Alle Menschen streben nach Glück. Es gibt wahrscheinlich nur wenige Zeitgenossen, die behaupten, dass die Bestimmung des Menschen im Unglück liegt. Allerdings unterscheiden sich die Antworten auf die Frage, worin dieses Glück denn nun besteht: Machen uns Geld, ein gutes Essen, eine steile Karriere oder das Zusammensein mit Familie und Freunden wirklich glücklich? Da will sich niemand mehr endgültig festlegen. Am Ende ist es meistens den Einzelnen überlassen, ihr Glück selbst zu suchen. Thomas von Aquin, der vor 800 Jahren geboren wurde, sah das anders. Er wollte durch philosophisches Nachdenken und mit Blick auf die Bibel eine Antwort auf die Glücksfrage finden, die auf alle Menschen zutrifft.
Es dürfte im Neujahr 1225 gewesen sein, als Thomas auf Schloss Roccasecca zur Welt kam. Dieses liegt in der Grafschaft Aquino, südöstlich von Rom. Abseits seines Geburtsjahrs wissen wir für einen Menschen des Mittelalters einiges über Thomas. Das liegt auch daran, dass zu Thomas viele schriftliche Zeugnisse vorliegen. Bereits früh schreibt sein Schüler Wilhelm von Tocco die "Ystoria sancti Thome de Aquino", eine Art Biografie. Solche Schriften sind wichtige Wegweiser, auch wenn wir den Chronisten und Vitenschreibern des Mittelalters nicht vollständig trauen können. Ihnen ging es nicht um eine biographische Genauigkeit im heutigen Sinne, sondern um etwas anderes: Wilhelm setzte sich zum Beispiel energisch für die Heiligsprechung seines Lehrers ein.
Thomas muss die Familie bereits im Alter von fünf Jahren verlassen. Seine Eltern Landulf und Theodora wollen, dass er sich in der nahegelegenen Abtei Montecassino auf eine geistliche Laufbahn vorbereitet. Der Legende nach wurde das Mutterkloster des Benediktinerordens Mitte des sechsten Jahrhunderts vom heiligen Benedikt von Nursia höchstpersönlich gegründet. Thomas‘ Onkel Sinibald ist Abt des zu dieser Zeit äußerst mächtigen Klosters. Was uns heute als lieblos erscheint, war damals üblich. Die Unterscheidung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen bildet sich erst im Laufe der Frühen Neuzeit heraus. Dementsprechend früh besucht Thomas die Universität: 1239, mit 14 Jahren, geht er nach Neapel, in die Hauptstadt des Königreichs Sizilien.
Dort lernt er die Schriften des antiken Philosophen Aristoteles kennen – vermittelt durch die großen jüdisch-islamischen Denker des Mittelalters Avicenna, Averroes und Moses Maimonides. Mit der Wiederentdeckung der griechischen Philosophie der Antike stellt sich die Frage nach dem Zusammenhang von Glauben und Vernunft ganz neu: Es wird zu seiner Herausforderung, die aus damaliger Sicht "heidnische" Philosophie mit der biblischen Offenbarung in Einklang zu bringen.
Darüber hinaus begegnet der junge Thomas dort zum ersten Mal dem "Ordo Praedicatorum", dem Orden der Predigerbrüder, die heute als "Dominikaner" bekannt sind. Sie leben ein anderes Leben als die Benediktiner. Einfach, besitzlos und radikal ist ihre Christusnachfolge – und sie leben nicht in den stillen Klöstern, sondern in den lauten Städten. 1244 tritt Thomas dem Bettelorden bei. Für seine Familie eine große Irritation, die Dominikaner gelten ihnen als "nicht standesgemäß". Seine Brüder sollen Thomas deshalb ein Jahr gefangen gehalten haben. Sie schleusen sogar eine Kurtisane ein, um ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Jedoch setzt Thomas die verführerische Frau energisch vor die Tür. Nach seiner Freilassung geht er zuerst nach Paris und später nach Köln – an der Seite eines anderen großen Philosophen, des heiligen Albertus Magnus.
