte, um Lebensmittel für seine Kranken bittend.
Juan war Heimleiter, Krankenpfleger, Hausmeister, Koch und Putzkommando in einer Person. Zu Juans Helferteam zählten ein angesehener Kaufmann, ein mystisch angehauchter Eremit, aber auch ein gefürchteter Zuhälter und ein weiterer Gewalttäter, der dessen Bruder ermordet hatte. Juan gelang es, dem Zuhälter die übliche Blutrache am Mörder seines Bruders auszureden und ihn zum Aussteigen aus seinem Gewerbe zu bewegen. Mit dem Effekt, dass sich auch der genannte Mörder später erschüttert zu Juans Jüngerkreis gesellte.
Sie alle, sollten in den folgenden Jahren zur Ordensgemeinschaft der Barmherzigen Brüder werden. Was sie vereinte, war eine ausgeprägte Wahrnehmungsgabe für fremde Not und die Überzeugung, dass jeder Mensch, und sei er noch so entstellt, ausgebrannt oder kaputt, Gottes Bild in sich trägt. Deshalb wurde in Juans Spitälern niemand abgewiesen. Obdachlose holte Juan von der Straße, Prostituierten half er beim Aussteigen, indem er sie bei ihren gewalttätigen Beschützern freikaufte und ihnen solide Arbeit vermittelte, manchmal auch einen Ehemann.
Für geistig behinderte Menschen richtete er in seinem Spital eine eigene Abteilung ein und setzte sich an ihre Betten, redete ihnen sanft zu und horchte auf ihr oft unverständliches Sprechen. In der Folgezeit übernahmen die Spitäler der Barmherzigen Brüder mit ihren einfühlsamen Behandlungsmethoden und pflanzlichen Beruhigungspräparaten eine Vorreiterrolle in der Therapie psychisch Kranker, vor allem in Frankreich.
In Granada spottete man längst nicht mehr über Juan, sondern verehrte ihn wie einen Heiligen. Juans Kräfte aber waren erschöpft. Beim Versuch, einen Jungen aus dem Hochwasser des Flusses Genil zu retten, holte er sich eine Erkältung, mit der sein von der Herkulesarbeit der letzten Jahre geschwächter Körper nicht mehr fertig wurde. Am 8. März 1550 starb er 55-jährig.
Die Barmherzigen Brüder errichteten in den folgenden Jahren weitere Krankenhäuser in Granada und auch eines in Madrid. Einen Orden hatte Johannes von Gott eigentlich nicht gründen wollen, doch 1571 gab Papst Pius V. den Barmherzigen Brüdern die kirchliche Anerkennung – und die bewährte Regel des heiligen Augustinus aus dem vierten Jahrhundert.
Die beginnt so, als hätte Juan selbst sie geschrieben.
"Das erste Ziel eures gemeinschaftlichen Lebens ist, in Eintracht zusammenzuwohnen und ‚ein Herz und eine Seele‘ auf Gott hin zu sein. (…) Und ehrt in euch gegenseitig Gott, dessen Tempel ihr geworden seid."
Was war das für ein Mensch, dieser Juan de Dios – Johannes von Gott, verliebt in die Armen und Elenden dieser Erde und voller Sehnsucht nach Gott? Er hat kein Tagebuch geschrieben, keine Predigten oder programmatischen Reden sind überliefert, nur ein paar Briefe ziemlich gewöhnlichen Inhalts. Wenn man genau hinschaut, offenbaren die wenigen Zeilen dennoch eine faszinierende Spiritualität:
"Ich, Johannes von Gott,"
– so unterschreibt er einen Brief an den jungen Luis Bautista, der sich für den Hospitalorden interessiert.
"Ich, Johannes von Gott, der geringste von allen Brüdern, der, wenn Gott es will, im Sterben liegen, immer aber schweigen und auf Gott vertrauen möchte als ein Sklave unseres Herrn Jesus Christus, eifrig bedacht, ihm zu dienen. Amen, Jesus."
So viel Demut klingt fast wie Selbsthass. Bei Juan steckt jedoch eine ausgesprochen reflektierte, verantwortungsbewusste Haltung dahinter. Er hütet sich vor überstürzten Einschätzungen und forschen Kommandos, ist behutsam in seinem Urteil, wartet Entwicklungen ab, trifft seine Entscheidungen lieber zögerlich als vorschnell.
