Wenn man am Waldrand von Birkenwerder spazieren geht – einem Ort nördlich von Berlin -, dann kann es sein, dass man auf eine Tafel stößt, auf der ein Gedicht zu lesen ist. Überschrift: "Doktor Wald":
"Wenn ich an Kopfweh leide und Neurose,
mich unverstanden fühle oder alt,
dann konsultiere ich den Doktor Wald.
Er wohnt ganz nah, gleich nebenan,
er ist mein Augenarzt und mein Psychiater,
mein Orthopäde und mein Internist…"
Das Gedicht geht noch weiter. Es spricht vom Sonnenschein und der guten Luft, vom Abbau von hohem Blutdruck und Übergewicht – kurzum: Der Wald ist ein Erholungsort. Viel mehr, als nur eine Ansammlung von Bäumen; eine eigene grüne Welt – voller Zauber und Magie. Viele Mythen haben einen Bezug zum Wald; Dichter schreiben hinreißende poetische Texte über den Wald als Lehrmeister und Seelenspiegel, sind verzaubert vom Grün der Pflanzen, von der erhabenen Ruhe der Buchenwälder oder den Alleen am Rande der Straße, die an gotische Kathedralen erinnern.
Für die Theologin und Psychotherapeutin Astrid Polz-Watzenig steht außer Frage, dass der Wald eine heilsame Wirkung auf Körper und Seele hat, wichtig für die Selbstfürsorge und hilfreich bei seelischen Belastungen aller Art. Ich habe die Expertin für Integrative Therapie aus Graz in Österreich gefragt, woher die Faszination des Waldes rührt:
"Das ist gar nicht so einfach zu beantworten. Ich denke, das ist ambivalent: Das eine ist, dass man weg vom Alltag kommt, und es ein Ort des Rückzugs ist, aber auch so ein Ort der Erholung, der Stille, der Frische, ein Andersort."
"Andersort", das klingt interessant. Ganzheitlich orientierte Therapeuten sprechen davon, dass Walderleben das Immunsystem stärkt und Heilenergien freisetzt. Das hat zu tun mit der Ruhe und stillen Aufmerksamkeit, die der Wald schenkt. Er lädt ein zu einer Innenschau. Zugleich richten sich unsere Antennen aus nach neuen Eindrücken und Empfindungen, die sich spürbar auf das Nervensystem auswirken. Körper-, Atem- und Achtsamkeitsübungen bewirken Regeneration, Erholung und schließlich auch Heilung. Walderleben hat therapeutisches Potential:
"Das hat ganz viel mit komplexer Achtsamkeit zu tun; und man ist einfach drauf gekommen, dass es Menschen gibt, die können weder beten noch meditieren, aber sie können in den Wald gehen. Und was dort passiert, ist, dass diese komplexe Achtsamkeit, oder ungerichtete Achtsamkeit die Auswirkung hat, dass der Parasympathikus aktiviert wird und damit Entspannung eintritt. Und das hat eine heilsame Wirkung im Zusammenhang mit Depression- und Angsterkrankungen, weil dort ja Anspannung, Stress, vorherrschend ist. Das heißt, ich erreiche eigentlich noch bevor ich es im eigenen Körper spüre, dass ich in eine Ruhe komme, was sonst oft nicht gelingt."
Der Wald als Ruhe- und Kraftort mit spirituellem Potential, das ist ein Thema, das in jüngerer Zeit mehr und mehr an Bedeutung gewonnen hat. Und wie so oft, entwickelt sich aus einem neuen Interesse schnell ein Modetrend. Ist das beim Wald auch so?
"Es ist interessant, weil hier eine Parallele zur Romantik festzustellen ist. In der Romantik war das Bedürfnis nach Natur so groß wie nie zuvor, auch dem geschuldet, dass die Bäume abgeholzt wurden, dass Material gebraucht wurde zum Bauen und Arbeiten. Und diese Parallele haben wir jetzt auch. Jetzt erfüllt, was damals die Industrialisierung erfüllt hat, die Digitalisierung. Dass es so auseinandergeht, dass je mehr wir in digitalen Medien unterwegs sind, desto größer wird diese Sehnsucht nach Natur, Erholung, Stille, Frische, Einfachheit."
Wir wenden uns der Natur zu als Gegenbewegung zu einer immer mehr technisierten und digitalisierten Welt, das leuchtet ein. Gleichzeitig steht es aber nicht gut um den Wald. Immer wieder gibt es Schreckensmeldungen zum schlechten Zustand der Bäume, die unter der Trockenheit und Abholzungen zu leiden haben. Kommt die Hinwendung zum Wald vielleicht auch aus dieser unheilvollen Ahnung, dass uns mit dem Wald etwas ganz Wertvolles unwiederbringlich verloren gehen könnte, wenn wir nicht gegensteuern?