Er ist sein wichtigster Lehrer: Wie können wir uns ihre Beziehung vorstellen? Das weiß Andreas Speer, Philosoph und Direktor des Thomas-Instituts an der Universität zu Köln. Er hat viel zum Denken des "Aquinaten" geforscht und viele Schriften des Thomas neu herausgegeben:
"Ja, was ich zum Beispiel gerne mag, wie er hier nach Köln gekommen ist, 1248 mit Albert, also zum Jahr der Grundsteinlegung des Chores, aber eigentlich der Grund war, dass Albert hier das Generalstudium der Dominikaner aufmachen sollte. Und Albert hat dort auch zwei spannende Projekte gehabt Einmal den kompletten Kommentar zur Nikomachischen Ethik des Aristoteles und zum Zweiten zum Corpus Dionysiacom, also zu dem Corpus der mystischen Schriften des Dionysius. Wir wissen, wie der Thomas war so eine Art Doktorand und junge oder früher Assistent oder Postdoc würde man heute sagen, für Albert, der vier Jahre mit Albert hier in Köln war, wo es eine Anekdote gibt, dass man ihn den 'Stummen Ochsen' nannte, ist ganz simpel. Der konnte einfach hier nicht diesen rheinischen Dialekt. Der kam aus Italien und sprach wahrscheinlich auch, wenn er nicht wissenschaftlich Latein sprach. Aber das Latein war schon lange keine Umgangssprache mehr, sondern man sprach lokale Dialekte. Thomas sprach irgendeinen ja neapolitanischen Dialekt aus der Zeit kommt hier nach Köln, und die sprechen ja Kölsch. Na ja, wie soll man sich das vorstellen? Und dann hat er erst mal wenig gesagt."
Albertus muss Thomas nicht nur in seiner Liebe zur Philosophie, sondern auch in seiner Arbeitsweise beeinflusst haben:
"Und Albertus Magnus ist sicherlich sein Geist. Es sagt ja auch selber sein, ganz großer Lehrer, der eine Generation früher ist, und ihn gewissermaßen mit diesen Dingen infiziert und versorgt und sein großes intellektuelles Vorbild wird, mit dem er dann ja auch, wie gesagt, nach Köln zieht und vier Jahre eng zusammenarbeitet und darüber eben auch einen Stil kennenlernt, einerseits den gesamten Aristoteles zu lesen und zu kommentieren und auch zu sagen, was das bedeutet für ein neues Weltbild, für ein neues christliches Weltbild, für ein neues theologisches Weltbild und dann aber auch bei Albert kennenzulernen, dass man die platonische Tradition, die insbesondere den Dionysius, dass man so etwas nicht vergessen darf. Und im Grunde genommen folgt er ja seinem Lehrer nach. Er kommentiert eigentlich alles das, was Albert auch kommentiert als später. Man sieht auch, dass er sich mit seinem Lehrer auseinandersetzt."
Deshalb sind die Werke des Thomas‘ für heutige Leser manchmal schwer zu verstehen. Sie sind weniger als einzelnes Werk, sondern als fortlaufender Kommentar aufgebaut. Seine Schriften zeigen ein beständiges Suchen nach besserem Verständnis an und entsprechen daher nicht unserem modernen Verständnis von schöpferischer Originalität. Das Schaffen des Thomas von Aquin gipfelt Mitte der 1260er-Jahre in der Abfassung seiner "Summa theologica" oder "Summa theologiae" – einer beeindruckenden Gesamtschau des theologisch-philosophischen Wissens seiner Zeit. Sie ist bis heute eine wichtige Quelle der katholischen Theologie und des philosophischen Nachdenkens über Gott.
Am Nikolaustag 1273, gegen Ende seines Lebens, soll Thomas jedoch in Schweigen verfallen sein. In den Akten des Heiligsprechungspistrozesses lässt sich nachlesen, dass er nicht mehr weiterschreiben und diktieren wollte. Alles sei ihm vorgekommen wie Spreu – verglichen mit dem, was er geschaut habe. Sein Mitarbeiter und Gefährte Reginald von Piperno kann es kaum glauben. Thomas stirbt schließlich 1274 auf dem Weg zum Zweiten Konzil von Lyon in der latinischen Zisterzienserabtei Fossanova.
Heißt das nun, dass Thomas im Angesicht des Todes das Gelehrtenleben, also sein Leben auf Gott hin, verwirft? Oder ist gerade das Gegenteil der Fall? Er behauptet schließlich am Ende, etwas geschaut zu haben. Das Glück des Thomas lässt sich jedenfalls nicht mit heutigen Maßstäben messen und beschreiben. Seine Glücksethik, die er in einem Teil der "Summa" entwickelt, die heute als "De beatitudine" bekannt ist, steht quer zu heutigen philosophischen Lebenslehren. Sie beurteilt das Leben im Gefolge des Aristoteles nicht anhand von Nutzenkalkülen oder der Erfüllung vorab definierter Pflichten. Diesem Denken zufolge liegt jeder Handlung ein Zweck zugrunde und ist damit auf ein bestimmtes Ziel hin ausgerichtet. Das höchste dieser Ziele ist die Glückseligkeit: Die sogenannte "eudaimonia" sei, wie es bei Aristoteles pointiert heißt, das "höchste Gut, das man durch Handeln erreichen kann". Ein solches Denken hat einen großen Vorteil: es zwingt dem Menschen kein Ziel von außen auf. Man sollte diese Glücksethik daher weniger als Weisung und viel mehr als Gestaltung und Bestärkung eines immer schon vorhandenen Strebens verstehen. Dementsprechend spielt in der Argumentation des Thomas die Frage eine große Rolle, wie der Mensch dieses höchste Gut erreichen kann und welche anderen Güter er dafür besitzen muss.
