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Wenn Gott schweigen soll – Heinrich Böll, Romano Guardini und der Atheismus

Feiertag, 04.02.2024

von Guido Erbrich

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Es war eine einfache Mail, die in mein Postfach flatterte. Im Anhang ein Text: "Jenes höhere Wesen, das wir verehren". Ein kleiner Essay zu dem bekannten Buch Heinrich Bölls: "Dr. Murkes gesammelten Schweigen". Geschrieben hat ihn Thomas Brose, Professor und Philosoph in Berlin. Vor über 30 Jahren haben wir zusammen in Erfurt Theologie studiert.

Als ich ihn ein paar Wochen später zufällig treffe, kommen wir ins Gespräch und landen schnell bei Böll und Dr. Murke. Das Buch, genauer gesagt: Das Hörspiel zum Buch, gehört zu Thomas Broses Favoriten. "Was fehlt, wenn Gott fehlt" – ist die zentrale Frage in der Satire von Heinrich Böll. Und es ist auch die Frage von Romano Guardini, dem großen katholischen Denker des 20. Jahrhunderts.

Guardini und Böll – wie geht das denn zusammen? Gut, beide sind Katholiken. Beide sind kritisch und weltoffen. Aber da muss mehr dahinterstecken. Ich will herausfinden, was die Gottesfrage im 20. Jahrhundert mit zwei so aufgeklärten Geistern – und Christen – wie Romano Guardini und Heinrich Böll macht. Und die Antwort kann uns vielleicht Thomas Brose liefern. Doch bevor wir gleich ins Gespräch kommen lassen wir einfach Dr. Murke mal in den Paternoster steigen:

"Jeden Morgen, wenn er das Funkhaus betreten hatte, unterzog sich Murke einer existentiellen Turnübung. Er sprang in den Paternoster-Aufzug, stieg aber nicht im zweiten Stock, da wo sein Büro lag, aus, sondern ließ sich höher tragen. Am dritten, am vierten, am fünften Stockwerk vorbei. Und jedes Mal befiel ihn die Angst, wenn die Plattform der Aufzugskabine sich über den Flur des fünften Stockwerks hinweg erhob, die Kabine sich knirschend in den Leerraum schob, verölte Ketten, mit Fett beschmierte Stangen, ächtzendes Eisenwerk die Kabine aus der Aufwärts- in die Abwärtsbewegung schob. Und Murke starrte voller Angst auf diese einzige unverputzte Stelle des Funkhauses."

Thomas, Du hast Dir gewünscht, dass wir am Beginn der Sendung den Paternoster fahren lassen. Warum? Ich finde: Schon das Wort "Paternoster" klingt besonders. Es verweist auf das lateinische Vaterunser-Gebet – und ich finde es toll, wenn man damit eine Bewegung verbindet – aufwärts oder abwärts. Und dann die Geräusche! Das Knacken des Holzes, das Ächzen der Ketten und Gestänge. Auf manche Menschen macht der Paternoster deshalb einen gefährlichen Eindruck. Wer sich nicht auskennt, kommt schnell auf den Gedanken: Kippe ich oben vielleicht um? Murke braucht jeden Morgen diese kleine Angst – so "wie andere ihren Kaffee", heißt es bei Böll.

Böll macht gleich zu Beginn des Buches etwas Unerwartetes: Er lässt Murke an dem Tag, an dem das Hörspiel beginnt, nicht seine gewohnte Paternosterrunde drehen. Er ist wohl knapp dran und steigt gleich beim Studio aus. Dort wartet schon ein Techniker auf ihn mit einer ganz besonderen Aufgabe:

"Morgen! Der Paternoster stecken geblieben? Nee,. Können wir anfangen? Klar! Habe das Band schon aufgelegt. Bur-Malottke, über das Wesen der Kunst. Teil 1. Worum gehts da? Hörn wirmal rein: 'Wo immer, wie immer, warum immer wir das Gespräch über das Wesen der Kunst beginnen, müssen wir zuerst auf Gott blicken; müssen uns in Ehrfurcht vor Gott beugen und müssen die Kunst dankbar als ein Geschenk Gottes annehmen. Falsch! Jetzt bin ich aber gespannt... Überall wo Bur-Mallotke Gott sagt, schneiden wir das Wort Gott heraus und setzen Gelbbänder."

In der Zeit, in der das Hörspiel spielt, wurde noch mit Tonbändern gearbeitet. Große Rollen, die über Bandmaschinen liefen. Mit einer Schere ließen sich Worte, Sätze, ganze Passagen oder kleinste Atemgeräusche herausschneiden. Und sehr oft zu lange Pausen. Das Band wurde dann mit einem speziellen Klebeband wieder zusammengeklebt. So gab es viele große und kleine Schnipsel, die zumeist im Papierkorb landeten.