"Dieses Bedürfnis, die Natur unversehrt zu sehen und unbeschadet zu sehen ist groß, und wenn wir jetzt in die Wälder gehen, wo die Fichtenwälder großem Stress ausgesetzt sind und der Borkenkäfer sehr viel zerstört, auch die Hitze, die wir haben, sehr viel zerstört, dann merkt man so, dass das Ureigenste, was uns Sicherheit gegeben hat, gefährdet ist, und das erschreckt."
Den Wald aufsuchen, um sich lebendiger zu fühlen. Die Expertin für Integrative Therapie, Astrid Polz-Watzenig, ist überzeugt von der heilsamen Wirkung des Walderlebens. In ihrer therapeutischen Arbeit empfiehlt sie bestimmte Rituale, wie das bewusste Eintauchen in den Wald mit allen Sinnen, das in dem Bildwort vom Waldbaden einen einleuchtenden Ausdruck gefunden hat. In ihrem Büchlein über "Die heilsame Wirkung des Waldes in der Integrativen Therapie" stößt man zum Beispiel auf die sogenannte "Sorgenstein-Übung". Dabei werden wir aufgefordert, einen Stein am Rande des Waldes zu suchen, ihm symbolisch unsere Sorgen anzuvertrauen und dann ganz bewusst am Boden abzulegen. Ich frage die Expertin: Sind diese therapeutischen Übungen zur Wahrnehmung des Waldes vor allem ein Hilfsangebot vorwiegend für gestresste Menschen aus der Stadt?
"Gesund wäre es allemal. Also ich empfehle auch immer, in den Wald zu gehen. Es gibt Studien, wo es heißt: zwei Stunden in der Woche im Wald sind sehr gesund und erholsam, reicht schon. Aber eben nicht gestresst, also nicht laufend oder irgendwas hörend oder was immer. Es reicht, dieses Eintauchen, dieses Wahrnehmen von ich brems jetzt mal runter als Antistressprogramm."
"Mein Freund der Baum ist tot…", so hat die Sängerin Alexandra vor mehr als 50 Jahren in einem zu Herzen gehenden Lied gesungen. Bis heute rührt die Geschichte vom abgeholzten Baum, der einem Haus weichen muss, die Menschen zu Tränen. Wie erklärt sich eine so gefühlsstarke Beziehung zur Natur? Astrid Polz-Watzenig sagt, das hat damit zu tun, dass man den Baum als lebendiges Wesen ansieht:
"Und diese, wir nennen es in der integrativen Therapie 'Zwischenleiblichkeit', und in dieses zwischenleibliche Geschehen mit Lebewesen zu gehen – und Bäume sind auch Lebewesen – kann auch sehr entspannen, beruhigen, guttun."
Der Wald als "Andersort", Bäume als "zwischenleibliche" Lebewesen – das sind Hinweise, die uns helfen können, den Wald als therapeutischen und auch als spirituellen Raum wahrzunehmen. Das ist das eine. Nun gibt es aber, und gab es immer auch schon den Wald als einen Ort der Furcht, der Dunkelheit, der Gefahr. Der Wald ist zwiespältig: einerseits bezaubernd und magisch, andererseits aber auch unheimlich. Wir erinnern uns an Märchen, wo im Wald die Räuber sind, wo der Wolf lauert, oder wo man sich rettungslos verlaufen kann. Diese dunkle Seite des Waldes ist bedeutsam, sagt die Therapeutin Astrid Polz-Watzenig, denn sie steht für das Geheimnisvolle und für Veränderung:
"Zum einen ist ja die Entstehungszeit der Märchen in einer Zeit, wo wir noch Urwälder hatten. Also wir haben keine Urwälder mehr im europäischen Kontext, oder kaum, weil alles schon domestiziert wurde, und das heißt: Ich wusste nicht, was mich im Wald erwartet. Und als Ort der Märchen wars natürlich immer so: Im Wald da sind die Räuber, aber der Wald ist auch der Ort, wenn ich da an Brüderchen und Schwesterchen denke, wo Transformation gelingen kann, wo Veränderung, Verwandlung gelingen kann, eben über diese Ruhe, diesen Rückzug, dieses Rausgehen; weil dort dann erst Veränderung passieren kann."