Thomas spielt in seinem Traktat verschiedene Güter durch, die landläufig mit Glück verbunden werden. Wie in unseren Tagen ist das unter anderem der Reichtum. In Quaestio 2, Artikel 1 von "De beatitudine" heißt es:
"Es scheint, dass der Reichtum den Menschen glücklich macht. Weil nämlich das Glück das letzte Ziel des Menschen ist, macht dasjenige glücklich, was den Charakter des Menschen am meisten beherrscht. Derart ist aber der Reichtum."
Für Thomas ist dieses Argument jedoch nicht überzeugend. Für ihn ist klar:
"Das Glück des Menschen kann unmöglich im Reichtum bestehen. Es gibt nämlich zwei Arten von Reichtum […], nämlich den natürlichen und den künstlichen. Der natürliche Reichtum ist derjenige, der dem Menschen hilft, seine natürlichen Mängel zu beheben, nämlich durch Speise, Trank, Kleidung, Fahrzeuge, Wohnungen, und dergleichen. Der künstliche Reichtum ist aber derjenige, der nicht durch sich selbst der Natur hilft, wie etwa das Geld. Denn dies hat die menschliche Kunst als ein Maß für käufliche Dinge erfunden, um das Tauschen zu erleichtern."
Demzufolge genügen materielle Güter dem Menschen nicht an sich, sie sind immer nur Mittel zu etwas:
"Es ist klar, dass das Glück des Menschen nicht im natürlichen Reichtum liegen kann. Denn diese Art Reichtum wird wegen etwas anderem angestrebt, nämlich um die Natur des Menschen zu erhalten, und daher kann er nicht letztes Ziel des Menschen sein, sondern er wird eher auf den Menschen als Ziel hingeordnet."
Über Geld hat Thomas ebenfalls wenig Schmeichelhaftes zu sagen:
"Den künstlichen Reichtum aber begehrt man nur wegen des natürlichen, denn man würde ihn nicht begehren, wenn man nicht durch ihn die zum Lebensunterhalt notwendigen Dinge kaufte. Deshalb hat er (noch) viel weniger den Charakter eines letzten Zieles. Es ist also unmöglich, dass das Glück, das das letzte Ziel des Menschen ist im Reichtum liegt."
Der Reichtum in seinen unterschiedlichen Formen macht den Menschen also nicht glücklich. Er lenkt nur sein Glückstreben ab oder macht es sogar zunichte. In Thomas‘ Argumentation wird immer wieder deutlich: Es ist ihm ein großes Anliegen, Glaube und Vernunft zu vereinen. Philosophisches Denken und biblische Offenbarung widersprechen sich für den Dominikaner nicht. Sie müssen schlussendlich ineinander fallen. Dafür flicht der Philosoph an verschiedenen Stellen Sätze aus der Heiligen Schrift ein. Sie sollen seine Gedanken bestärken und sich damit auch selbst bestätigten. Zum Beispiel zitiert Thomas in Quaestio 2, Artikel 1 das Buch Kohelet, die Psalmen, das Buch der Sprichwörter, Jesus Sirach und den Evangelisten Johannes:
"Alle käuflichen Dinge können mit Geld erworben werden, nicht aber die geistigen, die nicht verkauft werden können. Deshalb sagt Spr 17,16: 'Was nützt es dem Törichten, Reichtum zu besitzen, da er die Weisheit nicht kaufen kann?"
Auch auf biblischer Grundlage hat der Reichtum nichts mit der Glückseligkeit zu schaffen. Thomas zieht nicht zufällig Bücher der Bibel heran, die skeptisch auf die vergängliche Welt schauen. Ihr pessimistischer Grundton kommt seiner Ethik, die das wirkliche vom scheinbaren Glück scheiden möchte, entgegen. Gleichzeitig rechtfertigt Thomas den biblischen Skeptizismus mit den Ausführungen des Aristoteles. Er lässt sich vernünftig einholen.