Der Redakteur Murke macht bei Böll eine wichtige Ausnahme. Er interessiert sich nämlich für Schnipsel mit Schweigen. Die wirft er nicht weg, sondern sammelt sie sorgfältig. Zu Hause hört er sich diese Sprechpausen dann an – als Kontrast zum Geschwätz des Tages. Die Techniker kennen Murkes Vorliebe. Wenn Sie ihm eine besondere Freude machen wollen, dann schenken sie ihm Schnipsel mit Schweigen.

Und nun sollen sie, also Murke und der Tontechniker, das Wort "Gott" aus dem Vortrag schneiden. Aber Warum? Der Intendant erklärt es ihnen:

"Es geht um die vorgesehene Wiederholung der beiden Vorträge über das Wesen der Kunst. Professor Bur-Malottke hat, wie sie sicher wissen, in der religiösen Begeisterung des Jahres 1945 konvertiert. Nun sind ihm über Nacht, wie er sagte, Bedenken gekommen, an der religiösen Überlagerung des Rundfunks mitschuldig zu sein. Deshalb hat er sich entschlossen, das Wort Gott, den er in seinen Vorträgen oft zitiert hat, durch die Formulierung 'Jenes höhere Wesen, das wir verehren' zu ersetzen. Er hat darum gebeten, Gott aus den Vorträgen herauszuschneiden und 'Jenes höhere Wesen, das wir verehren' ... ähm ... hineinzukleben."

Heinrich Bölls Geschichte – das ist großes Kino. Es geht um existentielle Fragen: Wie sollen wir als Menschen leben? Angepasst oder nonkonformistisch? In dem Studio, wo der junge, sympathische Redakteur mit dem berühmten Bur-Malottke zusammentrifft, findet ja ein regelrechter Kampf statt. Der Großschriftsteller spürt: Mit dem Wort "Gott" kann man keinen Blumentopf mehr gewinnen. Darum setzt er auf eine Masche, die ihm vor und nach 1945 geholfen hat: auf Anpassung und Sprachopportunismus. Böll ärgert das maßlos. Aber spitzbübisch bringt er auf unterschiedlichste Weise immer wieder Gott ins Spiel.

"Wie oft kommt Gott denn eigentlich vor? Zwei Dutzend Mal, mindestens. Oh Gott! ..."

Macht sich hier für Böll Gott einen Spaß in der Geschichte? Denn es scheint gar nicht so leicht, ihn aus dem Programm zu verbannen:

"Herr Professor, in den beiden Vorträgen kommt Gott genau 27 Mal vor. Ich muss Sie also bitten, 27 Mal das zu sprechen, was wir einkleben sollen. Wir wären Ihnen dankbar, wenn wir Sie bitten dürften, es 35 Mal zu sprechen, da wir eine gewisse Reserve beim Kleben werden brauchen können. Ja, genehmigt! Eine Schwierigkeit allerdings ist folgende: Bei dem Wort Gott, so ist es in Ihrem Vortrag, wird abgesehen vom Genetiv der kasuale Bezug nicht deutlich, bei 'jenem höheren Wesen, das wir verehren' muss er aber deutlich gemacht werden. Wir haben insgesamt nötig 10 Nominative, 5 Akkusative, 15 Mal also 'Jenes höhere Wesen, das wir verehren'. dann 7 Genitive, also. 'Jenes höheren Wesens, das wir verehren', 5 Dative, also 'Jenem höheren Wesen, das wir verehren'. Bleibt noch ein Vokativ, die Stelle wo Sie 'oh Gott' sagen. Ich erlaube mir, ihnen vorzuschlagen, dass wirs beim Vokativ belassen und Sie sprechen: 'Oh du höheres Wesen, das wir verehren'. Gut! Gut! Die Kasualverschiebung habe ich selbstverständlich auch schon bedacht. Dann gibt es noch ein kleines Problem, Herr Professor: Insgesamt werden für die 27 neugesprochenen Sätze 80 Sekunden benötigt. Während 27 Mal 'Gott' nur 20 Sekunden Sprechzeit erforderte. Wir müssen also, zugunsten Ihrer Veränderung, aus jedem Vortrag eine halbe Minute kürzen... Aber geschnitten haben Sie schon? Ja, hier bitte! Ich rauche nicht! In dieser Zigarettenschachtel haben wir 27 Mal 'Gott' gesammelt, von Ihnen gesprochen. Wollen Sie die haben? Nein danke!"