Der junge Luis Bautista soll Gelegenheit bekommen, sich vor einem Eintritt in Juans Gemeinschaft erst einmal gründlich zu prüfen. Juan hat die Größe, dem Kandidaten seine eigenen inneren Unsicherheiten zu offenbaren:
"Ich weiß, wie schwach Ihr oft seid, besonders was den Umgang mit Frauen betrifft. Und so bin ich nicht sicher, ob es gut sein wird, Euch hierher zu holen. Wenn Ihr es jetzt noch vorzieht, ein wenig auf der Suche nach Abenteuern in die Welt hinauszufahren, dann tut das, was Gott Euch eingibt. Aber unterlasst es nicht, mir zu schreiben."
"Wenn Ihr hierher kommt, habt Ihr viel zu gehorchen und Euch aufzureiben, um die Armen und Kranken zu heilen."
"Mir als ein Mann ohne Halt kommen häufig Zweifel, denn wir sind alle beide so, dass wir nicht wissen, was wir tun sollen, weder Ihr noch ich. Gott ist der Wissende. Er gebe uns Hilfe und Rat."
Augustinus hatte in seiner Regel, auf die der Papst die Barmherzigen Brüder verpflichtete, geschrieben:
"Das erste Ziel eures gemeinschaftlichen Lebens ist, in Eintracht zusammenzuwohnen und 'ein Herz und eine Seele' auf Gott hin zu sein."
Johannes von Gott formulierte es ganz ähnlich:
"Liebt unseren Herrn Jesus Christus über alles auf der Welt, denn wieviel Ihr ihn auch liebt, ER liebt Euch mehr. Bleibt immer in der Liebe, denn wo keine Liebe herrscht, ist Gott nicht."
Jeder Barmherzige Bruder verspricht den sogenannten evangelischen Räten zu folgen: Armut, Keuschheit und Gehorsam. Ein viertes ganz spezielles Gelübde kommt dazu: die Hospitalität. Was das heißt, erklären die Ordensstatuten in ihrer aktuellen Fassung so:
"Wo immer Menschen leben, denen es an Speise und Trank, an Kleidung, an Wohnung und Medikamenten fehlt, wo Menschen von Drangsal und Krankheit gequält werden, da ist es Aufgabe der Barmherzigen Brüder, Hilfe und Trost zu schenken."
"Wir müssen im Nächsten (…) unseren Herrn Jesus Christus sehen, dem alles getan wird, was wir für die Kranken und Hilfsbedürftigen tun."
Konkret heißt das: einen wachen Blick für die Nöte und Bedürfnisse der Menschen haben, der zur Verantwortung und zum Handeln führt. Ganzheitliche Betreuung der Armen und Kranken nach den Maßstäben des Evangeliums, in Barmherzigkeit und Liebe. Was über dem Eingang von Juans erster Wirkungsstätte steht, der Casa de los Toros in Granada, das gilt noch heute:
"El corazon manda!"
"Das Herz befehle!"
36 Jahre nach Juans Tod erhob Papst Sixtus V. die Gemeinschaft seiner Freunde und Nachahmer zum Orden der "Barmherzigen Brüder". Knapp 1000 sind es heute, in allen Erdteilen, in 52 Ländern der Erde, Krankenpfleger, Heilerzieher, medizinisch-technische Assistenten, die in schlichten klösterlichen Gemeinschaften zusammenleben. Außer in der Kranken- und Altenpflege sind sie in der Obdachlosenfürsorge und der Behindertenhilfe tätig, in letzter Zeit verstärkt auch in Palliativmedizin und Hospizarbeit. Der verhältnismäßig kleine Orden beschäftigt in seinen Einrichtungen weltweit mehr als 65 000 Mitarbeiter und Angestellte.
Dabei soll gerade heute weiter der alte Grundsatz gelten: alle Patienten aufzunehmen, auch die, die kein lukratives Geschäft versprechen. Die Barmherzigen Brüder sehen sich mehr denn je dazu verpflichtet, diesen Unterschied spürbar zu machen: Nicht die Aktionäre sollen bedient werden, sondern der bedürftige Mensch. Und wenn man den Barmherzigen Brüdern begegnet, auch wenn es nur wenige sind, sollen die Werte spürbar werden, denen sie verpflichtet sind. Es sind die Werte, die ein humanes Gesundheitswesen von heute prägen sollten.
Die redaktionelle Verantwortung für die Sendung hat Martin Korden.
Musik:
Ennio Morricone – Brothers
Ennio Morricone – Carlotta
Nicolo Spera – Suite compostelana: VI. Muneira
Ennio Morricone – Gabriels Oboe
Ennio Morricone - Refusal
Nicolo Spera – Suite compostelana: II. Choral
John Williams – La Catedral
John Williams – Medley or Four Pieces
John Williams – Valse No. 3