Es wundert nicht, dass Wälder und einzelne Bäume in den Weltanschauungen und Religionen eine bedeutende Rolle spielen, als "heilige Orte", wo übernatürliche Kräfte walten. Besondere Bäume sind in Indien oder Japan Sitz von Göttern; ebenso in der griechischen Mythologie und im Alten Ägypten. Der christliche Missionar Bonifatius hat eine große Eiche als Symbol des germanischen Gottes Donar umgehauen, weil er das für Aberglauben hielt. Es ist ihm nicht gut bekommen: Die Germanen haben sich das nicht gefallen lassen und seinerseits den christlichen Missionar getötet. Bäume als Repräsentanten himmlischer Mächte, das ist für Katholiken ein ambivalentes Thema, sagt die Therapeutin Polz-Watzenig:
"Im Katholischen ist die Ehrfurcht vor den Bäumen nicht allzu groß, da wird Geld gemacht mit Holz. Aber wenn man so die anderen Religionen anschaut, dann hat das ganz viel damit zu tun, auch mit den alten Religionen, aus Ägypten kommend, was für Heiligtümer Bäume sind, weil sie so lang überdauern, weil sie Jahrhunderte überdauern. Und das ist ein anderes Empfinden von der eigenen Endlichkeit, wenn ich weiß: der war schon da und der wird noch da sein, wenn ich schon gegangen bin."
Lange war der Wald kein besonderes Thema für die Kirchen. Im Zuge der gegenwärtig gewachsenen Aufmerksamkeit für die bedrohte Schöpfung kann man aber eine neue Hinwendung zur Natur beobachten. Erlebniswanderungen, besondere Walderfahrungen und ähnliche Veranstaltungen werden angeboten und stoßen auf Interesse. "Lass jubeln alle Bäume des Waldes" (Psalm 96,12), mit diesem Zitat aus einem biblischen Psalm, luden im vergangenen Jahr katholische Pfarreien zu ökumenischen Schöpfungstagen ein. Exemplarisch wurden Bäume gepflanzt, um das Bewusstsein zu stärken, dass viele Wälder gegenwärtig wenig Grund zum Jubeln haben.
Es ist das große Vermächtnis und ein bleibender Verdienst des verstorbenen Papstes Franziskus, dass er die Christen – und darüber hinaus alle Menschen guten Willens – energisch dazu aufgerufen hat, in der Natur den Plan des Schöpfers zu erkennen. "Die Schöpfung zu betrachten bedeutet …, eine Botschaft zu hören, eine paradoxe und lautlose Stimme wahrzunehmen", schreibt er in seiner naturtheologischen Grundsatzschrift Laudato Si‘ (LS 85). Darin geht er mit seinen Glaubensgeschwistern auch ins Gericht und erinnert sie daran, dass sie nicht immer der Schöpfung mit gebotener Achtung gegenübergetreten sind:
"Wir müssen zugeben, dass wir Christen den Reichtum, den Gott der Kirche geschenkt hat, nicht immer aufgenommen und weiterentwickelt haben – ein Reichtum, in dem die Spiritualität nicht von der Leiblichkeit, noch von der Natur oder den Wirklichkeiten dieser Welt getrennt ist, sondern damit und darin gelebt wird, in Gemeinschaft mit allem, was uns umgibt." (LS 151)
Interessant und für manchen ungewöhnlich ist die Sprache, in der der verstorbene Papst von dem der Natur innewohnenden Geist spricht und ein Neuerwachen des spirituellen Bewusstseins fordert:
"Denn es wird nicht möglich sein, sich für große Dinge zu engagieren allein mit Lehren, ohne eine 'Mystik', die uns beseelt, ohne 'innere Beweggründe, die das persönliche und gemeinschaftliche Handeln anspornen, motivieren, ermutigen und ihm Sinn verleihen.' (LS 216) Der verantwortungsvolle Umgang mit der Natur schließt auch das liebevolle Bewusstsein ein, (…) mit den anderen Wesen des Universums eine wertvolle allumfassende Gemeinschaft zu bilden. Der Glaubende betrachtet die Welt nicht von außen, sondern von innen her und erkennt die Bande, durch die der himmlische Vater uns mit allen Wesen verbunden hat." (LS 220)
Die Klimakrise, die der Natur so zu schaffen macht, ist damit nicht mehr nur ein politisches oder wissenschaftliches Problem, sondern auch eine Frage des Glaubens. Immer wieder bezieht sich der verstorbene Papst auf sein Vorbild, den Heiligen Franziskus, und dessen besondere spirituelle Verbindung zu allem Geschaffenen:
"Er war ein Mystiker und ein Pilger, der in Einfachheit und in einer wunderbaren Harmonie mit Gott, mit den anderen, mit der Natur und mit sich selbst lebte. (LS 10) Sein Zeugnis zeigt uns auch, dass eine ganzheitliche Ökologie eine Offenheit gegenüber Kategorien verlangt, die über die Sprache der Mathematik oder der Biologie hinausgehen und uns mit dem Eigentlichen des Menschen verbinden. Wie es uns geht, wenn wir uns in einen Menschen verlieben, so war jedes Mal, wenn er die Sonne, den Mond oder die kleinsten Tiere bewunderte, seine Reaktion die, zu singen und die anderen Geschöpfe in sein Lob einzubeziehen. Er trat mit der gesamten Schöpfung in Verbindung und predigte sogar den Blumen 'und lud sie zum Lob des Herrn ein, wie wenn sie vernunftbegabte Wesen wären'." (LS 11)
Nicht überall stieß Papst Franziskus mit seinen Mahnungen vor der Gebrechlichkeit der Schöpfung auf Beifall. Manche argwöhnten, mit seinem Engagement für den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen habe er ein wissenschaftliches Thema in ein Spirituelles verwandelt. Aber Franziskus antwortete darauf:
"Diese Überzeugung darf nicht als irrationaler Romantizismus herabgewürdigt werden. Wenn wir uns der Natur und der Umwelt ohne diese Offenheit für das Staunen und das Wunder nähern, (…) wird unser Verhalten das des Herrschers, des Konsumenten oder des bloßen Ausbeuters der Ressourcen sein (…) Wenn wir uns hingegen allem, was existiert, innerlich verbunden fühlen, werden Genügsamkeit und Fürsorge von selbst aufkommen." (LS 11)
Diese ganzheitliche Ethik, die allen Erscheinungsweisen der Natur eine eigenständige Bedeutung zuspricht, bedeutet jedoch keineswegs, dass alles in der Natur gleichbehandelt werden muss. Sie fordert vielmehr, dass Unbelebtes nicht unberücksichtigt bleibt. Die Natur ist geisterfüllt, sagt Franziskus, weil in ihr das Göttliche aufscheint. Aber sie ist nicht Gott selbst:
"Doch wenn wir dies sagen, vergessen wir nicht, dass auch ein unendlicher Abstand besteht und dass die Dinge dieser Welt nicht die Fülle Gottes besitzen. Andernfalls würden wir den Geschöpfen auch keinen Gefallen tun, denn wir würden (…) letztlich zu Unrecht von ihnen erwarten, was sie uns in ihrer Kleinheit nicht geben können." (LS 88)
Kommen wir zurück zum Wald: Wenn es uns gelingt, die Pflanzen und Bäume als lebendige Wesen wahrzunehmen, werden wir ihnen Mitgefühl zugestehen. Vielleicht können wir sie dann sogar sprechen hören, so wie es der Heilige Bernhard von Clairvaux meinte, als er – vor mehr als 900 Jahren – sagte: "Die Bäume werden dich Dinge lehren, die dir kein Mensch sagen wird." [1]
Der Wald, davon bin ich jedenfalls überzeugt, ist ein Ort, an dem ich gute Gefühle, Weisheit und Erkenntnis finden kann. Er gibt mir eine Ahnung davon, dass die Natur ein Geschenk ist, und dass alles, was geschaffen ist, etwas Göttliches widerspiegelt. Der Wald lädt mich ein, mich als Teil dieser wunderbaren Schöpfung zu verstehen. Hier habe ich die Möglichkeit, diesen Gedanken nachzugehen.
Der Dichter Clemens Brentano hat zu Beginn des 19. Jahrhunderts diese spirituelle Walderfahrung in einem Brief so formuliert:
"Auch ich war durch den Wald wunderbar überrascht und fühlte, was die Alten in ihren Wäldern empfinden mochten, die noch mit Göttern belebt waren; welche in wunderbaren Waldstimmen um den Wanderer ertönten." [2]
Die redaktionelle Verantwortung für die Sendung hat Tim Helssen.
Musik:
Richard Bartmuß, Duett (3), aus Zehn Charakterstücke op.36
Max Reger, Melodia B-Dur (11), aus: Zwölf Stücke op. 59
Alexandra, Mein Freund der Baum
Richard Bartmuß, Andante, aus: Sonate Nr. 1 Es -Dur op.17
Josef G. Rheinberger, Intermezzo, aus Sonate Nr. 8 e-Moll op. 132
Leon Boellmann, Allegretto aus "Deutsche Suite" op.27,2
Sigfrid Karg-Elert, Pastell H-Dur, op. 92/1
[1] Bernhard von Clairvaux, Brief (ep. 106) an Heinrich Murdach.
[2] Clemens Brentano, Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter, Roman 1801.