Dass im Schweigen Gott vernehmbar wird, hat auch der Theologe Romano Guardini erklärt. Er hat in den zwanziger und dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts in der lautesten Stadt Deutschlands gelehrt: in Berlin. Dass Guardini nach Berlin kommt, ist doch eine ziemlich abenteuerliche Geschichte?

Und ob! Guardini brauchte einen ganzen Waschkorb voller Papiergeld, um seine Fahrkarte zu lösen – es war ja die Zeit der Hyperinflation. Und seine Habseligkeiten mussten aus dem besetzten Rheinland über die Grenze geschmuggelt werden. Die neue Stelle trat er also im schlimmsten Augenblick der Nachkriegszeit an: im 'tollen Jahr' 1923.

Der preußische Landtag hatte nämlich den Beschluss gefasst, an der Berliner Universität eine Professur für katholische Weltanschauung einzurichten – und Romano Guardini, einem Mann der Jugendbewegung, traute man zu, diese Stelle auszufüllen. Denn die deutsche Hauptstadt war und ist nicht dafür bekannt, dass dort ein lebendiger Katholizismus vorkommt. Und die Uni greift zu einem Trick: Die neue Professur gehört etatrechtlich zur katholischen Fakultät der Universität Breslau. Guardini ist deshalb als ständiger Gast an der Berliner Universität tätig. Natürlich gab es trotzdem Proteste.

Zuerst ja, aber bald überzeugt – oder besser gesagt – überrascht der Neue an der Berliner Universität auch seine Kritiker – mit Beiträgen über Sokrates, Dostojewski, über Rainer Maria Rilke und über Blaise Pascal: In Guardinis Unterlagen, die ich im Archiv der Humboldt-Universität gefunden habe, findet sich folgende spannende Beobachtung durch einen evangelischen Theologen:

"Der Vortragende selbst ist eine schmale, bleiche Gestalt, die der schwarze Priesterrock umkleidet, und man hat alles in allem bei längerer Berührung den Eindruck einer faszinierenden Persönlichkeit. Er ist zweifelsohne wissenschaftlich ein ganzer Könner, einer der besten Vertreter, den die römische Kirche zu entsenden vermochte."

In Berlin kümmerte sich Guardini dann vor allem um die "draußen vor der Kirchentür": um Künstlerinnen und Künstler, um Zweifelnde und Suchende, aber gerade auch um junge Leute, die wissen wollten, wofür es sich zu leben lohnt. Das waren sozusagen seine Hauptadressaten: Und denen hat er klarzumachen versucht: "Wir sagen oft Gott und meinen doch uns selbst."

Zu den Ausdrucksformen des Glaubens zählen nicht nur bedeutungsvolle Worte, sondern eben auch das "heilige Schweigen". Es ist ein Element des persönlichen Betens, aber auch der gemeinschaftlichen Liturgie. Darauf hat Romano Guardini besonders hingewiesen. Mehr noch als die Freude über gemeinsam gesungene Lieder kann das gemeinsame Schweigen Menschen tief verbinden.

Ich denke: Stille und Schweigen kann heute allein für sich zu einer religiösen Erfahrung werden. Guardini ist für mich darum so etwas wie ein Anti-Bur-Malottke – ich empfinde Ruhe und Frieden in unserer lauten Welt als ein Geschenk. Reden und Schweigen gehören zusammen. Ich kenne Menschen, mit denen ich schweigen kann. Momente der Stille haben dann nichts mit Sprachlosigkeit zu tun, sondern mit einem tiefen Einverständnis. Solche Augenblicke sind kostbar. Das Sprechen wird flach, wenn es die Verbindung zum Schweigen verliert – und so ist es auch in der Religion: Vor der Wirklichkeit Gottes versagen unsere armseligen Worte. Romano Guardini hat deshalb gesagt: "Das Wort ist nur dann wesenhaft und mächtig, wenn es aus dem Schweigen kommt."

Es scheint, als ob Böll Guardinis Denken kennt. Zumindest aber kann man beide in dieser Frage getrost "Seelenverwandte" nennen. Denn auch das Sammeln des Schweigens in der Fülle des gesprochenen Wortes ist ja nicht nur Marotte und Selbstzweck. Böll fasst das Wunder des Schweigens hier sehr weit und es ist kein Wunder, dass dies nicht sofort verstanden wird. Romano Guardini erklärt in seiner Vorschule des Betens von 1948:

"Mein Leben ist eine Stille – und zwar jene, die mich angeht –, wo Gott handelt. Mein Dasein ist eine Werkstatt, in der Er schafft. Aus mir soll Neues hervorgehen. Christliches Handeln und Schaffen aber ist ein Tun des Menschen im Einvernehmen mit dem Tun Gottes." [1]

Dieses Einvernehmen, so Guardini, kann sich nur in einer gesammelten Atmosphäre entwickeln: im Schweigen. "Nur in der Stille kann das Wort gehört werden." Auch dafür findet sich bei Böll ein starkes Bild im Hörspiel. Murke hat eine Freundin – und von ihr wünscht er sich nichts sehnlicher, als dass sie für ihn eine ganz besondere Tonaufnahme macht.  Sie soll nämlich für ihn vor dem Mikrophon Schweigen.