Auf ähnliche Weise übt Thomas in Quaestio 2, Artikel 4 Machtkritik. Zunächst referiert er wieder
"Es scheint, dass die Macht glücklich macht. Denn alles strebt danach, Gott als letztem Ziel und erstem Prinzip ähnlich zu werden. Aber die Menschen, die in Machtpositionen sind, scheinen Gott am ehesten gleich zu sein, weil sie ihm an Macht ähnlich sind […]."
Demnach erscheint die Macht vielen Menschen als bewährtes Mittel, um glücklich zu sein. Sie macht ihren Besitzer scheinbar zu kleinen Göttern auf Erden. Aber Thomas warnt:
"Aus zwei Gründen ist es unmöglich, dass die Macht glücklich macht. Erstens, weil die Macht ein Ursprung ist […]. Das Glück ist aber letztes Ziel. Zweitens, weil Macht zum Guten wie zum Schlechten dienen kann. Das Glück ist aber das eigene und vollkommene Gut des Menschen. Deshalb könnte eher der gute Gebrauch der Macht, der durch die Tugend entsteht, eine Art von Glück hervorrufen als die Macht selbst."
Die Macht genügt sich ähnlich wie der Reichtum nicht selbst, sie ist tatsächlich "nur" ein Mittel. Andererseits ist auch nicht garantiert, dass die Macht nur dem Guten dient. Dieses Instrument kann auch gebraucht werden, um das Gegenteil hervorzubringen. Was bleibt für Thomas nach diesem Durchgang, nach dieser Kritik an einem allzu irdischen Verständnis von Glück noch übrig? Die Antwort ist ähnlich klar wie seine vorherige Kritik: Sein Glück findet der Menschen schlussendlich in Gott – jenseits aller weltlichen Güter, die in sich nicht genügen.
"Glück bedeutet die Erlangung des vollkommenen Gutes. Wer also aufnahmefähig ist für das vollkommene Gut, kann zum Glück gelangen. Dass aber der Mensch für das vollkommene Gut aufnahmefähig ist, erweist sich daraus, dass sowohl seine Vernunft das allgemeine und vollkommene Gut erfassen kann, als auch sein Wille danach streben kann. Daher kann der Mensch das Glück erlangen. Dasselbe erweist sich daraus, dass der Mensch für die Schau des göttlichen Wesens aufnahmefähig ist […]. In dieser Schau freilich, […], besteht das vollkommene Glück des Menschen."
Letztendlich mutet uns Thomas aber viel zu: Der Philosoph erkennt zwar die Glücksfähigkeit des Menschen an, zeigt aber auch deren Grenzen auf:
"Man kann eine gewisse Teilhabe am Glück in diesem Leben besitzen, doch das vollkommene und wahre Glück kann man in diesem Leben nicht besitzen."
Das liegt für Thomas einerseits daran, dass vollkommenes und wahres Glück auch wirklich vollkommen und wahr sein muss. In diesem Leben könne aber "nicht alles Übel ausgeschlossen werden". Der Mensch leide an Unwissenheit, seinen Gefühlen und dem Körper. Andererseits bestehe das Glück in der "Schau des göttlichen Wesens". Diese komme dem Menschen in seinem Leben nicht in voller Gänze zu.
Auch wenn Thomas von Aquin inzwischen 800 Jahre von uns entfernt ist, sollten wir ihn immer wieder lesen, findet Andreas Speer:
"Ich würde mir selbst wünschen, wenn diejenige Institution, die den Thomas in jedem Dokument anpreist, als ein Vorbild und als einen Lehrer der Kirche, ihn auch stärker lesen würde und diese Sachen stärker zur Kenntnis nehmen würde. Da scheint mir auch noch eine ganze Menge Nachholbedarf zu sein, was die Lektüre angeht."
Der Dominikaner kann uns daran erinnern, dass das Glück mehr ist als irdische Freuden, dass es mehr ist als die vergängliche Welt. Seine Glücksethik hat deshalb ein kritisches Moment: Wir Menschen müssen uns unsere Glücksfähigkeit bewahren. Wir können immer wieder überprüfen, was uns wirklich glücklich macht. Unser Glücksstreben lässt sich gestalten und ist nicht dem Zufall überlassen. Und vielleicht finden wir ganz am Ende unseres Lebens in Gott, in seiner Schau, das Glück auf Erden.
Die redaktionelle Verantwortung für die Sendung hat Tim Helssen.
Musik:
Michaele McLaughlin: The littlest Snow Angel
Max Richter: And at this Frequency
Fabrizio Paterlini: Discoveries
Tom Howe: Fireflies
Martin Kohlstedt: LEH