"Ich kann nicht mehr... ich kann einfach nicht mehr... das ist unmenschlich, was du von mir verlangst. Es gibt Männer, die unsittliche Sachen von einem Mädchen verlangen. Aber ich meine, was du von mir verlangst, ist noch unsittlicher als die Sachen, die andere Männer von einem Mädchen verlangen. – Das muss ich alles wieder rausschneiden, sei doch vernünftig, Lena, sei lieb und beschweige mir wenigstens noch fünf Minuten Band. – Beschweigen... das ist auch so eine Erfindung von dir. Ein Band besprechen würde ich ja gerne, aber beschweigen? – Ach Lena, wenn du wüsstest, wie kostbar mir dein Schweigen ist. Abends wenn ich müde bin, wenn ich hier sitzen muss, höre ich mir dein Schweigen an. Bitte, sei nett! Beschweige mir wenigstens noch drei Minuten, du weißt doch, was Schweigen für mich bedeutet… Meinetwegen."

Mit diesem Wunsch, "für ihn zu schweigen" will Murke seine Freundin nicht kleinmachen. Es ist keine ulkige Marotte. Im Gegenteil – für Murke ist im Schweigen ihre Größe und Schönheit erfahrbar, weit mehr, als in allem, was sie mit Worten ausdrücken könnte. Nicht zuletzt braucht er die Aufnahmen, "um sie sich abends zur Erholung von der Hohlheit und Geschwätzigkeit des Mediums vorspielen zu können", wie es heißt. Ja es ist seine Form der Seelenhygiene, um dann wieder all die Bur–Malottkes halbwegs ertragen zu können.

" ... Ich kann dies bescheuerte Lied nicht mehr hören. Sie müssen Ihre Sendung sowieso kürzen... . Nie im Leben! – Und jetzt packen Sie ihre ... zusammen, damit wir endich anfangen können Geld zu verdienen. Und vergessen Sie Ihre Zigaretten nicht! – Wollen Sie eine? – Was ist das denn? – 27 Mal "Gott", von Bur-Malottke! – Oh Gott! "

Seit Beginn des Radios in Deutschland vor 100 Jahren gibt es auch kirchliche Sendungen. Der einzige bisher, der sie aus dem Programm verbannt hat, war Adolf Hitler. Nach der Katastrophe des zweiten Weltkrieges gingen die Alliierten – auch die Sowjets übrigens – daran, den Kirchen Sendezeiten im neuen Radio anzubieten. Sie galten politisch als unbelastet und mit ihnen sollten Werte und Glaubwürdigkeit wieder in die Radios kommen. Aber jetzt, bei Dr. Murke im neuen Funkhaus, befinden wir uns in der Zeit des Wirtschaftswunders. Das Grauen scheint unendlich weit weg zu sein in dem strahlend schönen Neubau.

Bur-Malottke ist dabei für Böll die Karikatur eines durchaus erfolgreichen Intellektuellen, der sich in jeder Gesellschaft immer die Begriffe zunutze macht, die ihm opportun scheinen. Das war nach 1945 Gott. Jetzt, 15 Jahre später in der Situation des Hörspieles, ist es im Radio nicht mehr angesagt von Gott zu sprechen. Bur-Malottke will am liebsten nicht mehr an die Vergangenheit erinnert werden – und darum soll das eine große Wort aus seinen Vorträgen herausgeschnitten werden.

Dieser Begriff – "Gott" – ist für ihn mittlerweile höchst unbequem geworden. Denn damit ist an ihn selbst der Anspruch auf Wahrheit, auf persönliche Wahrhaftigkeit verbunden. Er sieht sich durch dieses sperrige Wort mit dem eigenen Opportunismus und Mitläufertum konfrontiert – mit seinen ungesühnten Sünden. Und diese Frage stellt sich ja bis heute für den ein oder anderen Rundfunkmenschen auch. Was haben Gott und Kirche im Radio zu suchen? Schon ein bisschen ungewöhnlich, oder?

Ich glaube, Böll und Guardini – jeder auf seine Art – machen Hörerinnen und Hörern noch heute klar: Worte im Radio sollen nicht dazu dienen, Menschen, salopp gesagt, tot zu quatschen. Und gerade das Wort "Gott" darf nicht inflationär gebraucht werden. Aber wenn es aus dem Schweigen kommt und auf das Schweigen antwortet – dann hat es eine ungeheure, die Situation von Grund auf umstürzende Kraft. In Bölls Hörspiel findet der rausgeschnittene Gott eine neue Verwendung. Denn es fällt auf, dass er fehlt. Der Redakteur hört sich die fertige Produktion nochmal an und sagt dann:

"Ich finde es gut! Ja!  Nur der Schluss hat mich also nicht befriedigt. Können wir den noch mal hören? – Von wo an? – Die Stelle mit den Fragen des Atheisten in der großen leeren Kirche... Wer denkt noch an mich, wenn ich der Würmer Raub geworden bin? Wer wartet auf mich, wenn ich wieder zu Staub geworden bin? (....) Halten Sie mal an! – Zwölf solcher Fragen ruft der Atheist in die Kirche hinein. Und was steht hier hinter jeder Frage? Ein Fragezeichen – Schweigen... zwölf Mal schweigen. Ein bisschen viel schweigen, finden Sie nicht? – Ungewöhnlich. – Ja, das finde ich auch. Und der Autor pflichtet mir bei. Er hat mich ermächtigt, das zu ändern. Seiner Meinung nach sollte einfach eine Stimme jedesmal sagen: Gott.  Aber es müsste eine Stimme ohne die Akkustik der Kirche sein. Sie müsste sozusagen aus einem neutralen Raum sprechen. Aber wo kriege ich jetzt so eine Stimme her? – Ich habe eine  Stimme, die in einem neutralen Raum Gott sagt..."

Der Techniker schneidet die 12 Gottesschnipsel aus der Zigarettenschachtel in das Tonband hinein. Heinrich Böll sagt selbst, sein Dr. Murke tritt einer Welt entgegen "die dauernd schreit, die laut ist und schon damals laut war und heute noch lauter ist". Für ihn ist es Dr. Murke, den wir dabei beobachten, wie er dabei ist "dem Schweigen einen Altar zu bauen".

Und Guardini macht deutlich: in diesem Schweigen ist unendlich viel zu hören, wenn wir gewillt sind mit unseren Sinnen in diese Stille hinein zu lauschen. Dort, können wir die Antworten suchen – und auch finden. Ohne das Schweigen und ohne die "Gottschnipsel" gäbe es keine Antwort im Werk Guardinis und im Hörspiel von Böll. In diesem Sinne gibt es auch für das Radio – genauso wie für Kirche im Radio – eine Aufgabe: das immer wieder neue Einfügen von leisen und klingenden Gottschnipseln ins laufende Programm.

"Wolln wir mal hören? ... Wer denkt noch an mich, wenn ich der Würmer Raub geworden bin? – Gott – Fabelhaft ..."

Die redaktionelle Verantwortung für die Sendung hat Martin Korden.

Musik und Quellenangaben:

Herr Adabei aus: Albert Mangelsdorff. Purity, Mood

Tantum ergo, aus: Stefan Graser. Tantum Ergo

Gottheit tief verborgen, aus: Stefan Graser. Tantum Ergo

Hörspiel: Dr. Murkes gesammeltes Schweigen – Mediensatire von Heinrich Böll. Mit Axel Corti, Hilmar Thate, Henning Venske u.v.a. Bearbeitung und Regie: Hermann Naber, abrufbar hier.

[1] Quelle: Romano Guardini, Vorschule des Betens, Grünewald-Verlag, ISBN-10   3-7867-2911-5.

Über den Autor Guido Erbrich

Guido Erbrich, geboren 1964, ist Vater von vier Töchtern. Er lernte den Beruf des Tontechnikers bei Radio DDR und arbeitete bis 1987 beim Sender Leipzig. Danach schloss er ein kirchliches Abitur in Magdeburg ab. Sein Studium der Theologie führte ihn nach Erfurt, Prag und New Orleans. Im Bistum Dresden-Meißen war Erbrich bis 2002 Referent in der Jugendseelsorge. Danach wechselte er als Studienleiter und Referent ins Bischof-Benno-Haus nach Schmochtitz. Bis 2010 leitete Erbrich die Katholische Erwachsenenbildung Sachsen. Von 2010 bis 2020 war er Leiter der Heimvolkshochschule Roncalli-Haus Magdeburg. Seit 2020 ist er der Senderbeauftragte der Katholischen Kirche für den MDR.

Kontakt: Guido.Erbrich@bddmei.de